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11 Der Bundestagswahlkampf 1998

11.3 Die Bundestagsentscheidungen zu NATO und SFOR

Die beiden Bundestagsabstimmungen zur Ratifizierung der NATO-Osterweiterung sowie zur Verlängerung der deutschen SFOR-Mission in Bosnien stellten die bündnisgrünen Abgeordneten vor die komplexe Aufgabe, zwischen gerade verabschiedeter offizieller Programmatik, einer effizienten außenpolitischen Problembearbeitung sowie den Erwartungen einer nunmehr aufmerksamen deutschen Öffentlichkeit an Glaubwürdigkeit von Partei und Akteuren vermitteln zu müssen. Das Abstimmungsverhalten der bündnisgrünen Abgeordneten stand zudem im Zusammenhang mit einer parteiinternen Absprache. Fischer und Trittin vereinbarten auf der Sitzung zum Bosnien-Kompromisspapier kurz vor dem Magdeburger Parteitag, dass Trittin in Magdeburg helfen würde, die Parteilinke dazu zu bewegen, dem ausgehandelten Kompromiss zur Bosnien-Politik zuzustimmen. Im Gegenzug würde Fischer im realpolitischen Teil der Fraktion Überzeugungsarbeit leisten, so dass dieser sich bei der Abstimmung zur Ost-Erweiterung der NATO im Bundestag der Stimme enthalten würde, statt – wie es der Überzeugung vieler entspräche – mit Ja zu stimmen.1034

Die Absprache stellte als Ausdruck „kooperativer Strategie“ eine Form der bereits 1995 praktizierten „Burgfriedenpolitik“ dar.1035 Diese sollte einerseits die parlamentarische Zustimmung zu einer Bundeswehrpräsenz in Bosnien ermöglichen und gleichzeitig eindeutige Mehrheitsverhältnisse in der Frage der Ost-Erweiterung in der Fraktion verhindern.1036 Somit wäre einerseits der offiziellen Position der Partei zur NATO-Osterweiterung durch die Fraktion im Bundestag mehrheitlich nicht widersprochen worden. Gleichzeitig hätte man, wenn im Magdeburger Wahlprogramm der Bundeswehreinsatz in Bosnien als „Grenzfall“ bezeichnet worden wäre, einer Fortführung des SFOR-Auftrags zustimmen können. Letztlich hätten die Abgeordneten durch ein moderates Abstimmungsverhalten in beiden parlamentarischen Entscheidungen einem großen Teil des Elektorats als auch dem potentiellen Regierungspartner

1033 Vgl. Gibowski 2001: 100; Raschke 2001: 296.

1034 Lohse 1998d.

1035 Vgl. Raschke 2001: 338.

1036 Interview mit Schmillen, 15.3.02.

außen- und sicherheitspolitische Verlässlichkeit dokumentieren können. Die

„Burgfriedenpolitik“ sollte zwischen den Interessen und Erwartungen im komplexen Handlungsfeld zwischen Constituency, Elektorat und potentiellem Regierungspartner einerseits und einer adäquat erachteten außenpolitischen Problembearbeitung vermitteln. Die Burgfriedenpolitik ließ demzufolge die größte institutionelle Handlungsfähigkeit erwarten.

Wie bereits dargestellt, scheiterte das Bosnien-Kompromisspapier jedoch in Magdeburg.

Daraufhin kam es noch in der Nacht nach dem Parteitag zu Äußerungen aus dem realpolitischen Flügel, die Linke habe „nicht geliefert".1037 Joschka Fischer und andere Akteure des realpolitischen Flügels kündigten entgegen der getroffenen Absprache öffentlich an, der NATO-Osterweiterung im Parlament zuzustimmen.1038 Der Bundesvorstand forderte demgegenüber kurz vor der Parlamentsabstimmung von der Fraktion, die Erweiterung abzulehnen.1039 Der Vorstandsbeschluss fiel sehr knapp aus, da vier der neun Mitglieder das Votum nicht mittrugen, darunter Parteisprecherin Gunda Röstel.1040

