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Zum Verhältnis von (erzähltheoretischer) Deskription einerseits und Interpretation andererseits

Im Dokument Christoph Heilig Paulus als Erzähler? (Seite 167-171)

6 Aufgabe und Umfang der Erzähltheorie

6.3  Funktion der Erzähltheorie

6.3.2  Zum Verhältnis von (erzähltheoretischer) Deskription einerseits und Interpretation andererseits

6.3.2.1 Die zugrunde gelegte Bestimmung

Wenn die Erzähltheorie selbst keine Interpretationen vornimmt, muss das Ver­

hältnis zum Interpretieren noch näher geklärt werden. Für den Zweck dieser Arbeit292 genügt es, den relativ stabilen Konsens zu notieren, der bezüglich des deskriptiven Status narratologischer Konzepte besteht.293 Was weiterhin das Ver-hältnis von Deskription und Interpretation angeht, kann ebenfalls festgehalten werden, dass „[d]ie große Mehrzahl der Beiträge … [annimmt], dass sich in sinn­

voller Weise zwischen Beschreibungen mit intersubjektivem Status und Deutun­

gen mit idiosynkratischem Charakter unterscheiden lässt.“294

Dabei wird freilich das Konzept der ‚Beschreibung‘ unterschiedlich weit gefasst. Eine engere Bestimmung impliziert, dass eine Beschreibung lediglich die „syntaktische Konstitution“ eines Textes umfasst (d. h., die Frage beantwortet

„aus welchen Zeichen [ein Text] besteht und wie sie angeordnet sind, nicht aber was sie bedeuten“).295 Mehrheitlich wird jedoch davon ausgegangen, dass auch bestimmte semantische Aspekte Gegenstand von Deskriptionen sein können, da angenommen wird, „dass es ein intersubjektiv geteiltes kulturelles Wissen gibt, das es ermöglicht, sich zumindest über Teile der Bedeutung von sprachlichen

290 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 34: „[D]ie Erzähltheorie [kann und wird] gerade in ihrem traditionellen Zuschnitt – also verstanden als begrifflicher Werkzeugkasten – im Rahmen un-terschiedlich ausgerichteter interpretativer Erschließungen von Erzähltexten genutzt werden.“

291 Zum häufig anzutreffenden Plural „Erzähltheorien/Narratologien“ siehe Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 23. Vgl. auch oben, Abschnitt 3.1 und 6.2.

292 Dem hier grob skizzierten Themenkomplex widmete sich in den Jahren 2018–2019 eine klei­

ne interdisziplinäre Arbeitsgruppe an der theologischen Fakultät Zürich, die durch einen von Theresa Heilig und Andreas Mauz eingeworbenen GRC Grant ermöglicht wurde. Die Ergebnisse sollen in Heilig und Heilig, „Teaching Biblical Exegesis: The Distinction between Methods of Description and Interpretation“ ausführlicher dargestellt werden.

293 Siehe Kindt und Müller, „Interpretation,“ 292.

294 Kindt und Müller, „Interpretation,“ 288.

295 Kindt und Müller, „Interpretation,“ 289.

Ausdrücken mit ähnlicher Verbindlichkeit zu äußern … wie über einige Aspekte der Beschaffenheit von ‚natürlichen Gegenständen.‘“296

Ein explizit deskriptives Verständnis der Aufgabe der Narratologie leugnet nun nicht, dass die Anwendung bestimmter narratologischer Kategorien auf einen Text „mitunter keine offensichtliche Angelegenheit ist und einige Überle­

gung erfordert.“297 Es kann daher für die Anwendung einer bestimmten Katego­

rie – wie der des Plots (vgl. oben, Abschnitt 5.3) – notwendig sein, dass bereits ein

„umfassendes Verständnis der Erzählung – und damit oftmals Interpretation – voraus[gesetzt]“ wird.298

Entscheidend ist jedoch zweierlei: (1) Die erzähltheoretischen Kategorien selbst sind neutral gegenüber verschiedenen Interpretationstheorien: „Begriffe wie die der Prolepse, der externen Fokalisierung oder des homodiegetischen Narrators … tauchen in strukturalistischen, intentionalistischen, rezeptionstheo­

retischen, sozialgeschichtlichen und anderen Interpretationen auf.“299 (2) Die Anwendung narratologischer Kategorien auf einen Text charakterisiert sich über die Zielsetzung des Unterfangens als „deskriptiv“: „Beschreibungen sind Klassi-fikationsprozeduren. Sie versuchen zu klären, ob eine Textstruktur unter einen Begriff fällt, d. h., ob sie die Bedingungen erfüllt, die in der Definition des frag­

