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Das Gattungsverständnis in der neutestamentlichen Exegese

2 Die mehrheitliche Skepsis

2.2  Limitierende Faktoren 2.2.1 Die kanonische Perspektive

2.2.3  Das Gattungsverständnis in der neutestamentlichen Exegese

Nun stellt Stamps’ Einführung nicht nur dadurch eine Ausnahme dar, dass er die beiden Ansätze der rhetorischen und narrativen Kritik vergleichend bespricht, sondern auch dahingehend, dass er als einer der wenigen Autoren die Frage der Anwendbarkeit auf jeweils andere „genres in the biblical corpus“ überhaupt auf­

wirft.38 Doch selbst hier zeigt sich, dass die Fragestellung nach narrativen Zugän­

gen zu den neutestamentlichen Briefen aufs Engste verbunden bleibt mit der impliziten Abgrenzung vom durch Evangelien und Apostelgeschichte gebildeten Konglomerat und der gängigen Differenzierung im methodischen Zugriff:39

The exegetical question persists: should rhetorical criticism be applied to narrative texts which are far more removed from speeches than even the didactic epistles? … A similar concern applies to narrative criticism. As would be expected, most narrative criticism has been applied to the Gospels. Can narrative criticism be applied to New Testament epistles?

Wenn Stamps von den „different genres in the biblical corpus“ spricht, so bindet er die Differenzierung von narrativer und rhetorischer Analyse zurück an Unterteilungen des neutestamentlichen Kanons, in welchen die Briefe in einem disparaten Verhältnis zu „narrativen“ Texten zu stehen kommen. Damit referiert er aber nicht nur auf die oben angesprochene intuitive Taxonomie neutestamentlicher Schriften, sondern auch auf einen durchaus ausgeprägten innerdisziplinären Diskurs zum Konzept der ‚Gattung.‘40 Vor dem Hintergrund der literaturwissenschaftlichen Trias von Lyrik, Dramatik und Epik liegt die Ver­

mutung nahe, dass die Rede von „Gattungen“ die Frage nach dem Wesen der Narrativität und damit deren Vereinbarkeit mit dem Medium des Briefes evo­

ziert haben könnte.

Die Entwicklung des Gattungsverständnisses in der neutestamentlichen Wis­

senschaft unterlag jedoch seinen ganz eigenen Dynamiken. Den verschiedenen Spielarten der sogenannten „Gattungsanalyse“ innerhalb der neutestamentli­

chen Wissenschaft ist das Anliegen gemein, die Texte des Neuen Testaments zu kategorisieren und auf diese Weise bestehende Konventionen der Textproduk­

tion für ihr Verständnis nutzbar zu machen. Forschungsgeschichtlich ist aber festzuhalten, dass dieser interpretative Mehrwert in der Anfangsphase vorwie­

gend darin gesehen wurde, die mündliche Vorstufe eines Textes und die anhand

38 Stamps, „Criticism,“ 233.

39 Stamps, „Criticism,“ 233.

40 Zur Praxis und dem linguistischen Hintergrund der hier verwendeten Anführungszeichen siehe unten, Kapitel 3, Abschnitt 2.

„untypischer“ Merkmale erkennbare spätere Veränderung zu identifizieren.41 Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass der Fokus innerhalb der neutestament­

lichen Wissenschaft zunächst darauf lag, ausgehend von der formalen Ebene des Textes, seiner „Form“ im Singular (d. h. der ‚Summe der stilistischen, syntakti­

schen und strukturellen Merkmale … seiner sprachlichen Gestalt‘),42 bestimmte

„Formen“ im Plural (wobei das Konzept der ‚Form‘ als abgrenzbare Erscheinung auf dieser Ebene gemeint ist) zu identifizieren, aus denen sich größere Textkom­

plexe zusammensetzen.43 Auch neuere Studien stehen noch in dieser Traditions­

linie, auch wenn die erzielten Ergebnisse oft in ganz andere Richtungen weisen, wie etwa im Fall der von Kiffiak vorgelegten Studie zum Formelement der „Ant­

worten“ im Fall der Gattung von Wundergeschichten.44 Dieser zum Großteil auf die Evangelien gerichtete Fokus45 setzt folglich auf einer sehr konkreten Ebene an – die wesentlich spezifischer ist, als diejenige, auf welcher die Frage nach der Vereinbarkeit von Narrativität und Briefliteratur aufgeworfen werden könnte.

Das Interesse in der gegenwärtigen Forschung beschränkt sich jedoch nicht mehr nur auf die Frage mündlicher Vorstufen und deren Sitz im Leben. Bei der Gattungsanalyse handelt es sich zunehmend auch um eine klassifizierende Ope­

ration auf der Ebene der Endform von Texten.46 Der Fokus verschiebt sich dabei von textlichen Einzelphänomenen wieder auf eine höhere Ebene der Texthier­

archie und es wird diskutiert, wie sich „übergeordnete Gattung[en]“ aus kleine­

ren Gattungen zusammensetzten, die etwa auch als „Formelemente“ bezeichnet

41 Siehe mit Verweis auf die zugrundeliegenden Konzeption von ‚Form‘: Berger, Formen und Gattungen, 8–9.

42 Berger, Formgeschichte, 9.

43 Die unterschiedlichen Bedeutungen des Ausdrucks „Form“ werden leider in der Literatur oft nicht sauber auseinandergehalten bzw. präzise aufeinander bezogen. Ein Beispiel ist der Auftakt­Absatz in Berger, Formen und Gattungen, 1: „‚Form‘ ist die Summe der sprachlichen Merkmale eines Textes … Auf den ersten Blick als besonders erkennbar sind die hymnischen Formen (‚Lieder‘ etc), aber auch an bestimmten verbalen Signalen erkennbare Formen wie die

