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10 Das Problem der NATO-Osterweiterung 1996/97

10.2 Bündnisgrüne Positionen zu NATO und OSZE

Im Hinblick auf Effektivität und Legitimität europäischer Sicherheitsinstitutionen bestand bei Bündnis 90/Die Grünen ein programmatischer Fokus auf die OSZE. Die Fraktion bestätigte die Zielsetzung der Partei im April 1996 als ein

„sicherheitspolitisches Leitbild..., das die OSZE zu einem entscheidenden Faktor einer gesamteuropäischen und transatlantischen Sicherheitspolitik erklärt“.918

Dieses sicherheitspolitische Fernziel entsprach den in vorangegangenen Jahren kontinuierlich vertretenen programmatischen Positionen. Im Programm zur Bundestagswahl 1990 hieß es, die damals noch existierende KSZE919 sei der geeignete Ort zur Ausgestaltung einer neuen

914 Partner im Wandel. Deutsche Außenpolitik und die GUS-Staaten. Beitrag von Klaus Kinkel.

915 Peters 1999: 215f.

916 Vgl. Krause 1996: 92.

917 Für eine ausführliche Beschreibung des Verhandlungsprozesses siehe Kamp 1997: 315-324.

918 Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu Aufgaben und Entwicklungsperspektiven der OSZE.

919 Auf dem Budapester Gipfeltreffen im Dezember 1994 wurde die KSZE offiziell in die OSZE umbenannt.

Friedensordnung innerhalb eines „gemeinsamen europäischen Hauses“.920 Die Wahlprogrammatik im Jahr 1994 besagte, die KSZE müsse zum „zentralen Forum“ europäischer Außen- und Sicherheitspolitik gemacht werden und gemeinsam mit der EU als „Kern gesamteuropäischer Integration“ politisch stärker aufeinander bezogen werden.921 Diese Positionen entsprachen dem causal belief einer pazifistischen Sicherheitskonzeption, die eine Verhinderung von Sicherheitsdilemmata vorsah, welche durch einen Ausschluss einzelner Staaten aus einer exklusiven und auf nationaler Interessenverfolgung basierenden Sicherheitsinstitution entstehen konnten.922 Die bündnisgrüne Programmatik betonte demgegenüber die Funktion einer über 50 Nationalstaaten übergreifenden Institution, die Sicherheit nicht durch militärische Verteidigung und Abschreckung, sondern – so bestätigte eine Große Anfrage der bündnisgrünen Fraktion vom April 1996 – durch „Entfaltung einer gesamteuropäischen wirtschaftlichen, finanzpolitischen und ökologischen Kooperation“

herstellen sollte.923

Die NATO war als Sicherheitsinstitution in der Partei seit jeher äußerst kritisch eingeschätzt worden.924 Nach der Bundestagswahl 1994 begann jedoch der Begriff der „Transformation" an die Stelle der früheren Forderung nach „Auflösung“ der NATO zu stehen. Vor allem die Akteure des realpolitischen Flügels wollten die NATO als „bewaffneten Arm“ der OSZE installieren, um im Falle eines Versagens von konfliktpräventiven Maßnahmen eine „militärische Reserve“

verfügbar zu haben. Dieses Modell, das offenbar vor allem Joschka Fischer und Helmut Lippelt vertraten, ersetzte auf der Akteursebene die Position einer vollständigen Übernahme der NATO durch gestärkte OSZE-Strukturen.925 In der offiziellen Programmatik wurde indes weiter das Fernziel einer Stärkung von OSZE-Strukturen betont. Auf der Basis dieser sicherheitspolitischen Schwerpunktsetzung konnten die Akteure nicht adäquat auf das Problem der NATO-Erweiterung reagieren: Die bislang bevorzugte sicherheitspolitische Handlungsoption musste auf ein neues

920 Das Programm zur 1. gesamtdeutschen Wahl 1990: 21

921 Nur mit uns. Programm zur Bundestagswahl 1994: 55; vgl. auch: Lieber Europa erweitern als Demokratie beschränken. Programm zur Europawahl 1994: 32.

922 Vgl. Czempiel 1997: 41f.

923 Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu Aufgaben und Entwicklungsperspektiven der OSZE.

924 Zur Entwicklung der Parteiprogrammatik gegenüber der NATO siehe auch Kapitel „Das Superwahljahr 1994“ in dieser Arbeit.

