• Keine Ergebnisse gefunden

8 Das Wahljahr 1994

8.1 Institutionelle Ausgangslage

Im Laufe des Jahres 1994 mussten sich die Parteien der Bundesrepublik in insgesamt neun Kommunalwahlen und sechs Landtagswahlen dem Votum der deutschen Wählerschaft stellen.

Die beiden wichtigsten Entscheidungen im Hinblick auf Programmentwicklung und außenpolitische Problembearbeitung stellten aus Sicht der politischen Akteure jedoch die Wahlen zum Europaparlament sowie zum deutschen Bundestag im September 1994 dar. Das bereits im November 1993 in Aachen verabschiedete Programm zur Europawahl knüpfte im Wesentlichen an die auf dem Bonner Parteitag formulierten außen- und sicherheitspolitischen Positionen an.639 Es enthielt einige europapolitische Schwerpunkte, seine Fassung stand jedoch hinter der zentralen Zielsetzung zurück, ein Programm für einen erfolgreichen Bundestagswahlkampf zu entwerfen.640 So wies das Europawahlprogramm letztlich kaum eigene inhaltliche Akzente auf.641

Das unmittelbare Interesse der Akteure von Bündnis 90/Die Grünen im Hinblick auf die Bundestagswahl bestand in einem Wiedereinzug in das Parlament als gesamtdeutsche Partei. Um dieses Ziel zu erreichen, musste die Partei größere Teile der Wählerschaft an sich binden, da der Stimmenumfang der Stammwählerschaft weniger als 5% des gesamten Elektorats bildete und daher nicht für das unmittelbare Wahlziel hinreichen würde.642 Das Stimmpotential der Partei lag

639 Vgl. Protokoll der 2. Außerordentlichen Bundesversammlung von Bündnis 90/Die Grünen in Aachen.

640 Stock 1994.

641 Im sicherheitspolitischen Abschnitt des Europawahlprogramms hieß es, der Vertrag von Maastricht habe „durch die Einbeziehung der WEU die Tür für eine Militarisierung" geöffnet. Die Remilitarisierung der deutschen Außenpolitik geschehe „nicht im nationalen Alleingang, sondern im Gewande der westeuropäischen und atlantischen Integration." Die internationale Durchsetzung von Menschenrechten dürfe sich „keiner militärischen Mittel bedienen." Ziel müsse es sein, „die wirtschaftlichen Grundlagen der Aufrüstung zu verändern" durch gemeinsame Rüstungskonversionsprogramme eine stärkere Kontrolle der EU von militärisch verwendbaren Gütern. Um die herrschende „organisierte Friedlosigkeit" der internationalen Beziehungen zu beenden, bedürfe es einseitiger Abrüstung sowie dem Ausbau der KSZE-Insitutionen und der „transnationalen Zusammenarbeit gesellschaftlicher und politischer Gruppen" (Lieber Europa erweitern als Demokratie beschränken. Programm zur Europawahl 1994: 31-34).

642 Vgl. Raschke/Schmitt-Beck 1993; Schmitt-Beck 1993, Bruns 1994a: 29.

im Umkreis der „Neuen Mittelschichten“.643 Die Programmatik der Partei durfte aus diesem Blickwinkel nicht außerhalb einer glaubwürdigen „Akzeptanzregion“ liegen, da programmatische Radikalität die Attraktivität von Bündnis 90/Die Grünen in diesem Wählersegment minderte.644 Zudem verringerte eine inhaltliche Ausrichtung der Partei jenseits der politischen Mitte die Chancen auf mögliche Verhandlungen zu einer Regierungskoalition mit der SPD.645 Radikale Positionen konnten den potentiellen Koalitionspartner SPD dazu bewegen, im Falle eines Wahlsiegs eine Koalition mit der CDU einzugehen.646

Die christlich-liberale Bundesregierung beschrieb in ihrem Weißbuch zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Wahljahr als sicherheitspolitisches Interesse Deutschlands u.a. „die Gestaltung einer neuen, alle Staaten Europas umfassenden kooperativen Sicherheitsordnung“, was den von Bündnis 90/Die Grünen formulierten Positionen um eine Stärkung der KSZE als gesamteuropäische sicherheitspolitische Institution glich. Auch das im Weißbuch benannte Interesse an der „weltweite[n] Achtung des Völkerrechts und der Menschenrechte“ entsprach den im Grundkonsens ein Jahr zuvor formulierten Programmatik der Partei Bündnis 90/Die Grünen.647 Die Gelegenheit zur Ausrichtung der außen- und sicherheitspolitischen Programmatik an der politischen Mitte war demnach groß, da eine Angleichung wesentlicher Positionen stattgefunden hatte.

