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6 Das Handlungsproblem Auslandseinsätze der Bundeswehr

6.1 Bundeswehreinsatz im ehemaligen Jugoslawien

Die aus sechs Republiken bestehende Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien420 war bereits in den Jahren nach dem Tod seines Präsidenten Tito 1980 in eine innenpolitische Krise geraten.421 Der einsetzende Zerfall der Sowjetunion förderte zu Beginn der neunziger Jahre in zusätzlichem Maß die Auflösungstendenzen der multi-ethnischen und multi-konfessionellen Struktur des Staates Jugoslawien.422

Die Entfesselung der innerstaatlichen Interessengegensätze und kollektiven Orientierungen in Form von Separationsbestrebungen ethnisch formierter und national ausgerichteter politischer Einheiten führte Ende 1990 zu Vorbereitungen der Regierungen Kroatiens und Sloweniens hinsichtlich ihrer staatlichen Unabhängigkeit von Jugoslawien.423 Die in Kroatien lebenden ethnischen Serben begannen daraufhin – gedeckt von der jugoslawischen Regierung in Belgrad – mit der Bildung paramilitärischer Einheiten, um einen Anschluss von serbisch besiedelten Gebieten Kroatiens an ein „neues Jugoslawien“ zu ermöglichen. Auch in Bosnien-Herzegowina, wo die serbische Bevölkerung einen Anteil von etwa 30% hatte, mobilisierte die Jugoslawische Volksarmee ab April 1991 serbische Kämpfer und koordinierte ihre Manöver mit der politischen Führung in Belgrad. 424

Das westliche Staatenbündnis ging gegen die gewaltförmigen Auseinandersetzungen in Jugoslawien vornehmlich auf diplomatischer Ebene vor. Die Waffenstillstandsinitiative der EG, die die kurzen Unabhängigkeitskriege Kroatiens und Sloweniens formal beendete, hatte in Slowenien Bestand, nicht jedoch in Kroatien, wo sich die Kämpfe gegenüber den von KSZE und EG vorgenommenen Maßnahmen der Konfliktbearbeitung als resistent erwiesen.425 Auch nach der Unabhängigkeitserklärung des Vielvölkerstaates Bosnien-Herzegowina im März 1992 dauerten die dortigen militärischen Auseinandersetzungen an. Die zur Überwachung des

420 Die Republiken waren Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien sowie die beiden autonomen Provinzen Kosovo und Vojvodina.

421 Bebler 1992: 385.

422 Vgl. Janjic 1997: 17f.

423 Zur Definition von Ethnizität und Nationalismus im zerbrechenden Jugoslawien siehe: Skenderovic 1997: 84-86.

424 Gow 1997: 19, 34-39.

425 Gow 1997: 27. Für einen Überblick siehe: Dokumente zum Konflikt in Jugoslawien: 526f.

Waffenstillstandes entsandte und zur Selbstverteidigung legitimierte UN-Schutztruppe UNPROFOR konnte dem offenen jugoslawischen Bürgerkrieg nicht Einhalt gebieten.426

Im Sommer 1992 weiteten sich die Kampfhandlungen auf das Kosovo und Mazedonien aus. Im Falle eines Übergreifens der Krise auf weitere Anrainerstaaten sowie einer möglichen Involvierung der Türkei und Griechenlands in einen großen Balkankrieg war der Zusammenhalt westlicher Bündnisstrukturen essentiell gefährdet.427 Das Handlungsproblem stand so auch für die deutsche Regierung einerseits in einem Zusammenhang gesamteuropäischer Sicherheits- und Stabilitätsinteressen, eine Rückkehr von Krieg als Mittel zur Durchsetzung ethnisch und national ausgerichteter Politik im europäischen Binnenverhältnis zu verhindern. 428

