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10 Das Problem der NATO-Osterweiterung 1996/97

10.4 Kontinuität der sicherheitspolitischen Positionen

Während einer Sitzung im März 1997 einigte sich die Fraktion in der Frage der NATO-Osterweiterung erneut nicht auf eine gemeinsame Haltung.950 Mit 26 zu 17 Stimmen entschieden sich die Abgeordneten gegen die Formulierung einer einheitlichen Position.951 Das Ergebnis war wiederum auf die Weigerung der realpolitischen Fraktionsspitze zurückzuführen, die Fraktion in der Frage der Osterweiterung, wie Fischer in diesem Zusammenhang formulierte, auf ein

„abschließendes Nein“ festzulegen.952 Angelika Beer sagte nach der Fraktionsabstimmung, dass

„über Nicht-Befassung eine schleichende Veränderung der Politik der Grünen" erfolge.953 Aus Sicht der Parteilinken versuchten die Realpolitiker der Fraktion, auf informellem Weg die institutionellen Handlungsoptionen an traditionelle sicherheitspolitische Positionen anzugleichen und dabei einen „Abkoppelungsprozess der Fraktion von der Partei“ vorzunehmen, wie Volmer beobachtete.954 So herrschte im linken Flügel – wohl mit Blick auf die Interessen der Constituency – die Einschätzung, dass man sich mit einer veränderten Haltung gegenüber der NATO „jeder politischen Handlungsfähigkeit beraube“.955

Im Mai 1997 wurde die Grundakte zwischen der NATO und Russland verabschiedet und in ihr gemeinsame Beiträge zur Stärkung der OSZE beschlossen und dieser eine „Schlüsselrolle für Frieden und Stabilität in Europa“ zuerkannt.956 Die Unterzeichnung des Partnerschaftsabkommens mit der Ukraine und die Einladung zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen für die mittelosteuropäischen Staaten auf dem für Anfang Juli angesetzten NATO-Gipfel in Madrid war sehr wahrscheinlich. Die Strategie, weiter auf der sicherheitspolitischen Linie der Partei zu „beharren“957, wirkte angesichts dieser Entwicklungen

950 Vgl. Grüne verschieben Beschluss über Nato-Osterweiterung.

951 Vgl. Grünen-Fraktion vertagt Streit über NATO-Osterweiterung.

952 Zitiert nach: Fischer gegen Nein zur Nato-Osterweiterung.

953 Zitiert nach: Gaus 1997b.

954 Zitiert nach: Franz 1997.

955 Interview mit Hugler, 8.3.02.

956 Grundakte über Gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation und der Russischen Föderation: 234.

957 Lohse 1997b.

nach außen wie eine politische Geste mit dem symbolischen Ziel, noch einmal „laut und vernehmlich nein gesagt zu haben“, wie es Ludger Volmer im März formulierte.958

Mitte Juni 1997 einigte sich die Fraktion schließlich auf einen gemeinsamen Antrag zur NATO-Osterweiterung. In dem von Volmer und Beer ausgearbeiteten Antrag wurde die Erweiterung als

„Faktum“ anerkannt, gleichzeitig aber das „Ziel umfassender Sicherheit und Kooperation" im Rahmen der OSZE beibehalten.959 Fraktionssprecher Fischer sprach sich in der Sitzung für das Papier aus, kündigte jedoch nach einem Besuch in Polen kurz darauf an, einer Ratifizierung der Beitrittsverträge mit Ungarn, Tschechien und Polen im Bundestag zuzustimmen.960 Wie es aus dem „internen Kreis“ der Fraktion hieß, wollten die Akteure beider Flügel angesichts des Fortgangs des Erweiterungsprozesses nunmehr eine Kontroverse beenden, deren Gegenstand in der NATO bereits entschieden war.961 Fischer sagte dementsprechend in einem Interview nach dem Fraktionsentschluss, man werde die NATO-Osterweiterung „nicht verhindern, wieso als Partei die Bäume hochsteigen?“962

In der Bundestagsdebatte zur NATO-Osterweiterung Ende Juni befürwortete die Bundesregierung den Beitrittsprozess der mittelosteuropäischen Staaten als „Stärkung der Sicherheit und Stabilität in Europa“. Die Grundakte der NATO mit Russland und die Partnerschaftscharta mit der Ukraine seien „unerlässliche Bausteine der europäischen Sicherheitsarchitektur“.963 Die SPD brachte einen Antrag in den Bundestag ein, in dem die NATO-Osterweiterung ebenfalls als „solide und dauerhafte Grundlage für eine demokratische Regierungsform und für die zivile Kontrolle des Militärs“ bezeichnet wurde.964 Der Antrag der bündnisgrünen Fraktion war entsprechend dem Konsenspapier ein Formelkompromiss und hob vor allem die Bedeutung der OSZE für das Verhältnis der westlichen Staaten gegenüber Russland hervor. Weder im Antrag noch in den Redebeiträgen der Fraktion wurde die Aufnahme

