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Die Paulusbriefe als Teil einer Textsorte im frühchristlichen Kommunikationsbereich

2 Die mehrheitliche Skepsis

3  Eine textlinguistische Einordnung von Narrativität und Brieflichkeit

3.3  Die Paulusbriefe als Teil einer Textsorte im frühchristlichen Kommunikationsbereich

Im vorangehenden Abschnitt wurde skizziert, wie Textsorten in eine Klassifikation eingeordnet werden können, die sich an der Dominante des Kommunikationsbe­

reichs orientiert. Im Folgenden soll schlaglichtartig dargestellt werden, wie eine Verortung der Paulusbriefe vor dem Hintergrund dieses Rasters aussehen könnte.

Zunächst ist festzuhalten, dass es aus textlinguistischen Perspektive in einem ersten Schritt angezeigt wäre, den Untersuchungsgegenstand – die von Paulus verfassten Texte – vor dem Hintergrund des Kommunikationsbereichs zu betrachten, in welchen sie integriert sind. Ganz so, wie die „Heilige Schrift“ als Textsorte für das gesellschaftliche Teilsystem „Religion“ fungieren kann,102 sind schließlich auch die Schriften des Neuen Testaments in sehr konkreten Berei­

chen der Kommunikation entstanden. In diesem Sinn kann das frühe Christen­

tum, trotz aller Eigenständigkeit lokaler Gruppierungen, als Interaktionssystem betrachtet werden, die jeweilige Gemeinde vor Ort unter Umständen sogar als Organisation, also „Institution“ im sozialwissenschaftlichen Sinn.103

Konkrete frühchristliche Textexemplare lassen sich also über den Weg der systemtheoretische Beurteilung mit der textlinguistisch relevanten Ebene der Kommunikationsbereiche – und somit mit Textsorten – verbinden. Hier sollen nur einige Anknüpfungspunkte kurz angerissen werden, die verdeutlichen, wie gut die neutestamentlichen Texte in die auf Kommunikationsbereichen basie­

rende Textsorten­Klassifikation von Gansel und Jürgens integriert werden kann.

Von grundsätzlicher Bedeutung der verschiedenen Textsorten innerhalb104 des frühen Christentums ist die Erkenntnis der Systemtheorie, dass soziale

101 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 71.

102 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 76. Vgl. auch S. 74.

103  Siehe mit Bezug auf Kommunikationsbereiche Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 76.

104 Was die Interaktion über die Systemgrenzen hinaus angeht, wäre etwa das Phänomen der Intertextualität unter dem Gesichtspunkt der strukturellen Kopplung mit anderen – v. a. mit den frühjüdischen und römisch­imperialen (vgl. Heilig, Hidden Criticism?) – Systemen neu zu be­

trachten.

Systeme zur Aufrechterhaltung ihrer Existenz in steter Kommunikation sind.105 Auch wenn im Hinblick auf die paulinischen Gemeinden nicht von einer insti-tutionell konventionalisierten „Anschlusskommunikation“106 auszugehen ist – wie etwa die Textsorte Leserbrief im Bereich der Massenmedien den Textsorten Bericht oder Reportage folgt – so ist doch für unseren Gegenstand anwendbar, dass auch die paulinischen Briefe „andere Operationen gleichen Typs voraus[­

setzen], auf die sie reagieren und die sie stimulieren“ können.107 Die Charakteri­

sierung des den Paulusbriefen zugrundeliegenden Textsorten­Musters ist daher primär in Bezug auf diese Textsorten und nicht im inner­kanonischen Rahmen zu bestimmen.

Besonders einsichtig ist auch die Anwendbarkeit der für Textsorten typischen Eigenschaft, dass „sie nicht nur [durch] den Kommunikationsbereich determi­

niert [sind],“ sondern sie ihn gleichfalls auch „konstituieren.“108 Der umstrittene Finalsatz in Joh 20,31 drängt sich in diesem Zusammenhang geradezu als Refe­

renzpunkt auf, da er die Textfunktion des Werkes explizit macht (auch wenn diese u. a. aufgrund der textkritischen Unsicherheiten gerade strittig ist): Ist der Zweck des Evangeliums, Wachstum im bestehenden Glauben zu bewirken oder soll es sogar erst zu diesem Glauben führen?109

