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10 Das Problem der NATO-Osterweiterung 1996/97

10.1 Eine Veränderung der europäischen Sicherheitsarchitektur

Die NATO verstärkte seit Beginn der 90er Jahre ihre Bemühungen, sich als Institution der Kooperation und Integration in Europa zu etablieren. Die Gründung des Nordatlantikrats, das Partnerschaftsprogramm für den Frieden mit Staaten der ehemaligen Sowjetunion als auch die Ermöglichung von Combined Joint Task Forces mit Einheiten der WEU dokumentierten einen institutionellen Entwicklungsprozess, der die Stärkung eines europäischen Pfeilers innerhalb der NATO und ein gemeinsames Agieren mit mittelosteuropäischen Partnerstaaten zum Ziel hatte.890 Im Zusammenhang mit diesem graduellen Funktionswandel der NATO von einem Verteidigungsbündnis zu einem politischen Instrument kollektiver Sicherheit wurde nicht nur die Frage nach Verschiebung von Aktivitätsbereichen virulent, sondern auch Überlegungen angestellt hinsichtlich einer territorialen Erweiterung des Bündnisses und damit neuer Mitgliedschaften.891 Die Akteure in der NATO erwarteten auf dem Hintergrund der Einbindung Westdeutschlands in der Nachkriegszeit eine erfolgreiche politische, militärische und wirtschaftliche Integration der Staaten Mittel- und Osteuropas in westliche Bündnisstrukturen.892

Ein Interessenkonflikt zeichnete sich gegenüber Russland ab, wo man die Erweiterungspolitik der NATO als ambivalente und unberechenbare Interessenpolitik der westlichen Staaten interpretierte.893 Die Regierung in Moskau favorisierte die OSZE als gesamteuropäische Sicherheitsinstitution. Verteidigungsminister Gratschow sprach sich im Mai 1994 für ein System kollektiver Sicherheit und Stabilität „unter der Ägide“ der OSZE aus.894 Präsident Jelzin bezeichnete eine NATO-Erweiterung im Herbst 1995 gar als „großen politischen Fehler“, der „in ganz Europa die Flamme des Krieges entfachen“ werde.895 Der Einmarsch russischer Truppen in Tschetschenien verdeutlichte, dass Russland gewillt war, eigene Sicherheits- und Verteidigungsinteressen unilateral durchzusetzen. So konnte ein Ausschluss

890 Haftendorn 2001: 395f.

891 Vgl. Varwick/Woyke 2000:145-172.

892 Vgl. Wallander 2000: 720, 728.

893 Vgl. Giersch 1998: 269f.

894 Vgl. Brüsseler Rede des russischen Verteidigungsministers Gratschow vom 25.5.1994.

895 Zitiert nach: Jelzin: Ost-Erweiterung der Nato wird in ganz Europa die Flamme des Krieges entfachen.

Russlands aus einer erweiterten europäischen Verteidigungsgemeinschaft einer neuen sicherheitspolitischen Spaltung des Kontinents Vorschub leisten.896 Auch durch die nationalistischen Tendenzen in den baltischen Staaten, in Rumänien und der Slowakei schienen Zonen unterschiedlicher Sicherheit entstehen zu können, die durch eine übergeordnete, gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur möglicherweise effektiver bearbeitet werden konnten.897

In diesem Zusammenhang wurde für die europäischen NATO-Staaten die Frage virulent, ob und wie die NATO tatsächlich eine für die europäische Stabilität entscheidende Einbindung Russlands gewährleisten konnte, da gerade die amerikanische Regierung diesem Aspekt wenig Bedeutung beimaß.898 Vielmehr beabsichtigte die US-amerikanische Regierung, eine geopolitische Pufferzone zwischen Deutschland und Russland zu bringen.899 Eine Mitgliedschaft Russlands kam für die NATO-Partner nicht in Frage, da die Unkalkulierbarkeit der russischen Politik zu wenig Stabilität versprach, um die Sicherheit aller Teilnehmerstaaten zu gewährleisten.900 Aufgrund der militärischen Ressourcen Russlands und seines Besitzes von Massenvernichtungswaffen blieb die Frage der Kooperation mit Russland indes ein essentieller Faktor für die Sicherheit ganz Europas.901

Es gab unter den westlichen Regierungen insgesamt nicht die Absicht, die NATO als Sicherheitsinstrument in Europa durch die OSZE zu ersetzen.902 Eine erfolgreiche Einbindung osteuropäischer Staaten in OSZE-Strukturen wurde in der NATO zwar als zusätzliches politisches Instrument der operativen Krisenbearbeitung erachtet.903 Die sicherheitspolitische Effektivität der OSZE besaß jedoch Grenzen, vor allem weil es an plausiblen und konsequenten

896 Vgl. Kupchan 2001: 28f.; Krause 1996: 91. Zu Perzeptionen russischer Politiker bezüglich einer Osterweiterung der NATO siehe: Fahrner 1997: 107-136, vor allem 109f.

