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5 Die Grünen und die Krise am Persischen Golf 1990/91

5.4 Der Parteitag von Neumünster

In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre hatte die SPD mit der Übernahme ursprünglich von den Grünen verfochtenen Positionen begonnen und so programmatisch auf den Verlust von Wählerstimmen beim Eintritt der Grünen in das parlamentarische Mehrparteiensystem der Bundesrepublik reagiert.390 Zudem entstand in der Wählerschaft der Eindruck eines programmatischen Stillstands und einer „ideologischen Ergrauung“ der Grünen, die ursächlich mit der Flügelkonstellation der Partei verbunden wurde.391 Diese Faktoren führten, zusammen mit einer skeptischen Haltung gegenüber der Wiedervereinigung Deutschlands, zu einem Ergebnis bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990, das knapp unter der 5%-Hürde lag.392

Wollten die Akteure nach der verlorenen Bundestagswahl das vorhandene Wählerschaftspotential von etwa 13 Prozent ausschöpfen393 und 1994 wieder in das Parlament einziehen, mussten sie eine Profilkorrektur vornehmen. Dazu wurden während der Bundesdelegiertenkonferenz in Neumünster Ende April 1991 wesentliche organisatorische wie programmatische Veränderungen initiiert: Zunächst wurde der organisatorische

388 Vgl. Wiesenthal 1993a: 118.

389 Markovits/Gorski 1997: 210.

390 Hoffmann 1998: 59; Interview mit Knapp, 4.1.02; vgl. Laver 1997: 124. Deutlich wurde dies bereits im nordrhein-westfälischen Wahlkampf 1985, als die SPD unter Johannes Rau die Wahl gewann und die Grünen unter die Fünfprozenthürde fielen (vgl. Mewes 1998: 39, 43).

391 Zirakzadeh 1997: 93; Bürklin/Dalton 1994.

392 Interview mit Volmer, 25.4.02. Zu den deutschlandpolitischen Positionen der Partei siehe: Deutschlandpolitische Erklärung der Bundesversammlung in Hagen; siehe auch: „Gegen die Kolonialisierung der osteuropäischen Staaten durch NATO und EG“.

393 Wiesenthal 1991: 157.

Zusammenschluss mit dem ostdeutschen Bündnis 90 vor der Bundestagswahl 1994 beschlossen.394 Zudem waren die Akteure bemüht, in Neumünster ein „Zentrum in der Parteiführung“ zu etablieren.395 Der Bundesvorstand wurde zu diesem Zweck von 13 auf neun Personen reduziert, die Sprecherposten von drei auf zwei verringert und das Rotationsprinzip für den Bundesvorstand abgeschafft.396 Die satzungsmäßige Unvereinbarkeit von Amt und Mandat wurde hingegen beibehalten, da die Delegierten der Orts- und Kreisverbände in einem

„alternativen Strukturkonservativismus"397 die basisdemokratischen Ideale gegenüber einer effektiveren Steuerungsfähigkeit der Partei bevorzugten. Dennoch wurde mit den Parteitagsentschlüssen zur Parteiorganisation der „relativ größte Reformschritt“ in der Parteigeschichte vollzogen.398

Entscheidend für die Neuformierung der Partei war auch eine wesentliche Verschiebung der Akteurskonstellation. Im Zuge des Parteitages verließen die dem linken Flügel zugehörende Gruppe der „RadikalökologInnen“ um Jutta Ditfurth die Partei.399 Ditfurth hatte bereits im Vorfeld des Parteitags kritisiert, dass Waffenlieferungen an Israel bei Teilen der Grünen

„geduldet oder sogar direkt befürwortet“ wurden. Dadurch habe die Partei

„freiwillig auf ihr unverwechselbares politisches Profil verzichtet. Unter ‚Verantwortung’ und

‚Politikfähigkeit’ wird nur noch die vollständige Koalitionsfähigkeit um jeden Preis verstanden.“400

Der „Auszug der RadikalökologInnen“ war aus strategischer Sicht unabdingbar, da sich diese Unterströmung inhaltlich als „nicht integrierbar“ erwies.401 Mit dem Weggang der linken Unterströmung kam es zu einer Stärkung der gemäßigten Linken um Ludger Volmer, der zur

394 Vgl. Protokoll der 13. Ordentlichen Bundesversammlung in Neumünster.

395 Raschke 2001: 322.

396 Vgl. Protokoll der 13. Ordentlichen Bundesversammlung in Neumünster.

397 di Lorenzo 1991.

398 Raschke 2001: 330.

399 Ditfurth gründete später zusammen mit Manfred Zieran und Jan Kuhnert in Frankfurt die Partei der

„Ökologischen Linken", die eine radikaloppositionelle wie antistaatliche Grundhaltung hatte (vgl. Mohr 1991).

400 Ditfurth 1991a. Auf der Delegiertenkonferenz beobachtete Ditfurth nunmehr eine „äußerst dramatische Rechtsverschiebung" in der Partei (Ditfuth 1991b; vgl. auch: Plog 1991).

401 Interview mit Knapp, 4.1.02

Führungsfigur einer „Mitte-Links-Mehrheit“ auf der Akteursebene der Partei wurde.402 In Kooperation mit den ebenfalls gestärkten Akteuren des realpolitischen Flügels um Fritz Kuhn und Joschka Fischer begann in der Partei eine „Konturierung eines eindeutigen reformpolitischen Selbstverständnisses”, welches nicht nur auf den Wiedereinzug in den Bundestag, sondern auch auf eine „Koalitionsfähigkeit“, d.h. auf programmatische wie organisationsstrukturelle Voraussetzungen einer Regierungsbeteiligung auf Bundesebene abzielte.403

Die auf dem Parteitag verabschiedete „Erklärung von Neumünster“ sollte einen „ersten Schritt“

in Richtung eines neuen Grundsatzprogramms darstellen.404 Die Akteure intendierten eine programmatische „Entpolarisierung“ der Partei, so dass „parteiinterne Vielfalt ...nicht länger zur Beliebigkeit führen“ würde, wie es in der mit 90-prozentiger Mehrheit verabschiedeten Erklärung hieß.405 Die Formel, durch diese Entpolarisierung eine „einheitliche Identität...

formulieren“ zu wollen, dokumentierte einen inhaltlichen wie organisatorischen Erneuerungswillen der Akteure, der auf eine breite programmatische Übereinkunft in der Partei abzielte.406 Und tatsächlich war das von Volmer und Kuhn in einem mehrstündigen Vieraugen-Gespräch verhandelte Papier ein von beiden Flügelvertretern gleichermaßen getragener Konsens.407 In der außen- und sicherheitspolitischen Passage hieß es:

„Wie kann ein abstrakter Pazifismus, wie kann unsere Forderung nach Auflösung der NATO in eine gesamteuropäische und globale Sicherheitspartnerschaft einmünden? Wie müssen - gerade im sich verschärfenden Nord-Süd-Konflikt - nicht-militärische Formen von Sicherheitspolitik auf der Basis einer ökologisch-solidarischen Weltwirtschaft aussehen? Wie müssen wirtschaftliche Konversionsprozesse bei uns und anderswo aussehen, die unumkehrbar die Waffenproduktion abbauen?" 408

Als „Streitziel" wurde in der Erklärung eine „ökologisch-solidarische Weltordnung" benannt, die

„die wirtschaftlichen und sozialen Motive für Militäraktionen“ abbaue. Militärische Konflikte wurden folglich als Ergebnis ökonomischer Verhältnisse, d.h. strukturell gewaltinduzierend

402 Raschke 2001: 346; Interview mit Volmer, 25.4.02.

403 Kleinert 1992: 372.

404 Raschke 2001: 74.

405 Erklärung von Neumünster.

406 Erklärung von Neumünster.

407 Interview mit Volmer, 25.4.02.

408 Erklärung von Neumünster.

verstanden. Zudem wurde die Solidarität als Mittel der Sicherheitspolitik betont, und in einer

„Top-down“-Konzeption mit der staatlichen Einbindung „partnerschaftlicher“ Institutionen internationaler Sicherheit verknüpft. Sowohl die Gewalt- als auch die Sicherheitsvorstellungen dokumentierten eine Kontinuität pazifistischer Konzeptionen in der Partei.