In der Bundestagsabstimmung votierten letztlich 555 von 622 Abgeordneten für die von der NATO beschlossene Aufnahme Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik in das westliche Verteidigungsbündnis. Es kam lediglich zu 37 Nein-Stimmen und 30 Enthaltungen.1041 14 Abgeordnete der bündnisgrünen Fraktion, darunter Fischer, Lippelt, Poppe und Schoppe, votierten für den Regierungsantrag, sechs Abgeordnete stimmten mit Nein, darunter Annelie Buntenbach. Die Mehrheit von 25 Abgeordneten enthielt sich der Stimme, darunter Beer, Nachtwei, Müller und Volmer.1042 Inwieweit die von Fischer und Trittin verabredete

„Burgfriedenpolitik“ für das Abstimmungsverhalten der Parlamentarier entscheidend gewesen ist, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Schmillen erklärte im Interview, die Absprache sei auch nach dem Scheitern des Bosnien-Kompromiss-Papiers gültig gewesen.1043 Buntenbach hingegen hielt die Absprache für das Abstimmungsverhalten der bündnisgrünen Abgeordneten für „nicht

1037 Antwort von Eckart Lohse auf eine schriftliche Anfrage.

1038 Vgl. Schröder: Grüne sind Risiko für Machtwechsel.

1039 Vgl. Beschluss zu NATO-Osterweiterung.

1040 Vgl. Lohse 1998d.

1041 Vgl. Große Mehrheit im Bundestag für die Ost-Erweiterung der NATO.

1042 Vgl. Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu den Protokollen vom 16.12.1997 über den Beitritt der Republik Polen, der Tschechischen Republik und der Republik Ungarn.

1043 Interview mit Schmillen, 15.3.02.

entscheidend“.1044 Volmer zufolge beabsichtigte die Fraktion insgesamt, dem „ablehnenden Votum der Partei“ gerecht zu werden und gleichzeitig „ein Mindestmaß an Geschlossenheit“ zu demonstrieren.1045 Das heterogene Abstimmungsverhalten der Fraktion dokumentierte jedoch

„Zerrissenheit".1046 Die Fraktion demonstrierte „weder Geschlossenheit noch Bündnistreue".1047 Das heterogene und damit nach außen hin unglaubwürdige Agieren der Akteure in der bündnisgrünen Fraktion drohte sich auch in der Bundestagsentscheidung zur Verlängerung des SFOR-Einsatzes in Bosnien fortzusetzen. In einem Beschluss jedoch, den der Parteivorstand Mitte Mai ohne Gegenstimme fasste, wurde zwar die grundsätzliche Ablehnung einer deutschen Beteiligung an einer militärischen Friedenserzwingung bekräftigt. Jedoch hieß es, ein ersatzloser Abzug der SFOR-Truppen aus Bosnien berge die „Gefahr eines Wiederaufflammens des Krieges“. Ein durch den Abzug der SFOR entstehendes „Sicherheitsvakuum“ sei mit der Friedens- und Menschenrechtspolitik der Partei nicht vereinbar.1048 Auf einem für Anfang Juni einberufenen Länderrat1049 wurde ebenfalls eine Bosnien-Resolution verabschiedet, die sich am zuvor gefassten Beschluss des Bundesvorstands orientierte.1050 Hinsichtlich der Frage einer militärischen Beteiligung deutscher Truppen im Ausland besagte das Papier, die Beschlüsse von Magdeburg bedeuteten „keinen Verzicht auf konkrete und aktuelle Positionsbestimmung zu internationalen Krisensituationen.“ Der im Länderratsentschluss enthaltene Satz, die Fraktion müsse „eigenverantwortlich“ handeln, bedeutete letztlich die Freigabe der Bundestagsabstimmung über eine Verlängerung des Bundeswehreinsatzes.1051

Die bündnisgrünen Akteure waren offensichtlich gewillt, Maßnahmen zu ergreifen, die die öffentliche Meinung hinsichtlich der Problembearbeitungskompetenz der Partei aufbessern

1044 Interview mit Buntenbach, 28.2.02.

1045 Volmer 1998a: 545.

1046 Große Mehrheit im Bundestag für die Ost-Erweiterung der Nato.

1047 Volmer 1998a: 546.

1048 Vgl. Den Friedensprozess in Bosnien fortsetzen und stärken; vgl. Grünen-Vorstand revidiert die Magdeburger Bosnien-Entscheidung.

1049 Während des Länderrats wurde ein Kurzprogramm verabschiedet, in dem sich der im Magdeburger Programm angestrebte Benzinpreis von fünf DM nicht mehr fand (vgl. Neue Mehrheiten nur mit uns. Vierjahresprogramm zur Bundestagswahl 98; Gaus 1998d).

1050 Gaus 1998e.

1051 Vgl. „Den Friedensprozess in Bosnien fortsetzen und stärken“. Beschluss des 2. Ordentlichen Länderrats in Bonn; Klarstellung zum „Bosnienbeschluss“.

würde. Dazu mussten die Positionen auf Akteursebene harmonisiert werden. Angesichts der überaus negativen Medienberichterstattung nach dem Magdeburger Parteitag konnten die inhaltlichen Kontroversen nicht mehr öffentlich ausgetragen werden, ohne Kompetenzverlust in der Öffentlichkeit zu dokumentieren.1052 Zudem herrschte aufgrund „weiterer Erfahrungsprozesse“ mit der SFOR im Krisengebiet Bosnien-Herzegowinas auf Akteursebene eine mehrheitliche Zustimmung zu einer weiteren Militärpräsenz.1053 So war es auch im Sinne einer effizienten außenpolitischen Problembearbeitung entscheidend, die Magdeburger Programmatik zu entradikalisieren, um einer militärischen Präsenz der Bundeswehr parlamentarisch zustimmen zu können und auf diesem Weg die zivile Rekonstruktion des Krisengebietes zu sichern.1054

In der Parlamentssitzung am 19. Juni stimmte der Bundestag ohne Festlegung einer zeitlichen Begrenzung der Verlängerung des Bundeswehreinsatzes im Rahmen der multinationalen Friedenstruppe in Bosnien zu.1055 In der Abstimmung, die stark unter dem Einfluss einer Kritik Jürgen Trittins am Gelöbnis der Bundeswehr stand1056, votierten etwa zwei Drittel der bündnisgrünen Abgeordneten für den Antrag der Bundesregierung. Darunter waren vor allem Akteure des realpolitischen Flügels, aber auch Christian Sterzing1057 und Winfried Nachtwei1058. Sieben bündnisgrüne Abgeordnete enthielten sich.1059 Abgelehnt wurde der Antrag u.a. von Ludger Volmer, Angelika Beer und Annelie Buntenbach, die in einer gemeinsamen Erklärung die Notwendigkeit einer „sicherheitspolitischen Begleitung“ des Friedensprozesses erkannten, für eine Beteiligung Deutschlands jedoch ein UN-Mandat als notwendig erachteten. Ihre Ablehnung des Antrags sei vor allem als „Protest gegen die Politik der Bundesregierung in

1052 Interview mit Hugler, 8.3.02.

1053 Interview mit Nachtwei, 27.2.02.

1054 Vgl. Bundesvorstand der Grünen plant Beschluss zu Bosnien-Einsatz.

1055 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung:

Deutsche Beteiligung an der von der NATO geplanten Fortsetzung der militärischen Absicherung des Friedensprozesses im ehemaligen Jugoslawien über den 19. Juni hinaus.

1056 Vgl. Große Mehrheit für Verlängerung des Sfor-Einsatzes.

1057 Vgl. Sterzing 1998.

1058 Vgl. Nachtwei 1998.

1059 Vgl. Ein Rätselwesen probt den Spagat.

dieser Richtung zu verstehen.“1060 Der gemeinsame Antrag der Fraktion bezog nicht eindeutig Stellung zu Befürwortung oder Ablehnung der SFOR-Verlängerung und befasste sich stattdessen mit der Kritik an Jürgen Trittin.1061

Das erneut heterogene Abstimmungsverhalten kam vermutlich vor allem aufgrund der Interessen von Aktivisten und Constituency zustande, die durch das drohende Abweichen vom Magdeburger Programm brüskiert worden waren. Letztlich divergierten die Präferenzen in der bündnisgrünen Fraktion bei den Abstimmungen zu NATO-Osterweiterung und Verlängerung des SFOR-Mandats zu stark, als dass die „Burgfriedenpolitik“ als Mittel eines kooperativen politischen Agierens hätte erfolgreich sein können. Angesichts der vielfältigen Interessen und Erwartungen, die von den Akteuren im Wahlkampf berücksichtigt werden mussten, zeigten die Abstimmungen die begrenzte Reichweite kooperativen Verhaltens auf.1062

11.4 Außen- und sicherheitspolitische Position Fischers und Volmers

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