897 Vgl. Giersch 1998: 269.

898 Vgl. Crawford 2001: 57; Kupchan 2001: 134.

899 Vgl. Krause 1996: 91; Livingston 1997: 56.

900 Vgl. Crawford 2001: 56.

901 Vgl. Kaiser 1996: 39.

902 Link 1999b: 13.

903 Vgl. Siedschlag 1996: 175.

Mechanismen zur Durchsetzung ihrer Prinzipien mangelte904 und ihre Handlungsfähigkeit durch die große Mitgliederzahl eingeschränkt wurde.905

Für Deutschland bedeutete die NATO-Osterweiterung eine wesentliche Verbesserung seiner geostrategischen Position. Zunächst würde der Bündnisfall nach Artikel 5 des NATO-Vertrages im Falle eines Angriffs nicht mehr an der deutschen Ostgrenze ausgelöst werden.906 Zudem hatte die Bundesrepublik aufgrund der unmittelbaren Nachbarschaft auch aus politischen und wirtschaftlichen Gründen ein Interesse an einer demokratischen und marktwirtschaftlichen Entwicklung der mittelosteuropäischen Staaten.907 Eine stärkere Westanbindung im Zuge einer NATO-Mitgliedschaft Polens, Tschechiens und Ungarns versprach höhere Stabilität, so dass man dem Ziel einer gesamteuropäischen Sicherheit nachkommen konnte, die auch politische und wirtschaftliche Aspekte umfasste.908

Verteidigungsminister Rühe nahm bereits 1993 als einer der ersten westlichen Politiker das Thema der NATO-Osterweiterung auf.909 Im August 1995 plädierte er für eine rasche Aufnahme der Visegrád-Staaten Tschechien, Polen sowie Ungarn und versuchte, die Bündniserweiterung innenpolitisch zu forcieren.910 Bundeskanzler Kohl und Außenminister Kinkel vertraten zunächst einen zurückhaltenderen Kurs911, so dass die Regierung insgesamt in der Frage lange kein klares Profil entwickelte.912 Mit der inhaltlichen Positionsverschiebung der SPD im Lauf des Jahres 1996 kam in der parlamentarischen Opposition eine entscheidende Unterstützung für die NATO-Erweiterung zustande.913 In der Folge konnte die Bundesregierung innerhalb der NATO nunmehr aktiv für eine Erweiterung eintreten.

904 Kühnhardt 1996: 13.

905 Krause 1996: 93.

906 Haftendorn 2001: 401.

907 Vgl. Broer 1997: 325.

908 Vgl. Wallander 2000: 720.

909 Vgl. Haftendorn 2001: 401.

910 Vgl. „Es gibt da schon Unterschiede“. Rühe sieht die Balten beim Eintritt zur Nato im zweiten Glied.

911 Auf dem Weg zu einer neuen Sicherheitsarchitektur in Europa. Schriftlicher Beitrag von Klaus Kinkel.

912 Vgl. Hacke 1997: 242.

913 Vgl. Gespräche über Außen- und Sicherheitspolitik; vgl. Kleine Anfrage der SPD-Fraktion zu Osterweiterung der NATO und Abrüstung.

Trotz der Bekundungen auch in der deutschen Regierung, eine „Stärkung dieser wichtigen gesamteuropäischen Sicherheitsorganisation“ herbeizuführen914, gab es wohl keine substantiellen Überlegungen zur Ausweitung der OSZE-Funktionen zur politischen Integration, wirtschaftlichen Kooperation, oder gar zur Erfüllung operativer militärischer und sicherheitsrelevanter Aufgaben.915 Der zügige Fortgang von Verhandlungen zum Beitritt zur NATO war indes im Interesse Deutschlands als auch der übrigen NATO-Mitgliedstaaten, da die Kandidaten angesichts einer zu langen Wartefrist ihre sicherheitspolitische Orientierung ändern konnten, was eine politische Destabilisierung Mittelosteuropas zur Folge hätte.916 Parallel zu den Annäherungen an die Beitrittskandidaten vereinbarten NATO und russische Regierung offizielle Verhandlungen über die Ausgestaltung einer Sicherheitspartnerschaft. Im Mai 1997 kam es zum Abschluss einer Grundakte, die stark deklaratorischen Charakterbesaß, u.a. jedoch die Schaffung eines NATO-Russland-Rates und die Orientierung der Zusammenarbeit an UN-Charta und zentralen OSZE-Dokumenten vorsah.917

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