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7 Der Zusammenschluss von Die Grünen und Bündnis 90

7.4 Der Sonderparteitag in Bonn

In den folgenden Monaten mobilisierten die Akteure des linken Parteiflügels für ihre außen- und sicherheitspolitische Linie. Der Babelsberger Kreis bekräftigte im September seine

„antimilitaristische Position“ und bereitete sich nach eigener Darstellung auf eine „heiße Phase der Parteientwicklung“ vor, die

„zu entscheidenden Profilbestimmungen der aus Bündnis 90 und Grünen zusammengeschlossenen Organisation führen wird“.618

Auf Initiative mehrerer westdeutscher Landesverbände wurde für Anfang Oktober 1993 ein Sonderparteitag einberufen, auf dem die Position der Partei zur Bearbeitung der militärischen Auseinandersetzungen und der humanitären Krise auf dem Balkan verhandelt werden sollte. Auf dem – wie auch der Länderrat zuvor – in Bonn tagenden Parteitag wurde ein Antrag verabschiedet, der zunächst die Ziele einer Zivilisierung der Außenpolitik sowie der nationalen Selbstbeschränkung und Selbsteinbindung Deutschlands in internationale Institutionen benannte.

614 Vgl. Weißhuhn 1993: 191.

615 Interview mit Volmer, 25.4.02.

616 Lengsfeld (vormals Wollenberger) 2002: 382.

617 Geis 1993d.

618 Presseerklärung des Babelsberger Kreises.

Gefordert wurde außerdem die Aufwertung von KSZE und Vereinten Nationen.619 Hinsichtlich der internationalen Krisenbearbeitung hieß es, falls militärische Aggression nicht präventiv verhindert werden könne, müssten nicht-militärische Zwangsmaßnahmen erlaubt sein. In Widerspruch zum Beschluss des Länderrats vom Juni wurde eine Intervention in Bosnien jedoch abgelehnt. Wer Militäreinsätze gegen Menschenrechtsverletzungen durchführe, gehe „immer das enorme, unkontrollierbare Risiko einer Kriegseskalation mit noch weit schlimmeren Folgen“

ein.620

„Die internationale Durchsetzung von Menschenrechten darf sich keiner militärischen Mittel bedienen, wenn das Ziel der dauerhaften Entmilitarisierung der internationalen Politik eine Chance auf Verwirklichung haben soll.“ 621

Erstaunlich war die Einheitlichkeit des Abstimmungsergebnisses: Lediglich 46 Delegierte lehnten die Resolution ab.622 Auffallend war zudem eine „aufgeladene Stimmung“ des Parteitages.623 Vor allem Ludger Volmer, der den Resolutionstext eingebracht hatte, emotionalisierte die Diskussion.624 Auch Teile des Beschlusses sind sprachlich dramatisiert und

„höchst pathetisch“.625 Die emotionalen Polarisierungen verhinderten eine rationale Auseinandersetzung um ein institutionelles Optionenset, das ermöglicht hätte, die Menschenrechtsverletzungen im Krisengebiet effektiv zu bearbeiten. Die Partei wandte sich gegen jegliche Einbindung militärischer Verbände in die Bürgerkriegsgeschehnisse Bosniens, obwohl sie die prekäre Menschenrechtssituation anerkannte.

Das Handlungsproblem, die Lieferung von humanitären Gütern und die medizinische Versorgung für die Bevölkerung nur mit militärischen Mitteln sichern zu können,

619 Beschlüsse der Bundesdelegiertenkonferenz von Bonn.

620 Beschlüsse der Bundesdelegiertenkonferenz von Bonn.

621 Beschlüsse der Bundesdelegiertenkonferenz von Bonn.

622 Darunter aus der Parteispitze Joschka Fischer, Daniel Cohn-Bendit, Marieluise Beck, Eva Quistorp und Lukas Beckmann sowie Gerd Poppe, Vera Wollenberger und Parteisprecherin Marianne Birthler von Bündnis 90 (Vgl.

'Bellizisten' unterliegen 'Pazifisten'; Grüner Parteitag).

623 Interview mit Poppe, 18.2.02.

624 Volmer äußerte in seiner Rede: „Wenn die Mächtigen der Welt den Frieden nicht wollen, dann dürfen wir, die Ohnmächtigen, nicht nach Waffen rufen." (zitiert nach: Geis 1993e; siehe auch Deupmann 1993).

625 Interview mit Volmer, 25.4.02.

„materialisierte“ den im Grundkonsens von Bündnis 90/Die Grünen angelegten Widerspruch zwischen den Handlungsalternativen einer normativ geforderten Gewaltfreiheit und der Sicherung von Menschenrechten. Trotz der mangelnden Operativität des Beschlusses machte das einheitliche Abstimmungsergebnis ein Handlungsmotiv zur Bestätigung der Norm der Gewaltfreiheit in allen Teilen der Partei deutlich. Die Partei reagierte auf das Handlungsproblem mit einem „Festhalten an alten Grundsätzen”.626

„Für einen Moment, im Schutzraum der geschlossenen Veranstaltung, wollte sich die Partei vergewissern, dass ihr Standpunkt klargeblieben ist.“627

Das Abstimmungsergebnis von Bonn war dazu bestimmt, die Handlungsnorm der Gewaltfreiheit für die Bearbeitung der Krise in Jugoslawien festzulegen. Dieses kollektive Motiv wurde durch eine ideologische Funktion der „Autokommunikation“ ermöglicht, die als „symbolisches Selbstgespräch" der institutionellen Selbstvergewisserung diente.628 Auslöser für die Aktivierung dieser Funktion waren äußere Entwicklungen, unter deren Eindruck das institutionelle Optionenset in Frage gestellt wurde.629 Die Autokommunikation zielte darauf ab, Adäquatheit von Handlungsalternativen unter Beweis zu stellen.630 Dabei ging es – wie die mangelhafte Operativität des Beschlusses verdeutlichte – nicht um die Suche nach dem „besseren Argument“, um die Krise auf dem Balkan adäquat zu beantworten.631

Dass man nicht das neue Handlungsziel der Sicherung von Menschenrechten favorisierte, das im Grundkonsens programmatisch definiert worden war, ist auf das Interesse der linken Akteure sowie der Delegierten zurückzuführen, eine mit dem Beschluss des Länderrats im Juni angedeutete Positionsverschiebung zu verhindern.632 Der Beschluss des Sonderparteitags war zwar insgesamt weniger eine rationale Entscheidung der Akteure innerhalb der

626 Grüne lehnen jeden Militäreinsatz ab, Pazifisten setzen sich durch.

627 Bruns 1994: 31. Auch Volmer hielt dies im Interview für „nicht falsch beobachtet“ (Interview mit Volmer, 25.4.02).

628 Vgl. Johnston 1995: 56.

629 Vgl. Berger 1996: 326f.

630 Vgl. Legro 2000: 420.

631 Risse 2000: 7.

632 Volmer bestätigte später mit Blick auf den Sonderparteitag: „Wer gehofft hatte, dass Bürgerrechtler die gesamte Formation in die politische Mitte rücken könnten, musste sich bald enttäuscht sehen." (Volmer 1998a: 433).

Auseinandersetzung um die programmatische Ausrichtung von Bündnis 90/Die Grünen.633 Dennoch gab das von Aktivisten wie von Akteuren des linken Flügels geteilte Interesse zur Positionswahrung den Ausschlag dafür, dass anderslautende Positionen der Akteure erst gar nicht thematisiert wurden.634

Insgesamt reagierte die Partei auf das gesteigerte In-Frage-Stellen der Handlungsnorm der Gewaltfreiheit im Zuge der Vereinigung mit Bündnis 90 mit der Formulierung politischer Fernziele, deren Implementierung im internationalen Handlungsfeld mittelfristig nicht möglich waren. Die Handlungsprobleme im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg in Jugoslawien konnten die Akteure mittels der Norm der Gewaltfreiheit nicht befriedigend beantworten.635 Die

„Verhinderungsstrategie“ musste mittelfristig scheitern, da die Partei keine „positiven“ Optionen für die Problembearbeitung des jugoslawischen Bürgerkriegs formulierte.636

7.5 Zwischenresümee

Der rationale und pragmatische Zusammenschluss, die marriage of convenience637 von Bündnis 90 und Die Grünen hatte zwei wesentliche Folgen für die institutionelle Problembearbeitung. In organisationsstruktureller Hinsicht bedeutete die Fusion zunächst eine Veränderung der Akteurskonstellation bei den Grünen: Auf die inhaltliche Nähe zwischen Akteuren des Bündnis 90 und des westdeutschen realpolitischen Flügels reagierte der linke Flügel mit der Formierung des „Babelsberger Kreises“, so dass institutionelle Entscheidungsprozesse im Zuge des Zusammenschlusses polarisiert und radikalisiert wurden.

Mit der Vereinigung gingen zudem Verschiebungen in der außen- und sicherheitspolitischen Programmatik einher. Im „Grundkonsens“ von Bündnis 90/Die Grünen kam das pazifistische Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht mehr vor. Der programmatische Schwerpunkt auf Einhaltung und Sicherung von Menschenrechten machte eine Gegenüberstellung dieses außenpolitischen Handlungsziels mit der pazifistischen Norm der Gewaltfreiheit innerhalb der außen- und sicherheitspolitischen Problembearbeitung möglich.

633 Vgl. Stock 1993b; Hölscher 1993.

634 Vgl. Legro 1996: 122.

635 Cooper 1996: 267; Frankland 1996: 6.

636 Interview mit Volmer, 25.4.02.

637 Frankland 1996: 3.

Auf der Basis der Veränderung von Akteurskonstellation und Optionenset wurde bei der Bearbeitung des jugoslawischen Bürgerkriegs auf dem ersten bündnisgrünen Länderrat eine Beteiligung der deutschen Bundeswehr als möglich erachtet. Unter Bezugnahme auf die Sicherung der Menschenrechte im Krisengebiet agierten weibliche Akteure, Politiker von Bündnis 90, sowie westdeutsche Realpolitiker während des Treffens gemeinsam.

Eine Positionsverschiebung der offiziellen Programmatik wurde jedoch während eines Sonderparteitags in Bonn verhindert. In der Resolution lehnten die Aktivisten mit überragender Mehrheit ein militärisches Agieren im Ausland prinzipiell ab. Da das institutionelle Optionenset angesichts der Krise auf dem Balkan in Frage gestellt worden war, reagierte die Partei nun kollektiv mit einer „herbeigeredeten Selbstgewissheit".638 Durch die „autokommunikative“

Funktion der pazifistischen Ideologie wurde eine einheitliche institutionelle Programmatik hergestellt. Gleichzeitig waren Interessen des linken Flügels und der Aktivisten entscheidend, eine programmatische Positionsverschiebung im Zuge der Fusion von Bündnis 90 und den Grünen zu verhindern.

638 Bruns 1993.

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