925 Volmer 1998a: 533.

Handlungsproblem angewendet werden. Im Kontrast zu dem in der gesamten Partei geteilten sicherheitspolitischen Fernziel einer Stärkung der OSZE zeigten sich in der Bewertung des konkreten Problems der NATO-Osterweiterung vor allem in der Fraktion starke Divergenzen.926 Die Gegner der Ost-Erweiterung in der Fraktion, die dem linken Flügel zuzurechnen waren, unterstützten keine funktionale und territoriale Ausweitung der NATO, deren mittelfristige Auflösung sie ja gerade anstrebten.927 Das westliche Staatenbündnis begründe eine Erweiterung mit den militärischen Potentialen Russlands, vor denen es Schutz zu suchen gelte. Gleichzeitig nehme man jedoch die „Sorgen“ Russlands nicht ernst, dass durch die Erweiterung die militärischen Potentiale der NATO geographisch näher kamen.928 Ludger Volmer bestätigte anlässlich der NATO-Frühjahrstagung 1996 in Berlin das legitime Interesse der mittel- und osteuropäischen Staaten an einer Westintegration. Das „Selbsterhaltungsinteresse“ der NATO sei jedoch ein wesentliches Hindernis für die Verwirklichung gesamteuropäischer Sicherheitsinteressen, welche auch von der Bundesregierung „nur marginal abgehandelt“

würden. Durch die Erweiterung der NATO werde „Instabilität an die polnische Ostgrenze exportiert“.929 Parteisprecher Jürgen Trittin kritisierte zur gleichen Zeit, dass Russland durch eine Erweiterung des Militärbündnisses isoliert werden könne und so die Grundlage einer „neuen Blockkonfrontation“ geschaffen werde.930

Die Akteure des linken Parteiflügels versuchten, eine Positionsveränderung der Partei gegenüber der NATO im Zuge der Bearbeitung des Problems einer Erweiterung des Militärbündnisses zu

„bremsen“.931 Ein Antrag der Fraktionslinken, der im Mai 1996 von Ludger Volmer und Winfried Nachtwei eingebracht wurde, bestätigte die Ablehnung der NATO-Osterweiterung. Der Antrag sollte von Länderrat und Fraktion beschlossen werden, um so vor allem die Fraktion für zukünftige Entscheidungssituationen zu einer klaren und ablehnenden Positionierung zu bewegen.932 Die Fraktion wandte sich jedoch mit 27 zu 16 Stimmen gegen den Antrag und

926 Franz 1996; vgl. Schlötzer-Scotland 1996a.

927 So argumentierte beispielsweise Kerstin Müller in einem Interview (vgl. Streit bei den Grünen um die Außenpolitik).

928 So zitiert Lohse Akteure des linken Flügels in der Fraktion (Lohse 1996a); vgl. auch: Volmer 1998a: 540.

929 Volmer 1996a.

930 Vgl. Trittin 1996.

931 Lohse 1996b.

932 Vgl. Ärger mit Fischers Reiselust.

beschloss, „sich zu diesem Thema derzeit nicht festzulegen".933 Schmillen bestätigte, dass eine Mehrheit in der Fraktion für die Erweiterung des Bündnisses vorhanden war. Die Akteure in der Fraktion glaubten jedoch insgesamt, dass man keine so wesentliche „sicherheitspolitische Richtungsänderung“ vornehmen könne, ohne der Partei die Möglichkeit zur Stellungnahme zu geben. Aufgrund der mangelnden „Absicherung“ einer Positionsverschiebung wurden also in der Fraktion keine eindeutigen Mehrheitsverhältnisse herbeigeführt.934

Die mittelfristige Handlungsstrategie der Akteure des realpolitischen Flügels bestand darin, dem potentiellen Regierungspartner SPD zu verdeutlichen, dass die Partei nach der Bundestagswahl 1998 die internationalen sicherheitspolitischen Handlungsspielräume nicht zu verlassen gedachte. Um also den „außenpolitischen Unvereinbarkeitsmakel"935 von der Partei zu nehmen, war nicht nur eine Zusage zum Fortbestand, sondern auch eine national und international tragbare Position zur Osterweiterung der NATO erforderlich. Das Ergebnis der Abstimmung in der Fraktion konnte derweil dennoch als „Sieg der Realpolitiker"936 gewertet werden: Um eine veränderte Position gegenüber der NATO in der Partei insgesamt herbeizuführen, mussten die Akteure des realpolitischen Flügels nur „abwarten“, bis die NATO eine – aller Voraussicht nach positive – Entscheidung zur Aufnahme neuer Mitgliedstaaten getroffen haben würde und es

„albern“ sein würde, eine ablehnende Position zur NATO-Erweiterung aufrecht zu erhalten.937 Angesichts des eingeschlagenen Erweiterungsprozesses der NATO war also eine Veränderung der sicherheitspolitischen Programmatik der Partei zu erwarten.

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