lichen Begriffs als notwendig (und hinreichend) angeführt werden.“300 Interpre­

tation richtet sich demgegenüber auf das „methodisch herbeigeführte Verstehen“

von Texten.301

6.3.2.2 Alternative Bestimmungen

Es soll an dieser Stelle zumindest in aller Kürze auf alternative Ansichten zum Verhältnis der Operationen Deskription und Interpretation von Texten – speziell narrativen Texten – hingewiesen werden. Eine Abweichung von der in dieser Arbeit eingenommenen Positionierung hat entsprechende Konsequenzen für den Umgang mit den paulinischen Briefen, die in der schlaglichtartigen Darstel­

lung und Diskussion der Optionen auch jeweils kurz festgehalten werden sollen.

Eine Offenlegung dieser möglichen Differenzen ist daher wichtig, um für die Möglichkeit zu sensibilisieren, dass in Auseinandersetzungen zu spezifischen

296 Kindt und Müller, „Interpretation,“ 289.

297 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 35.

298 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 35.

299 Kindt und Müller, „Interpretation,“ 294.

300 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 35. Hervorhebung nicht im Original.

301 Spree, „Interpretation,“ 168. Hervorhebung nicht im Original.

exegetischen Fragen letztlich unterschiedliche Verständnisse der Arbeitsweise zugrundeleliegen.

Eine erste Denkmöglichkeit302 bestünde darin, den narratologischen Zugang zu Erzähltexten strikt von elaborierteren Interpretationsansätzen zu unterschei­

den, allerdings gleichzeitig auf der Angemessenheit dieser Herangehensweise zu bestehen. Diese (1) „autonimistische“ Position würde es zulassen, eine narrato­

logische Analyse der Erzählungen bei Paulus allein aufgrund deren Status als erzählende Texte zu rechtfertigen. Da in dieser, vor allem mit dem „high struc­

turalism“ verbundenen, Position gerade die Unabhängigkeit von Interpretationen der Texte betont würde, wäre auch nicht sinnvoll von einem „Ertrag“ für eine interpretative Herangehensweise zu sprechen. Die Analyse der Erzählungen als Erzählungen bliebe von einer solchen Nutzenabwägung völlig unberührt, da sie ja gerade nicht als ein „interpretatives Werkzeug“ zu verstehen wäre.303

Diese Position könnte für Vertreter eines narrativen Ansatzes in der Pau­

lusforschung dahingehend verlockend sein, da damit die Existenzberechtigung allein an das Vorliegen von Erzählungen geknüpft wäre, nicht an das heuristi­

sche Potenzial. Eine solche Festlegung wäre jedoch teuer erkauft, denn es ist ja gerade das erklärte Ziel, durch die Fokussierung auf narrative Aspekte bei Paulus ein neues Textverstehen zu ermöglichen. Folgerichtig scheinen auch weder Hays noch Wright ihre Herangehensweise, trotz ihrer strukturalistischen Anleihen, auf diese Weise zu begründen (siehe oben, Abschnitt 6.2). Diese intuitiv empfundene stärkere Anbindung an die Textinterpretation entspricht auch der Wahrnehmung innerhalb der Literaturwissenschaften, weshalb die autonimistische Position ins­

gesamt kritisch zu betrachten ist.304

Insofern die Betonung der Eigenständigkeit von Interpretationsversuchen jedoch primär darauf hinweisen soll, dass beide Unterfangen nicht deckungs-gleich sind,305 verweist diese Verortung der Narratologie zumindest auf einen Umstand, der näheren Klärungsbedarf erfordert: Wenn Narratologie in irgend­

einer Weise mit Textinterpretationen verbunden werden kann – wie ist diese Ver­

bindung zu bestimmen? Diejenigen Narratologen, welche die erzähltheoretische

302 In dieser Bezeichnung wie auch in der Darstellung der Optionen und ihrer Bewertungen orientiere ich mich an der Arbeit von Kindt und Müller, „Narrative Theory and/or/as Theory of Interpretation.“

303 Vgl. Prince, „Narratology,“ 130.

304 Vgl. Kindt und Müller, „Narrative Theory,“ 209–210 zu dieser von ihnen als „‚radical‘ versi­

on“ der autonimistischen Position bezeichneten Meinung.

305 Kindt und Müller, „Narrative Theory,“ 210 sprechen hier von einer „moderaten“ autono­

mistischen Position und sehen große Übereinstimmungen zu ihrer eigenen Lokalisierung der Narratologie innerhalb der Textwissenschaften.