958 Zitiert nach: Streitbare Außenpolitiker.

959 Erklärung der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen zur NATO-Osterweiterung.

960 Vgl. Fischer für Ost-Erweiterung der NATO.

961 Rulff 1997a.

962 Zitiert nach: Schimmeck 1997.

963 Rede des Bundesaußenministers Kinkel im Bundestag zur NATO-Osterweiterung.

964 Zitiert nach: Der Bundestag begrüßt die Ost-Erweiterung der NATO; vgl. auch: Volmer 1998a: 545.

neuer Mitglieder in der NATO begrüßt.965 Im Antrag hieß es, auch nach einer Erweiterung des Militärbündnisses bleibe

„die ungelöste Frage, wie die NATO die Erwartungen, die sie geweckt hat, einlösen kann, ohne entweder Rußland erneut zu brüskieren oder aber Hoffnungen auf Beitritt zu enttäuschen und damit die Erweiterung zu einer Quelle von Bedrohungs- und Isolierungsängsten in den entsprechenden Ländern zu machen.“966

Die NATO wurde demzufolge weiterhin als Instrument einer von den westlichen Staaten betriebenen Politik bezeichnet, die auf Dauer zu keiner wirksamen Sicherheit auf dem europäischen Kontinent führen würde. Diese Position verdeutlichte die Kontinuität einer pazifistischen Sicherheitskonzeption in der Partei, demzufolge durch eine Integration in die OSZE derjenigen osteuropäischen Staaten, die der NATO nicht beitreten würden, Sicherheitsdilemmata verhindert werden sollten.967 An dem institutionellen Fernziel einer Stärkung von OSZE-Strukturen wurde also auch nach der Entscheidung der NATO zur Aufnahme neuer Mitglieder festgehalten. Fraktionssprecherin Kerstin Müller schloss im Oktober 1997 eine „Umbewertung" der NATO aus.968 Im Dezember 1997 bestätigte die Fraktion in einer Kleinen Anfrage das Fernziel einer Stärkung der OSZE.969

Die Akteure verpassten den Moment, in dem man die Partei programmatisch hätte neu positionieren können. Neben dem Vorstoß von Antje Vollmer scheiterte eine Initiative von Parteisprecherin Gunda Röstel, den Prozess der Erweiterung der NATO konstruktiv

„mitzugestalten“970. Auch ein – offenbar ausschließlich interner – Versuch von Ludger Volmer scheiterte.971 Die Akteure hielten an der bisher vertretenen Programmatik fest. Der Grund für

965 Vgl. Volmer 1997; Lippelt 1997.

966 Erklärung der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen zur NATO-Osterweiterung.

967 Erklärung der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen zur NATO-Osterweiterung.

968 Vgl. Kein Bekenntnis der Grünen zur NATO.

969 In einer Kleinen Anfrage wurde u.a. nach der Haltung der Bundesregierung zu „konstruktiven und problematischen Auswirkungen... auf die künftige Ausgestaltung der Rolle der OSZE für eine europäische Sicherheitsarchitektur“ erkundigt (Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: Die Reform der NATO und die Osterweiterung der Allianz).

970 „Nato-Osterweiterung mitgestalten“. Interview mit Gunda Röstel.

971 Volmer versuchte nach eigener Darstellung, „die emotionale Betrachtung der Institution [der NATO] auf die nüchterne Betrachtung der Funktion zu lenken und dadurch weiterzukommen.“ (Interview mit Volmer, 25.4.02).

dieses Verhalten ist in dem institutionellen Erfahrungsspeicher zu finden, der sich mit der – auch im Laufe der 90er Jahre immer wieder bestätigten – Position gebildet hatte. Die fortdauernde negative Haltung gegenüber der NATO ging mit einer starken Identitätsbindung einher, die zu einer erneuten Bestätigung der sicherheitspolitischen Position motivierte.

Die Fortdauer des kognitives Schemas führte zu einem irrealen Bild von der tatsächlichen Veränderung des Bündnisses im Laufe der 90er Jahre.972 Vor allem die Aktivisten der Partei realisierten den Funktionswandel der NATO nicht und behielten ihre „negative emotionale Haltung“ gegenüber dem Bündnis bei.973 Bei der institutionellen Bearbeitung der Frage der NATO-Osterweiterung hatte folglich die „Breite der Partei“ die Debatte in der Fraktion „nicht mitgemacht“ und an dem „alten Ressentiment“ gegenüber dem Militärbündnis festgehalten.974 Die Akteure des linken Flügels waren einerseits bemüht, die „innerparteiliche Kluft zwischen oben und unten“975 zu schließen und so das außen- und sicherheitspolitische Optionenset an den Interessen der Constituency zu orientieren. Wie Poppe mit Blick auf die Frage der NATO-Erweiterung erläuterte, ging es den linken Akteuren darum,