Die NATO hatte sich zwar in ihrem neuen strategischen Konzept Ende 1991 auf einen umfassenden Sicherheitsbegriff geeinigt, in dem den „klassischen“ Aufgaben der Abschreckung, Verteidigung und Zusammenarbeit das internationale Krisenmanagement als zusätzliche operative Funktion zur Seite gestellt wurde.429 In der US-amerikanischen Regierung hatte man jedoch nicht die Absicht, die Führungsposition in der vornehmlich europäische Sicherheitsbelange betreffenden Jugoslawien-Krise zu übernehmen.430 Auf dieser Basis wurden in NATO und EU zusätzlich Handlungserwartungen an Deutschland als europäische Führungsmacht formuliert.431 Die Erwartungen der westlichen Bündnispartner an eine tiefergehende internationale Einbindung hatten sich zudem durch die zögerliche Haltung Deutschlands während der Krise am Golf verschärft.432 Die Verbündeten ließen immer weniger zu, dass das vereinte Deutschland sich nicht an den militärischen und politischen Kosten gemeinsamer Sicherheitsmaßnahmen beteiligte.433

Auf der Ebene der politischen Akteure Deutschlands war vor allem die CDU bemüht, die Frage einer militärischen Beteiligung an Maßnahmen der Friedenserhaltung innenpolitisch

426 Haftendorn 2001: 409.

427 Calic 1993: 14.

428 Vgl. Haftendorn 2001: 405.

429 The Alliance Strategic Concept. Agreed by the Heads of State and Government Participating in the Meeting of the North Atlantic Council.

430 Wallander 2000: 719.

431 Gow 1997: 29; Gompert 1994: 36.

432 Vgl. Sked 1991; vgl. Schöllgen 1999: 206.

433 Link 1991: 89; Haftendorn 2001: 392.

voranzutreiben. Verteidigungsminister Rühe sagte bereits im Juni 1991, es müssten „sobald als möglich die Voraussetzungen“ für einen deutschen Einsatz geschaffen werden.434 Im Februar 1992 wurde in diesem Zusammenhang vom Verteidigungsministerium „Vorbeugung, Eindämmung und Beendigung“ von Konflikten als Teil des deutschen Sicherheitsinteresses definiert.435 Der Koalitionspartner FDP stimmte dem Papier des Verteidigungsministeriums jedoch auf Betreiben von Außenminister Hans-Dietrich Genscher nicht zu und forderte eine eindeutige verfassungsrechtliche Grundlage in Form einer klarstellenden Ergänzung des Grundgesetzes.436

Auch zwischen den Regierungsparteien und der SPD-Opposition herrschte Uneinigkeit, inwieweit ein militärisches Engagement Deutschlands auf dem Balkan juristisch möglich war.437 So existierte in der Frage eines militärischen Beitrags an der Bearbeitung der Krise in Jugoslawien keine überparteiliche Übereinkunft mehr, sondern vielmehr ein mühsamer politischer Konsensfindungsprozess, ob und inwieweit ein Einsatz der Bundeswehr einer juristischen Absicherung durch das Grundgesetz bedürfe.438 Streitpunkt der verfassungsrechtlichen Kontroverse waren die Grundgesetzartikel 87a Abs.2 GG, der die ausschließliche Verteidigungsaufgabe der Bundeswehr benennt439, sowie Art. 24 Abs.2 GG, in dem die Übertragung von Hoheitsrechten „zur Wahrung des Friedens“ auf ein „System kollektiver Sicherheit“ geregelt wird.440

Angesichts der Eskalation auf dem Balkan kristallisierte sich die Kontroverse im Sommer 1992 in der Frage, ob Deutschland Einheiten der Bundesmarine für einen Inspektionsauftrag der Vereinten Nationen und als Teil eines NATO-Verbandes in die Krisenregion Jugoslawiens entsenden dürfe.441 Die Regierungskoalition beschloss Mitte Juli, Deutschland mit einem Zerstörer und drei Aufklärungsflugzeugen an der Überwachung des Embargos gegen Serbien

434 Zitiert nach: Winter 1991.

435 Militärpolitische und militärstrategische Grundlagen und konzeptionelle Grundrichtung der Neugestaltung der Bundeswehr.

436 Reinhardt 1992; Hardthöhe. Aufmacher Bundeswehr. Weniger Soldaten Mehr Arbeit.

437 Vgl. Krause 1995: 45.

438 Vgl. Philippi 1997: 148.

439 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: 61.

440 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: 31f.