Die Paulusbriefe haben zweifelsfrei ebenfalls das Ziel, zum Erhalt und Gedeihen des sozialen Systems der christlichen Gemeinden beizutragen.110 Pau­

lusbriefe sind nicht einfach nur Briefe, wie sie in den paulinischen Gemeinden gelesen werden – paulinische Gemeinden sind auch darüber konstituiert, dass Briefe des Apostels Paulus hier eine wichtige Rolle spielen. Es kann jedoch noch eine fundamentalere „Kerntextsorte“ bestimmt werden: Wie die von Gansel und Jürgens angeführte (sehr grob gefasste) Textsorte „Heilige Schrift“ das soziale Teilsystem „Religion“ konstituiert, so könnte man in Bezug auf die frühchristli­

chen Gemeinden sehr viel konkreter von der evangelistischen Verkündigung als grundlegender Kerntextsorte sprechen, von welcher aus sich diverse Anschluss­

kommunikationen ergeben, die (im Fall der regelmäßig stattfindenden Gottes­

dienste) schon bald institutionalisiert bzw. – zumindest im Hinblick auf die

105 Berghaus, Luhmann, 97.

106 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 78.

107 Luhmann, Gesellschaft, 190. Vgl. etwa 1. Kor 11,18 und 2. Thess 3,1.

108 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 70.

109 ταῦτα δὲ γέγραπται ἵνα πιστεύ[σ]ητε ὅτι Ἰησοῦς ἐστιν ὁ χριστὸς ὁ υἱὸς τοῦ θεου: „Diese [Zeichen] sind geschrieben, damit ihr glaubt/zum Glauben kommt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes.“

110 Teilweise ist auch terminologisch vom „Schreiben“ mit einer expliziten Zweckangabe die Rede, wobei dann auch sehr konkrete kommunikative Ziele angesprochen sein können.

Vgl. 2. Kor 2,3.4.9, 13,10.

Kommunikation zwischen Paulus und den von ihm gegründeten Gemeinden – konventionalisiert waren.

Für die präzise funktionale Einordnung der Textsorte, welcher die Pau­

lusbriefe zuzuschreiben sind, ergeben sich verschiedene Möglichkeiten, die von Annahmen über die soziale Struktur des frühen Christentums verbunden sind. Paulus ist sicherlich nicht die einzige Figur, die in der Anfangszeit der christlichen Gemeinden vom Medium des Briefes Gebrauch macht, um inner­

halb des Systems unterschiedliche kommunikative Funktionen zu realisie­

ren (vgl. zentral z. B. Apg 15,30; vgl. auch für „Empfehlungsbriefe“ ἐπιστολαὶ συστατικῶν 2. Kor 3,1). Und auch Paulus wird Briefe geschrieben haben, die an ganz anderer Stelle der Systematik frühchristlicher Textsorten einzuordnen sind (vgl. 1. Kor 16,3).

Der (oft erzählende!) Rückbezug auf die Gründungszeit der Gemeinde bietet sich als Bezugspunkt für die Bestimmung der Paulusbriefe als Anschlusskom­

munikation an die mündliche Verkündigung und Unterweisung der Gemeinde an. Fasst man die in diesem situativen Bereich entstandenen Briefe des Paulus als einer eigenen Textsorte zugehörig auf, würden der an eine nicht von Paulus gegründete Gemeinde gerichtete Römerbrief und der eventuell als Rundschrei­

ben konzipierte Epheserbrief eine eigene Textsorte konstituieren.

Man kann allerdings auch die vom Apostel in diesen Briefen in Anspruch genommene Autorität gegenüber auch den von ihm nicht selbst gegründeten Gemeinden als Basiskriterium der Situation verstehen, in welcher die Schriften der Textsorte „apostolischer Brief“ zu verorten sind. Die unterschiedlichen kon­

kreten Verhältnisse in den Gemeinden würden dann unterschiedliche situativ bedingte Ausgestaltungen des Musters bewirken, die an Individuen gerichteten Pastoralbriefe (wohl aber nicht der Philemonbrief; V. 2) könnten als Textsorten­

variante verstanden werden.

Eine Integration der Textsorte des apostolischen Briefs (der uns überwiegend in Form der Paulusbriefe überliefert ist) in eine hierarchische Textklassifikation ließe sich dann annäherungsweise wie folgt in Abb. 1 durchführen:111

111 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 71 differenzieren innerhalb der Ordnung „Journalismus“

entsprechend verschiedener Funktionen zwischen den Familien „Informations­, Meinungs­ und Unterhaltungstexte.“ Die relevanten Textfunktionen ergeben sich folglich aus den tatsächli­

chen pragmatischen Anforderungen des Gesamtsystems. Auf das Frühchristentum könnte man daher von den konkreten Texten ausgehend zwischen einer auf die Etablierung von christlichen Gemeinschaften („evangelistischen“), einer auf deren Aufrechterhaltung (im weitesten Sinne

„paränetischen“) und einer auf die Verteidigung des Systems nach außen abzielenden („apolo­

getischen“) Familie unterscheiden.