„Kräfte des linken Flügels in der Partei zu bündeln, an bestimmten Kernthesen aufzurichten und dann zu sagen: wir sind die Partei.“976

Gleichzeitig hatte die institutionelle Identität auch direkten Einfluss auf die Position der Akteure:

Die Akteure maßen der OSZE auch nach dem Erweiterungsbeschluss der NATO eine höhere sicherheitspolitische Bedeutung zu und beabsichtigten dementsprechend, in der Partei

„Friedenspolitik von der gegeben Situation aus“ zu betreiben.977

Bei den Akteuren des realpolitischen Flügels war das Identitätsmotiv offensichtlich wesentlich schwächer. Mit Blick auf die Bundestagswahl im folgenden Jahr gedachten die Realpolitiker in der Partei „um die politische Mitte [zu] kämpfen“, wie es Fischer im Juli 1997 formulierte.978 Obwohl die Fraktion mehrheitlich die Absicht hatte, eine sowohl für SPD als auch Wählerschaft

972 Vgl. Herrmann 1997: 423.

973 Interview mit Schmillen, 15.3.02.

974

Theyssen 1997.

Interview mit Volmer, 25.4.02.

975

Interview mit Poppe 18.2.02.

976

Interview mit Hugler, 8.3.02.

977

Zitiert nach: Theyssen 1997.

978

weithin akzeptable Position zu vertreten, stellten die realpolitischen Akteure keine Mehrheitsverhältnisse her. Die Strategie der Realpolitiker, eine Festlegung der Fraktion zu verhindern und durch diese Verzögerung das Handlungsproblem obsolet werden zu lassen, rief die Inflexibilität der sicherheitspolitischen Position der Partei mit hervor.979

Wenn die Handlungsfreiheit der Akteure darin besteht, Optionen anzuwenden, die im institutionellen Kontext äußerer Handlungserwartungen möglich sind, wird die Freiheit begrenzt, wenn diese Optionen nicht definiert werden.980 Die programmatische Positionierung der Akteure im Zuge der NATO-Osterweiterung verdeutlicht eine begrenzte Handlungsfreiheit in diesem Sinne. Die Bearbeitung des Problems der NATO-Osterweitung führte aufgrund von Identitätsmotiven einerseits und einer Verzögerungsstrategie andererseits nicht zu einer – angesichts der äußeren sicherheitspolitischen Entwicklungen notwendigen – programmatischen Anpassung. Durch die Bevorzugung der OSZE als Sicherheitsinstitution blieben die Handlungsoptionen der Partei mit pazifistischen Sicherheitskonzeptionen verbunden.

10.5 Zwischenresümee

Das Handlungsproblem der konkreten Beitrittsperspektive mitteleuropäischer Staaten zur NATO führte 1996 auf Akteursebene der Partei zu starken Differenzen, die zwischen den Flügeln verliefen und sich vor allem in der Bundestagsfraktion manifestierten. Trotz der mehrheitlichen Befürwortung einer Bündniserweiterung in der Fraktion wurde in dieser Frage keine offizielle Position festgelegt. Die realpolitischen Akteure verfolgten die Strategie, die Frage der NATO-Erweiterung mittels Verzögerung obsolet werden zu lassen. Die Akteure des linken Flügels beabsichtigten demgegenüber, eine sicherheitspolitische Positionsveränderung der Partei gänzlich zu verhindern. Wie die durchgehend negativen Reaktionen auf einen inhaltlichen Vorstoß von Antje Vollmer verdeutlichten, wollten die Akteure gleichzeitig eine öffentliche Debatte zur Frage der Bündniserweiterung verhindern.

Auf der Basis einer pazifistischen Sicherheitskonzeption hatte die Partei programmatisch seit jeher eine Stärkung von OSZE-Strukturen zur Schaffung einer übergreifenden europäischen Sicherheitsarchitektur gefordert. Zugleich war die NATO als Sicherheitsinstitution immer äußerst kritisch in der Partei beurteilt worden. Der mit dieser Position der Partei verbundene Erfahrungsspeicher bewirkte, dass vor allem unter den Aktivisten der Funktionswandel der

979

Scharpf 1997: 63.

Ostrom 1999: 49.

980

NATO in den 90er Jahren nicht realisiert worden war. So blieb aufgrund von Identitätsmotiven in der Constituency sowie bei den Akteuren des linken Flügels 1997 die negative Haltung der Partei gegenüber dem Militärbündnis auch nach dessen Erweiterungsbeschluss erhalten. Die gegenläufigen Interessen einer Constituency-Repräsentation sowie Identitätsmotiven einerseits und der Verzögerungsstrategie der realpolitischen Akteure andererseits führten zu einer institutionellen Inflexibilität. Die sicherheitspolitischen Handlungsoptionen der Partei wurden den veränderten äußeren Handlungsbedingungen folglich zu spät angepasst.

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