Mit Blick auf die Diskussionen in der Bundesrepublik hinsichtlich einer militärischen Unterstützungsleistung im Ausland hielten die Delegierten in einer separaten Resolution mit großer Mehrheit einen möglichen Einsatz deutscher Soldaten unter UN-Mandat für „politisch verhängnisvoll“, da dies der Beginn „anderer Einsatzformen“ sei. Eine Grundgesetzänderung zum Zweck einer juristischen Absicherung eines solchen Einsatzes wurde abgelehnt.409

Angesichts der Tatsache, dass die Parteiakteure während der militärischen Krise am Golf sprachlich nicht „pazifistisch“ argumentiert hatten, ist bemerkenswert, dass in der Neumünster Erklärung nunmehr programmatisch ein „Pazifismus“ hervorgehoben wurde, der für das außen- und sicherheitspolitische Agieren der Institution handlungsleitend sein sollte. Die Erklärung sollte Volmer zufolge die „politische Arena“ beschreiben, in der zukünftig nach institutionellen Handlungsoptionen „gesucht“ werden sollte. So wurden Extrempositionen ausgeschlossen und die verbleibenden „Handlungspotentiale“ in verschiedenen Politikbereichen theoretisch

„durchdekliniert“.410 Während sich die Akteure bei der institutionellen Bearbeitung der Golfkrise

„unterschiedlicher ideologischer Versatzstücke“ bedienten411, wurden diese nunmehr unter dem Oberbegriff „Pazifismus“ als Teil der institutionellen Programmatik präsentiert.

Offensichtlich war durch die Angriffe des Irak auf Israel sowie das Regime von Saddam Hussein

„Verunsicherung“ erzeugt worden, die „viele in der Partei zum Nachdenken gebracht“ hatte.412 Dennoch war es nicht die konkrete außenpolitische Problembearbeitung der Partei, die mittels der Erklärung verändert werden sollte. Der Inhalt der Resolution von Neumünster hatte unmittelbar „nichts mit dem Golfkrieg zu tun“.413 Weitaus entscheidender als Grundlage für die programmatische (wie auch organisationsstrukturelle) Verschiebung der Partei war die

„Erfahrung harter innerer Konflikte“ sowie das gemeinsame Handlungsinteresse eines

409 Vgl. Resolution A 3 der 13. Ordentlichen Bundesversammlung in Neumünster.

410 Vgl. Interview mit Volmer, 25.4.02.

411 Interview mit Fücks, 11.4.02; Interview mit Volmer, 25.4.02.

412 Interview mit Fücks, 11.4.02.

413 Vgl. Interview mit Volmer, 25.4.02.

Wiedereinzugs in den Bundestag.414 So ist die Erklärung von Neumünster Ausdruck einer institutionellen Diskussionsphase, die entscheiden sollte, „auf welcher Basis“ sich die Partei nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag „neu konstituieren könnte“.415 Entsprechend betonten die neu gewählten Parteisprecher Christine Weiske und Ludger Volmer durch die inhaltlichen, strukturellen und personellen Entscheidungen die Möglichkeit, zukünftig intensiv in Sachdebatten „einzusteigen“, so bei der Entwicklung der „Leitlinien grüner Friedenspolitik“.416 Angesichts dieses Umreißens einer außen- und sicherheitspolitischen Programmatik wurden wenige institutionelle Antworten auf reale Handlungsprobleme benannt, sondern – den Einsatz der Bundeswehr im Ausland ausgenommen – lediglich die allgemeine Formulierung eines Fragenkatalogs erreicht. Analyse und Beurteilung konkreter außen- und sicherheitspolitischer Problemstellungen, etwa die ökologische Katastrophe in der Golfregion oder der Separationstendenzen in der Sowjetunion und in Jugoslawien blieben unberücksichtigt. In diesem „undurchsichtigen Gährungs- und Veränderungsprozess“417 um strukturelle und programmatische Weiterentwicklungen der Partei wurden virulente Fragen ebenso wie mittelfristige Handlungsstrategien zur Bearbeitung außen- und sicherheitspolitischer Probleme vernachlässigt.

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