Arbeit in einem organischen Verhältnis zu Interpretationen von Texten sehen, unterscheiden sich in der Positionierung zu der Frage, ob die erzähltheoretische Analyse selbst bereits einen eigenständigen interpretativen Ansatz konstituiert oder zumindest konstituieren sollte.

Entwürfen, die dies bejahen, ist gemeinsam, dass sie den Standpunkt vertre­

ten, „that narrative theory should not confine its attention to the text themselves, but should also take account of their context.“306 Auch in dieser Sicht wäre daher der Wert einer narratologischen Analyse der Paulusbriefe nicht weiter begrün­

dungspflichtig – nicht als Alternative zur Interpretation (wie in der autonomis­

tischen Konzeption von Narratologie), sondern (2) als alternative Interpretation.

Es wurde oben (Abschnitt 6.3.1) bereits auf solche Forderungen hingewiesen, die Erzähltheorie in eine Interpretationstheorie umzubauen und auf das grundsätz­

liche Problem hingewiesen, dass interpretationsneutrale deskriptive Kategorien auf diese Weise unnötig von bestimmten Bedeutungskonzeptionen beschlag­

nahmt werden, wodurch der heuristische Wert der Erzähltheorie selbst im End­

effekt geschmälert wird. Worin besteht nun der genannte heuristische Wert der Narratologie, wenn man diese nicht als Alternative zur Interpretation oder alter­

native Interpretation begreift? Teilt man die bisherigen Überlegungen, so geht man davon aus, dass die Narratologie zu Interpretationen beitragen sollte, jedoch nicht die Voraussetzungen für das Verständnis des Textes insgesamt liefert.307 Wie dieser Beitrag aber nun genau aussieht, darin gehen die Meinungen wiede­

rum recht weit auseinander.

Die eine Gruppierung – insbesondere von Eco vertreten – gehen davon aus, dass die Narratologie eine Art (3) „Basisinterpretation“ eines Textes liefern könne, die dann im Rahmen unterschiedlicher Interpretationen weitergeführt werden könnte.308 Damit ist zugleich auch klar, dass die narratologische Aufgabe auch darin besteht, detailliertere Interpretationen zu prüfen (also dahingehend, ob sie mit der Basisinterpretation vereinbar sind).309 Auch für diesen Stand­

punkt gilt jedoch aufs Ganze gesehen die Kritik, welche bereits dem „kontext­

ualistischen“ Verständnis von Narratologie gegenüber vorgebracht wurde: Um Textinterpretationen bewerten zu können, ist es notwendig, Kategorien wie die des „impliziten Autors“ einzuführen.310 Dadurch kommt es jedoch wiederum zu einem Ausbau der Erzähltheorie, welche sie ihres Charakters als unproblemati­

306 Kindt und Müller, „Narrative Theory,“ 207.

307 Vgl. Kindt und Müller, „Narrative Theory,“ 207: Diese Position nehme an, „that narrative theory should contribute to interpretation but not supply the entire reading of a text.“

308 Vgl. etwa Eco, Lector. Siehe Kindt und Müller, „Narrative Theory,“ 207–208.

309 Kindt und Müller, „Narrative Theory,“ 208.

310 Kindt und Müller, „Narrative Theory,“ 211.

schen Bezugspunktes für Interpretationen im Rahmen unterschiedlicher Inter­

pretationstheorien beraubt.311

Damit bleibt (4) noch ein Verständnis von Narratologie, wie es dem im Rahmen des „low structuralism“ vertretenen entspricht: Kindt und Müller ver­

weisen etwa auf Stanzel, der von „discovery tools“ spricht312 und die Erzähl­

theorie als „Dienerin der Literaturkritik und Interpretation“ versteht313 und auf Genette, der im Hinblick auf seine eigene Herangehensweise von „eine[r] Entde­

ckungshilfe und ein[em] Werkzeug der Beschreibung“ spricht.314 Dies relativiert natürlich auch die Position der Erzähltheorie gegenüber umfassenderen Interpre­

tationen: Es ist in dem hier skizzierten Rahmen nicht möglich, bestehende Inter­

pretationen durch Verweis auf narratologische Kategorien zu „widerlegen“ – es können durch die narratologische Analyse allenfalls Bezugspunkte für die Dis­

kussion umfassender Interpretationen bereitgestellt werden.315

6.3.3 Implikationen für eine narratologische Betrachtung der Paulusbriefe

Im Dokument Christoph Heilig Paulus als Erzähler? (Seite 167-171)