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Prototypische Definition

Im Dokument Christoph Heilig Paulus als Erzähler? (Seite 119-125)

3 Das Konzept der ‚Erzählung‘

3.3  Prototypische Definition

Die Erzähltheorie ist sowohl historisch durch verschiedene Disziplinen geprägt als auch in der Gegenwart bleibend interdisziplinär angelegt (siehe dazu unten, Abschnitt 6).47 Vom Standpunkt der Semiotik – also der Zeichentheorie – aus

44 Im Sinne dessen, dass wir uns vor Augen halten müssen, dass unterschiedliche Definitionen eine unterschiedliche Menge Gegenstände einschließen können.

45 Adams, „Paul’s Story,“ 20.

46 Ryan „Definition,“ 22–23.

47 Einen guten Einblick in die gegenwärtige Perspektiven­Vielfalt bietet das Handbuch von Her­

man, Phelan, Rabinowitz, Richardson und Warhol, Narrative Theory, welches zu verschiedenen Kernkonzepten der Erzähltheorie Forscher/­innen aus unterschiedlichen Lagern zu Wort kom­

men lässt und eine Interaktion der Beitragenden ermöglicht.

ergibt sich jedoch am sinnvollsten ein systematischer Zugriff.48 Zumindest besteht bezüglich der Angemessenheit dieser hier als Ausgangspunkt festgelegten Pers­

pektive weitgehende Einigkeit:49

Most narratologists agree that narrative consists of material signs, the discourse, which convey a certain meaning (or content), the story, and fulfill a certain social function.

Die von Ryan angeführten Elemente entsprechen der Unterscheidung innerhalb der Semiotik, wie sie von Charles W. Morris50 – der seinerseits auf der Arbeit von Charles S. Peirce51 aufbaute – vorgenommen wurde, in die drei Bereiche Syntak­

tik,52 Semantik und Pragmatik. Sieht man von für die Praxis vorgenommenen Kategorisierungen zunächst ab und wendet sich direkt diesen Domänen zu, wird schnell deutlich, dass eine „einfache“ Definition des Narrativen problematischer ist, als dies zunächst den Anschein haben mag.

Ryan identifiziert die Syntaktik als problematischsten Bereich für eine Defi­

nition des Narrativen.53 Der Grund hierfür ist schnell einsichtig: Die Konzeption wird in der Regel für Zeichensysteme mit klar definierbaren Einheiten, die entspre­

chend spezifischer Regeln zu linearen Sequenzen angeordnet werden können, verwendet. Es ist jedoch nicht direkt einsichtig, worin diese narrativen Einheiten überhaupt bestehen sollten oder weshalb davon ausgegangen werden könnte, dass ihre Verkettung präzisen Regeln folgte. Die Tatsache, dass in der Vergangen­

heit solche Einheiten vorgeschlagen wurden (etwa die Aktanten von Greimas), kann letztlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir keine klare Ausgangslage vor uns haben, wie dies etwa im Hinblick auf die syntaktischen Grundkategorien der Grammatik (Substantive, Verben, Adjektive etc.) der Fall ist. Die Implikation für das definitorische Unterfangen ist grundlegend:54 „Eliminating syntax from the definition of narrative means that narrative discourse cannot be described as a specific configuration of purely formal elements.“ Weinrichs „Erzähltempora,“

von denen der „Werkstattbericht“ von Hoegen­Rohls ausgeht, liefern keine solche

48 Zur Einbettung des semiotischen Beitrags zur Erzähltheorie und dem Zusammenhang mit anderen Perspektiven vgl. den Abschnitt zu „Erzählung“ in Nöth, Semiotik, 400–409.

49 Ryan, „Definition,“ 24.

50 Morris, Zeichentheorie.

51 Siehe Atkin, „Signs“ für die Entwicklung der Vorstellungen Peirces. Zur Relevanz von Peirce für die Exegese im Generellen vergleiche die wissenschaftstheoretische Analyse von Heilig und Heilig, „Historical Methodology.“

52 Nicht unproblematisch als „Syntax“ bei Finnern, Narratology, 20.

53 Ryan, „Definition,“ 24. Die Problematisierung in diesem Abschnitt verdankt sich überwie­

gend der dort gebotenen Erörterung.

54 Ryan, „Definition,“ 24.

syntaktische Grundlage, da auch die „beschreibenden“ Tempora in Erzählwerken in unterschiedlichem Maß vertreten sein können.

Auch wenn die Syntaktik sich nicht als Ausgangsbasis für eine Definition von Narrativität nahelegt, wird in dieser Arbeit der Ausdrucksebene des Textes eine größere Rolle zugewiesen, als Ryan für sie vorsieht. Wie noch zu zeigen sein wird (siehe unten, Kapitel 6), lässt sich die in diesem Kapitel erarbeitete Defini­

tion von ‚Erzählung‘ im Hinblick auf die zu erwartende Textoberfläche explizie­

ren. Die formelle Gestaltung des Textes ist vom Inhalt nicht losgelöst. Es lassen sich vielmehr Korrelationen beobachten und teilweise auch recht weitreichende Beschränkungen.

Liefert die Pragmatik einen besseren Zugang? In der Tat wird teilweise argu­

mentiert,55 dass ein Text verschiedenen „Sprachspielen“ zugeführt werden kann.

Wie man im Rahmen der Sprechakttheorie davon ausgeht, dass dieselbe Proposi­

tion für verschiedene kommunikative Akte verwendet werden kann, so könnte es auch sein, dass eine „transkategoriale“ Leseweise von Texten auf der Grundlage der von den Benutzern festgelegten Regeln möglich würde. Ein solcher Ansatz würde dem narrativen Ansatz der Paulusforschung die Arbeit vermutlich gehörig erleichtern: Wenn Narrativität nicht am Text selbst festgemacht wird, spricht grundsätzlich nichts gegen die Behauptung, im historischen Kommunikations­

kontext seien die Briefe eben „als Erzählungen“ gelesen worden. Die Überprüfbar­

keit der identifizierten Erzählungen würde damit natürlich in weite Ferne rücken.

Wie Ryan jedoch aufzeigt,56 ist diese allein auf die Pragmatik konzentrierte Defi­

nitionsweise nicht unproblematisch. Die Lektüre eines generell als nicht­narrativ erachteten Textes als Erzählung stellt keinen passiven Rezeptionsprozess dar.

Vielmehr ist eine solche Lesart mit Transformation vieler essentieller Aspekte des in Frage stehenden Textes verbunden. Grundsätzlich steht etwa ein Kochrezept sehr nahe an der Kategorie der Erzählung, da es sich auch bei Erstgenanntem um eine „representation of a sequence of events“ handelt.57 Um einem solchen Text aber ein narratives Gepräge zu geben, müsste er dennoch recht grundlegend umgestaltet werden:58

[I]t would be necessary to imagine individuated participants, for instance a chef as agent and the patrons of his restaurant as beneficiary, give the agent a particular goal (acquire a third Michelin star), and assume that the events happened only once, instead of being endlessly repeatable.

55 Z. B. Rudrum, „Narrative Use.“

56 Ryan, „Definition,“ 25–26.

57 Ryan, „Definition,“ 25.

58 Ryan, „Definition,“ 25.

Umgekehrt muss eine Erzählung, um in eine Instruktion umgewandelt zu werden, der konkreten Intentionen ihrer Erzählfiguren beraubt werden (etwa Odysseus’

Ziel nach Ithaka zurückzukehren), und man müsste ein Protokoll, dass von beliebigen Agenten beliebig oft wiederholt werden kann, aus den geschilderten Ereignissen extrahieren. Der Inhalt „widersteht“ einem solchen Gebrauch offen­

sichtlich.59 Anstatt dass kommunikative Situationen die Narrativität eines Textes konstituieren, scheint es daher vielmehr so zu sein, dass entsprechende Kontexte einen Text erfordern, der davon unabhängig bereits „the abstract pattern consti­

tutive of narrativity“ erfüllt.“60

Worin besteht nun dieses abstrakte Muster der Narrativität? In Anbetracht der Schwierigkeiten der beiden genannten Zugänge und im Licht der augenfäl­

ligen Priorität der semantischen Ebene ist es nicht verwunderlich, dass es viele Vorschläge für Definitionen des Narrativen mit einem Schwerpunkt auf der Ebene der Semantik gegeben hat. Im neutestamentlichen Methodenbuch von Egger und Wilk kommt die „Narrative Analyse“ sogar explizit als Teil der „Semantischen Analyse“ zur Sprache.61

Das Argument für den semantischen Zugang lässt sich einfach aus den Schwächen der syntaktischen Herangehensweise ableiten: Das semantische System, das einem narrativen Text zu Grunde liegt, kann nicht unterschieden werden von dem System des Mediums, durch welches die Erzählung zum Aus­

druck kommt: „[I]t is because we know what words mean that we can make sense of written or oral stories, and it is because we know what images represent that we can make sense of a comic strip or a silent movie.“62 Da es also keine spezi­

fisch narrativen Zeichen zu geben scheint, ist es die Bedeutung, die der Text als Ganzes hervorruft, die für die Definition herangezogen werden muss.63 „Narra­

tive Semantik“ beschäftigt sich demzufolge mit der Beschreibung eines bestimm­

ten Typs mentaler Konstrukte.64

59 Ryan, „Definition,“ 26: „In both cases, the transcategorial reading requires the addition and subtraction of so many features that it becomes a demonstration ad absurdum of the resistance of content.“

60 Ryan, „Definition,“ 26.

61 Egger und Wick, Methodenlehre, 174–191. Wenn im Untertitel „Erzählung als Verknüpfung von Erzählelementen“ spezifiziert wird, sind damit wohl auch nicht spezifisch narrative For­

melemente, sondern semantische Entitäten gemeint.

62 Ryan, „Definition,“ 25. Hervorhebung nicht im Original.

63 Ryan, „Definition,“ 25: Man müsse fragen nach „the type of mental image that a text must evoke as a whole to be accepted as narrative.“

64 Ryan, „Definition,“ 25: „‚Narrative semantics,‘ in other words, is not a fixed relation between so­called ‚narrative signs‘ and their meanings, but the description of a certain type of cognitive construct.“

Vor diesem Hintergrund entwirft Ryan ihre eigene Definition der Kategorie

‚Erzählung.‘ Dafür fragt sie nach denjenigen Elementen, die in ihrem Zusammen­

spiel „the type of mental representation that we regard as a story“ ausmachten.65 Ryans Definition ist prototypisch angelegt, da die aufgestellte unscharfe Menge an Kriterien für Narrativität in bestimmten Erzählungen, die universell als solche anerkannt werden, in ihrer Gesamtheit verwirklicht sind, nicht aber notwendiger­

weise in allen Objekten, denen man in bestimmten Kontexten dennoch gerecht­

fertigt den Status als „narrativ“ zuerkennen könnte. Ryan schlägt konkret die fol­

genden in Abb. 2 wiedergegebenen immer strikter werdenden Bedingungen vor:

Räumliche Dimension 1. Das Narrative beschäftigt sich mit einer Welt, die von individuierten Existenzen bevölkert wird.

Zeitliche Dimension 2. Diese Welt muss in der Zeit angesiedelt sein und signifikante Transformationen durchlaufen.

3. Die Transformationen müssen durch nicht-gewöhnliche physische Ursachen erzeugt werden.

Mentale Dimension 4. Einige der Teilnehmer an den Ereignissen müssen intelligente Agenten sein, die ein mentales Leben aufweisen und emotional auf die Zustände der Welt reagieren.

5. Einige der Ereignisse müssen absichtliche Aktionen der Agenten sein.

Formale und pragmatische Dimension

6. Die Sequenz der Ereignisse muss eine einheitliche kausale Kette bilden und zu einem Abschluss führen.

7. Das Geschehen von zumindest einigen der Ereignisse muss als Tatsache in der Welt der Geschichte dargestellt werden.

8. Es muss etwas für die Empfängerschaft Bedeutsames kommuniziert werden.

Abb. 2: Kriterien einer prototypischen Definition für Narrativität.

Jede dieser Bedingungen zielt darauf ab, bestimmte Klassen an Repräsentationen von Inhalten auszuschließen, die zwar in Erzählungen vorkommen können, die aber nicht in der Lage sind, deren Narrativität zu konstituieren:66

65 Ryan, „Definition,“ 28.

66 Ryan, „Definition,“ 29.

1.  eliminiert Repräsentationen abstrakter Entitäten und Klassen konkreter Objekte (Szena­

rien, welche „die menschliche Rasse,“ „den Staat“ etc. involvieren).

2.  eliminiert statische Beschreibungen.

3.  eliminiert die Aufzählung sich wiederholender Ereignisse und Veränderungen, die durch natürliche Prozesse verursacht werden.

4.  eliminiert einmalige Szenarien, die nicht auf intelligente Teilnehmer zurückgreifen (Wet­

terberichte etc.).

5.  eliminiert in Kombination mit 3. Repräsentationen, die ausschließlich aus mentalen Ereignissen bestehen.

6.  eliminiert Listen von Ereignissen, die nicht kausal mit einander verbunden sind und Berichte von problemlösenden Aktionen, die das Resultat nicht beinhalten.

7.  eliminiert Rezepte sowie Texte die lediglich aus Ratschlägen, Hypothesen, Instruktionen und kontrafaktischen Szenarien bestehen.

8. eliminiert schlechte Geschichten.

Ein solcher prototypischer Zugang zum Narrativen erlaubt eine Unterscheidung verschiedener Grade an Narrativität. Für die Analyse bringt dies den Vorteil mit sich, dass eine oft schwierige binäre Entscheidung entfällt. Für die Paulusexe­

gese geht damit das verlockende Potenzial einher, dass auf diese Weise einfacher

„Kompromisse“ in der Einschätzung der paulinischen Briefe in verschiedenen Forschungstraditionen getroffen werden könnten: Der Römerbrief wäre demnach vielleicht als „weniger narrativ“ als das Markusevangelium einzuordnen, aber doch gehörig „narrativer“ als ein Mathematik­Schulbuch.

Zugleich – und von Ryan nicht weiter thematisiert – darf aber nicht ver­

gessen werden, dass auch die prototypische Grenzziehung einer Kategorie vor dem Problem der Abgrenzung an den Rändern steht. Schließlich muss geklärt werden, wo Elemente niedriger Erzählhaftigkeit in tatsächlich nicht­narrative Gegenstände übergehen. Auffällig ist etwa, dass Ryan die „grand narratives“67 vehement nicht als Erzählungen gelten lassen will. Sie könnten lediglich im metaphorischen Sinn als „narrativ“ bezeichnet werden, da sie die Dimension des Mentalen (Aspekt 4 und 5) komplett ausgrenzten.68 Diese Feststellung steht in einer Spannung dazu, dass Ryan ihre Liste an Bedingungen zuvor als „a toolkit for do­it­yourself definitions“ bezeichnet und einräumt, dass in der Wahrneh­

mung vieler ein Text über die Evolution (welcher lediglich Bedingungen 1–3 erfüllen würde) durchaus als Erzählung gelten könnte.69 Offenbar gibt es also durchaus Gegenstände, die Charakteristika mit Erzählungen teilen, die dennoch aber aus Sicht Ryans ihre prototypische Definition nicht erfüllen. Welche der

67 Vgl. dazu auch unten, Kapitel 15, Abschnitt 5.1.

68 Ryan, „Definition,“ 30.

69 Ryan, „Definition,“ 30.

Kriterien hierfür maßgeblich sind, kann natürlich selbst wiederum kontrovers diskutiert werden.

Abgesehen von dieser Schwierigkeit hat Ryans „fuzzy set“ an Kriterien aller­

dings auch durchaus Vorteile für die Praxis. Zum einen erlaubt es, die zugrunde­

liegenden Meinungsverschiedenheiten hinter pauschalen Urteilen wie „Das ist keine Erzählung!“ sichtbar zu machen. Selbst wenn man dem prototypischen Zugang daher nicht folgt und selbst von einer binären Unterteilung ausgeht, kann man vor diesem Hintergrund klarer benennen, welche Kriterien genau in der eigenen Sicht notwendige Bedingungen darstellen. Der im Vergleich zu anderen Entwürfen relativ umfangreiche Katalog an Eigenschaften ermöglicht dabei eine recht differenzierte Beschreibung des eigenen definitorischen Standpunktes.

Darüber hinaus weist Ryans Ansatz auch bereits über die klassifikatorische Fragestellung hinaus, da die von ihr identifizierten vier Dimensionen bereits ein Raster für die Beschreibung von Erzählungen liefern: So weist Science Fiction beispielsweise aufgrund der Ausgestaltung einer imaginären Welt einen Schwer­

punkt auf der räumlichen Dimension auf.70 Eine Definition, deren Bestandteile immer verwirklicht sein müssen, damit sie als anwendbar gelten kann, erlaubt eine solche Differenzierung zwischen verschiedenen Arten an Erzählungen dem­

gegenüber nicht. Hier muss vielmehr mit weiteren Beschreibungsparametern (Länge? Faktualität? Erzählebenen? Etc.) oder mit einer Spezifizierung der kons­

tituierenden Merkmale (Welche Art Ereignisse? Welche Art temporale Verknüp­

fung? Etc.) gearbeitet werden.

3.4 Äquivalenzdefinition(en)

Im Dokument Christoph Heilig Paulus als Erzähler? (Seite 119-125)