Hierarchiestufe Textsortenklassifikation

Textklasse Frühchristliche Texte

Textordnung Texte aus dem Bereich der apostolischen Verkündigung Textfamilie Texte zur Aufrechterhaltung des Systems

Textsorte Apostolischer Brief

Textsortenvariation Gemeindebrief, Brief an Individuen Abb. 1:  Annäherungsweise Klassfikation frühchristlicher Textsorten.

Auch andere frühchristliche Texte ließen sich in dieses System integrieren, wobei uns die meisten Textsorten, welche das soziale System konstituierten und damit den Kommunikationsbereich prägten, vermutlich verloren gegangen sind.

Es wäre eine lohnenswerte Aufgabe, auf der Grundlage des überlebt habenden Datenmaterials und vergleichbarer sozialer Systeme Anschlusskommunikati­

onen und strukturelle Kopplungen zu erarbeiten, mit denen gerechnet werden kann, und das resultierende Netz an Textsorten in eine solche hierarchische Klas­

sifikation einzuordnen.

Diese Vergleichbarkeit hat natürlich ihre Grenzen. Eine Arbeit, die sich speziell auf den Vergleich analoger sozialer Netzwerke bezieht, ist etwa der Vorschlag von Hanges, Paulus vor dem Hinter-grund antiker „Kult-Gründer“ zu verstehen.112 Die Briefe selbst stellen hierbei bereits ein untypi-sches Element, eine „novel strategy in itself,“113 dar, da Paulus anders als andere Gründer nicht dauerhaft vor Ort blieb. Die aufs Ganze gesehen ähnliche Konstellation der einzelnen Beteiligten erlaubt es jedoch, Überlegungen zur Rolle verschiedener schriftlicher Instruktionen innerhalb dieses sozialen Systems anzustellen.114

Eine Differenzierung innerhalb des corpus Paulinum, welche ebenfalls bei der weiteren Entfaltung dieser Systematik zu bedenken wäre, hier jedoch nur am Rande gestreift werden kann, wäre wohl auch im Hinblick auf die Unterschei­

dung authentischer und pseudepigrapher Paulusbriefe angezeigt.

Unabhängig davon, wie konsequent das Muster in letzteren übernommen wird, ist im Rahmen eines integrativen Textverständnisses hier doch von einer

112 Hanges, Paul.

113 Hanges, Paul, 416.

114 Hanges, Paul, 416–433.

eigenen Textsorte zu sprechen. Es liegt gewissermaßen der umgekehrte Fall der durch mehrere Muster realisierten rektoralen Antrittsrede (s. o.) vor, da hier „die kontextuellen, äußeren Bedingungen“ gerade nicht konstant bleiben. Wie genau die „spezifische Leistung“ pseudepigrapher Briefe für das soziale System der frühchristlichen Gemeinden zu bestimmen ist, hängt freilich von Grundannah­

men über das Wesen der Verfasserfiktion ab.115 Die Beobachtungen zu Kontinuität und Diskontinuität im Hinblick auf das ursprüngliche Muster der Textsorte sind entsprechend der situativen Grundannahmen ganz unterschiedlich auszuwer­

ten.116 Im Rahmen dieser Arbeit kann dieser Frage nicht nachgegangen werden, die hier zusammengetragenen Bausteine lassen sich jedoch in zukünftigen Arbei­

ten unter dieser Fragestellung auswerten.

Ebenso kann hier die historische Entwicklung des zugrundeliegenden Musters nicht abschließend geklärt werden. Dies gilt sowohl für die Frage nach der Über­

nahme bestehender Brieftextsorten­Muster(­Bausteine) als auch die Frage, inwie­

fern sich das Muster im Laufe des paulinischen Dienstes – evtl. angesichts variie­

render Umstände aber auch schlicht „durch kognitiv und kommunikativ reflexives Handeln“ – verändert haben könnten und wie das Muster nach dem Tod des Apos­

tels aufgrund von situativen117 beziehungsweise auch funktionalen118 Weiterent­

wicklungen variiert worden sein könnte. Auch die Konsolidierung im Rahmen der „reflexiven Verwendung von bekannten Textmustern“ ist als Möglichkeit zu bedenken.119 Wo sich die Diachronie betreffende Einzelbeobachtungen aufdrän­

gen, werden diese im Laufe der Arbeit angemerkt, eine systematische Auswertung (welche entsprechend Rücksicht auf die Entwicklung des sozialen Systems im ersten Jahrhundert nimmt) muss jedoch aus Platzgründen an anderer Stelle erfolgen.