441 Schöllgen 1999: 216.

und Montenegro zu beteiligen.442 Die Entscheidung des Kabinetts wurde am 22.7.1992 mit den Stimmen der Koalition im Bundestag bestätigt.443 Außenminister Klaus Kinkel sagte, es gebe gegenüber einer Beteiligung Deutschlands aus „völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten keine Bedenken."444

Die SPD-Bundestagsfraktion beschloss trotz des „relativ unerheblichen Anlasses“445, eine Verfassungsklage gegen den Einsatz der Bundeswehr in der Adria einzuleiten.446 Begründet wurde der juristische Schritt damit, dass die Bundesregierung mit ihrer Entscheidung „die Rechte des Parlaments missachtet“ habe und die deutschen Streitkräfte in keiner „rechtlichen Grauzone“

agieren dürften.447 Auf dem Wege der juristischen Klärung sollten letztlich auch die innerparteilichen Diskussionen in der SPD um einen Einsatz beendet werden.448

Das Bundesverfassungsgericht wurde im Frühjahr 1993 bei der Frage einer deutschen Beteiligung an den sogenannten AWACS-Besatzungen der NATO zur Auswertung von Radarsignalen und zur Luftaufklärung über dem Gebiet Jugoslawiens erneut eingeschaltet.449 Nach gemeinsamer Klage von SPD und FDP billigte das oberste deutsche Gericht Anfang April die Beteiligung deutscher Soldaten an den AWACS-Einsätzen bis zu einer grundsätzlichen Entscheidung des Gerichts. In der Begründung hieß es, die Einsatzfähigkeit der AWACS-Systeme sei ohne deutschen Teilnahme „erheblich gefährdet“.450 Ein Rückzug der deutschen Einheiten verursache zudem einen irreparablen „Vertrauensverlust“ bei Bündnispartnern und

442 Presseerklärung des deutschen Verteidigungsministers, Volker Rühe, zur Entsendung von Seeaufklärern und für die Unterstützung der UN-Embargoüberwachung in der Jugoslawien-Krise.

443 Entschließungsantrag von CDU/CSU und FDP zur Beteiligung von Marinestreitkräften der Bundeswehr an Überwachungsmaßnahmen in der Adria; vgl. Bundestag billigt Adria-Einsatz der Marine.

444 Rede von Klaus Kinkel vor dem deutschen Bundestag.

445 So formulierte es der SPD-Fraktionsvorsitzender Hans-Ulrich Klose (zitiert nach: Der Bundestag streitet über Deutschlands Verantwortung im Angesicht kriegerischer Gewalt).

446 Vgl. SPD-Fraktion beschließt Verfassungsklage gegen Adria-Einsatz.

447 Entschließungsantrag der SPD-Fraktion zu Lage und Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien.

448 Vgl. Schwarz 1992; vgl. auch Philippi 1997: 119.

449 Haftendorn 2001: 392; Schöllgen 1999: 216.

450 Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im 88. Band der amtlichen Entscheidungssammlung (BverfGE 88): 181.

europäischen Nachbarn.451 Auf der Basis dieser Entscheidung nahmen in der Folge etwa 150 Bundeswehrangehörige an der militärischen Aktivität der NATO im Auftrag der Vereinten Nationen teil. Diese Unterstützungsleistung stellte bis dato den deutschen Maximalbeitrag an den multilateralen Aktivitäten zur militärgestützten Konflikteindämmung in Jugoslawien dar.452 Die bereits während des Golfkriegs offenbar gewordene Schwierigkeit Deutschlands, eine politisch tragbare Antwort auf das Handlungsproblem eines Einsatzes der deutschen Bundeswehr im Ausland zu geben, wurde erneut virulent. Dabei stellte die politische Wahrnehmung eines juristischen Vakuums die außenpolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands vehement in Frage und bedeutete zwangläufig einen Verlust an politischem Einfluss bei den internationalen Partnern.453 Ziel der Akteure musste es demzufolge sein, durch eine verfassungspolitische Verständigung, durch eine Änderung des Grundgesetzes oder durch richterliche Klärung eine konsensfähige wie verfassungsrechtlich eindeutige Regelung herbeizuführen.454

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