Für die Programmentwicklung von Bündnis 90/Die Grünen war jedoch entscheidend, dass die Außen- und Sicherheitspolitik kein wahlentscheidendes Politikfeld darstellten, da innenpolitische Themen im Vordergrund des Wählerinteresses standen.648 Die Akteure konnten sich demzufolge bei der Formulierung der außen- und sicherheitspolitischen Programmatik auf eine Interessenvertretung der Stammwählerschaft konzentrieren. Die Constituency-Repräsentation war gerade auf außen- und sicherheitspolitischem Gebiet entscheidend, weil hier die

643 Wiesenthal 1991: 158.

644 Vgl. MacDonald/Listhaug/Rabinowitz 1991; Rabinowitz/MacDonald 1989: 108.

645 Vgl. Laver 1997: 118.

646 Fuhr 1994: 11. In einem Entwurf zur Präambel des Wahlprogramms, der von Ludger Volmer verfasst wurde, hieß es dementsprechend: „Wir werden es der SPD nicht leicht machen, sich in eine große Koalition zu flüchten."

(zitiert nach: Deupmann 1994a; vgl. auch: Mit altem Streit zum neuen Ziel).

647 Weißbuch zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage der Bundeswehr: 42.

648 Themen der Arbeitslosigkeit, Ökologie und Ausländerfeindlichkeit standen hier im Vordergrund (vgl. die Ergebnisse einer Forsa-Umfrage vor der Bundestagswahl, zusammengestellt in Dörner 1998: 169).

Stammwähler der Partei „besonders dezidierte Meinungen vertreten und sich dadurch deutlich vom Wählerdurchschnitt absetzen.“649 Eine moderate und den sicherheitspolitischen Positionen der Volksparteien ähnelnde Programmatik konnte die Interessenrepräsentation der Constituency erschweren.

Der erste Länderrat der Partei Bündnis 90/Die Grünen stellte im Juni 1993 – ohne Differenzierung einzelner Politikfelder und Elektoratsteile – fest, dass es zur Erschließung wichtiger Wählerpotentiale notwendig sei, „die Grundlinien einer Politik in Unterscheidung zu der anderer Parteien“ zu bestimmen.650 Gleichzeitig müsse sich die Programmatik der Partei an den existierenden Problemen und „Interessen der Wählerschaft“ orientieren und nicht „ganze Weltbilder vermitteln oder politische Bildung betreiben“.651 Problematisch an dieser Einschätzung war eine offenkundige Konzentration auf die Stammwählerschaft über alle Politikfelder hinweg. Damit lief die Partei Gefahr, zu den Wählersegmenten der politischen Mitte keine „tragfähigen Beziehungen“ zu entwickeln, die das „parlamentarische Überleben“

gewährleisteten.652

Entscheidend für den Wahlerfolg war letztlich, politische Handlungskompetenz sowohl gegenüber der Institution als auch ihren Akteuren zu dokumentieren.653 Dazu mussten auch auf außen- und sicherheitspolitischem Gebiet „Glaubwürdigkeitslücken" geschlossen werden654, und zwar mit Blick auf die Wählerschaft in der politischen Mitte, den potentiellen politischen Regierungspartner sowie hinsichtlich Aktivisten und Stammwählern der Partei. Die Akteure waren folglich gezwungen, potenziert im Brennpunkt verschiedenster Einflüsse und Interessen zu argumentieren und zu agieren. Politische Gegner anderer Parteien, Mitglieder und Interessengruppen, Medienöffentlichkeit sowie potentielle Wähler setzten hohe Glaubwürdigkeitsanforderungen an die vertretenen Positionen.

Um die Erwartungen so umfassend wie möglich erfüllen zu können, mussten programmatische Zielsetzungen und Handlungsabsichten demzufolge sprachlich so präsentiert werden, dass die

649 Schmitt-Beck 1993.

650 Konzept des Wahlprogramms.

651 Konzept des Wahlprogramms.

652 Wiesenthal 1991: 160.

653 Vgl. Laver 1997: 126; Strom 1990: 573.

654 Schmillen 1994.

verschiedenen Interessen möglichst umfassend zufrieden gestellt wurden.655 Aufgrund der Komplexität des Handlungsfelds war eine intensive Verwertung der Positionen im Prozess politischer Argumentation zu erwarten.656

8.2 Die sicherheitspolitische Linie des Bundestagswahlprogramms

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE