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9 Militärische Krisenbearbeitung in Bosnien-Herzegowina

9.5 Die Delegationsreise und einzelne Positionsverschiebungen

Die Haltung einzelner Akteure gegenüber einer militärisch gestützten Bearbeitung von Menschenrechtsverletzungen verschob sich im Herbst 1996. Auslöser war eine Delegationsreise in die vormalige Bürgerkriegsregion Bosnien-Herzegowinas, an der u.a. Joschka Fischer, Werner Schulz, Jürgen Trittin, Kerstin Müller, Winfried Nachtwei und Achim Schmillen teilnahmen. Die Akteure beschäftigten sich offensichtlich „ungewöhnlich nah, lange und intensiv“ mit der politischen und humanitären Situation des ehemaligen Jugoslawien.850 Bereits vor Ort kam es dabei – vor allem nach einem Besuch Sarajewos – zu langen Diskussionen und starken Auseinandersetzungen innerhalb der Delegation.851 Die Delegationsteilnehmer des realpolitischen Flügels bestätigten nach der Reise ihre Haltung. Joschka Fischer betonte, er habe

846 Kampfeinsatz der Bundeswehr ist eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik.

847 Vgl. Erklärung der Landesvorstandsmitglieder von Bündnis 90/Die Grünen.

848 Vgl. dazu Schlötzer-Scotland 1996a.

849 Interview mit Poppe, 18.2.02.

850 Interview mit Poppe, 18.2.02

851 Interview mit Nachtwei, 27.2.02; Interview mit Schmillen, 15.3.02.

mit niemandem gesprochen, der sich gegen den IFOR-Einsatz oder eine deutsche Beteiligung ausgesprochen habe.852 Werner Schulz sprach von „Scham", die er vor Ort empfunden habe und von der Einsicht, dass die internationale Staatenkoalition „viel früher [hätte] eingreifen müssen."853

Insbesondere bei Akteuren des linken Flügels verschoben sich durch die Kontakte mit Menschen im Krisengebiet persönliche Handlungspräferenzen. Winfried Nachtwei, der zuvor bereits angedeutet hatte, dass es in Bosnien keine „realistische Alternative zur militärischen Absicherung des Waffenstillstandes“854 gebe, sprach von „Desillusionierung", die er während der Reise erfahren habe.855 Er könne einem IFOR-Einsatz „aus heutiger Sicht" zustimmen.856 Bei Kerstin Müller rief die Reise in die Krisenregion Jugoslawiens „eine ähnliche Reaktion“ wie bei Nachtwei hervor.857 Ein Jahr zuvor hatte sie die Forderung nach einem militärischen Agieren in Bosnien als „zynisch und absurd" bezeichnet.858 In den Parlamentsabstimmungen hatte sie sich zudem ablehnend gegenüber einer Beteiligung deutscher Truppen in Bosnien und Ostslawonien positioniert. Nach eigenem Bekunden von Frau Müller hatte es seit der Reise ins Krisengebiet

„in ihr gearbeitet".859 Sie forderte Ende Oktober 1996 nunmehr öffentlich, wenn wie in Bosnien alle Volksgruppen militärischen Schutz von außen befürworteten, müssten auch Bündnis 90/Die Grünen „reale Antworten" darauf haben. Es gelte, die institutionelle Programmatik weiterzuentwickeln.860

Parteisprecher Jürgen Trittin stellte nach der Reise fest, dass der Frieden in Bosnien zwar auch künftig militärisch abgesichert werden müsse, jedoch nicht unter NATO-Befehl, sondern unter

852 Zitiert nach: Trittin fordert UN-Mandat für Bosnien-Einsatz.

853 Zitiert nach: Schlötzer-Scotland 1996b.

854 Nachtwei 1996.

855 Zitiert nach: Trittin fordert UN-Mandat für Bosnien-Einsatz.

856 Zitiert nach: Schlötzer-Scotland 1996b. In einem Beitrag von 1999 sprach Nachtwei im Zusammenhang mit der Bosnienpolitik der Partei von „menschlichem und europäischem Verrat“, die die westlichen Staaten und „was auch wir als Opposition zugelassen hatten.“ (Nachtwei 1999: 6).

857 Interview mit Schmillen, 15.3.02.

858 Zitiert nach: „Wenn Fischer sich durchsetzt, dann wäre das für die Grünen verheerend".

859 Vgl. Gaus 1996b. Ein Gespräch mit einem Bischof in Banja Luca beschrieb Frau Müller so: „Er hat uns gefragt:

'Warum habt ihr uns allein gelassen? Gelten Werte wie Humanismus noch etwas in Europa, wenn ihr uns mit den Faschisten allein lasst?' Ich hatte keine Antwort." (zitiert nach: Gaus 1996b).

860 Zitiert nach: Grüne Bosnien-Mission.

einem „klassische[n] Blauhelmmandat". Eine deutsche Beteiligung sei zudem „nicht erforderlich", da es ausreichend Länder gebe, die Truppen stellen wollten.861 Trittin hatte offenbar während des Aufenthaltes an einigen Informationsveranstaltungen nicht teilgenommen.862 Auf dieser Basis lassen sich unterschiedliche Bewertungen der politischen und humanitären Situation vor Ort vermuten. In seiner Positionierung nach der Reise wies Trittin auf institutionelle Faktoren bei der Frage der militärischen Absicherung des Dayton-Abkommens hin:

„Ist man in der Opposition, oder macht man den Schulterschluss mit Rühe? Das ist die Frage."863

Dass der Parteisprecher in der Frage eines Militäreinsatzes die Position gegenüber der Regierung als entscheidendes Handlungskriterium bestimmte, ist darauf zurückzuführen, dass Trittin stärker als etwa Müller und Nachtwei „auf Linie“ achtete.864 Eine durch persönliche Erfahrungen motivierte Positionsverschiebung konnte von der Constituency als Anpassung der außen- und sicherheitspolitischen Position an die Haltung der etablierten Parteien und damit als Verlust der politischen Unterscheidbarkeit interpretiert werden.865 Die Positionsverschiebungen der Akteure drohten die Interessen der Aktivisten und Stammwähler der Partei zu konterkarieren, was Trittin möglicherweise zu verhindern suchte, indem er an einer Nicht-Beteiligung deutscher Truppen an der militärischen Krisenbearbeitung festhielt.866

Trotz der unveränderten Position Trittins hatten die Eindrücke der Reise bei Akteuren des linken Flügels das Identitätsmotiv verdrängt, das verantwortlich war für die Beibehaltung der Norm der Gewaltfreiheit zur Bearbeitung der Bosnienkrise. Gleichzeitig setzte sich auf Akteursebene das Handlungsziel der Menschenrechtssicherung als bevorzugte Option zur Bearbeitung des Konflikts mehrheitlich durch. Angesichts einer nunmehr übergreifend einheitlichen Einschätzung der Akteure, dass das Handlungsziel der Menschenrechtssicherung in der Bearbeitung des Konflikts in Bosnien adäquater sei als die Norm der Gewaltfreiheit, konnte der

861 Trittin fordert UN-Mandat für Bosnien-Einsatz.

862 Interview mit Schmillen, 15.3.02.

863 Zitiert nach: Gaus 1996b.

864 Interview mit Nachtwei, 27.2.02.

865 Vgl. Gaus 1996b.

866 Zu Trittins generellen Handlungsmotiven als politischer Akteur siehe: Raschke 2001: 395-399.

zuvor vorhandene Konflikt zwischen Fraktion und Parteiführung entscheidend aufgeweicht werden. Im Gegenzug stellte sich für die Akteure das Problem, dass Aktivisten und Stammwähler bei dieser flügelübergreifenden Positionierung zugunsten militärisch gestützter Konfliktbearbeitung „mitgenommen“ werden mussten.867

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