‚Würdig‘­Rufe (Akklamationen).“ Dieses Nebeneinander ist besonders insofern erstaunlich, da Berger später (S. 9–10) in Anknüpfung an und Abgrenzung zu Overbeck das Konzept der ‚Form‘

explizit definiert als die „individuelle Gestalt“ (siehe S. 7) „auch kleinere[r] Einheiten“ und damit zwischen der (individuellen) Form eines Textes und (generalisierenden) Gattungen unterschei­

det (siehe S. 10).

44 Kiffiak, Responses.

45 Siehe aber z. B. auch schon früh Dibelius, „Formgeschichte“ zu Texten „außerhalb der Evan­

gelien.“

46 In methodischen Einführungen wird diese forschungsgeschichtliche Entwicklung leider oft nicht ausreichend nachgezeichnet, obwohl sie entscheidend für das Verständnis dieser Konzep­

tion in der neutestamentlichen Forschung im Vergleich zu anderen Disziplinen ist. Siehe vorbild­

lich Söding und Münch, Methodenlehre, 77.

werden.47 Entscheidend ist für unsere Fragestellung, dass das größte in den Blick genommene Element nicht mehr ein Einzelelement der Gesamtgestalt eines Textes ist, sondern dieser Text selbst.

Gerade im englischsprachigen Raum ist eine solche Konzentration auf die Schriften als Ganzes auszumachen. Diese Verschiebung des Fokus führt dazu, dass Einheiten, welche früher als „Gattungen“ (engl. „genres“) charakterisiert wurden (z. B. Gleichnisse), nun als „Formen“ (engl. „forms“) in der Diskussion auftreten, welche als die jeweiligen Gattungen konstituierend aufgefasst werden.48 (Alterna­

tiv wird zwischen beiden Bezeichnungen auch dahingehend differenziert, dass die

„Form“ die spezifische Konfiguration eines allgemeineren Musters – „Gattung“ – im konkreten, kontextgeprägten Text darstellt.)49

Die Grenzziehung der besagten „Großgattungen“50 verläuft nun wiederum entlang der kanonischen Unterteilung in Evangelium, Apostelgeschichte, Brief und Offenbarung.51 Die Einführung von Brook W. R. Pearson und Stanley E. Porter verdeutlicht diesen breiteren Fokus mustergültig: Nach einleitenden Definitionen diskutieren die Autoren die „Genres of the New Testament.“52 Dabei gehen sie von der klassischen Einteilung des neutestamentlichen Kanons aus und diffe­

renzieren zwischen „Gospels,“ „Acts,“ „Pauline Letters and Other Letters“ und

„Revelation.“ Es handelt sich hierbei um eine Taxonomie, deren Unterteilung sich an einem sehr begrenzten Gegenstandsbereich orientiert. Da die Diskonti­

nuitäten und Kontinuitäten zwischen z. B. Markus­ und Johannesevangelium auf der einen und Römer­ und Hebräerbrief auf der anderen Seite offensichtlich sind, entstehen keine Demarkationsprobleme. Entsprechend ist auch keine Diskussion über Differenzierungskriterien zu führen und die Frage, wie sich die einzelnen Schriften zu Parametern wie der Narrativität verhalten, ist schlicht nicht relevant.

(Anders sähe es freilich aus, wenn eine größere Anzahl Schriften miteinbezogen würde und Grenzziehungen dadurch erschwert und präziserer Rechtfertigung bedürfend würden.) Narrativität bleibt hier allerdings nicht nur außen vor, sie gerät vielmehr auch unter dieser Betrachtungsweise wieder indirekt in ein dispa­

rates Verhältnis zur „Großgattung Brief.“ Denn dadurch, dass nun einige dieser Gattungen („Evangelium“ und „Apostelgeschichte“) als typische Erzählungen wahrgenommen werden, wird Narrativität unter der Hand a posteriori doch zu einer Art Übergattungs­Kriterium.

47 So Söding und Münch, Methodenlehre, 76.

48 Siehe Pearson und Porter, „Genres,“ 134.

49 Vgl. Dormeyer, „Formen/Gattungen: III. Neues Testament,“ 190.

50 So z. B. Dormeyer, „Formen/Gattungen: III. Neues Testament,“ 194.

51 So die Einteilung etwa bei Söding und Münch, Methodenlehre 2005, 76.

52 Pearson und Porter, „Genres,“ 137–161.

Die Spezialisierung der Forschung auf einzelne Großgattungen lässt natür­

lich durchaus Raum für die Frage, ob Narrativität mit dem Medium des Briefes vereinbar oder für dieses sogar von zentraler Bedeutung sein könnte. Denn gerade dadurch, dass sich zwischen den Erzählwerken des Neuen Testaments und seinen Briefen kein Abgrenzungsproblem ergibt, besteht die eigentliche Aufgabe der Gattungsanalyse nicht in der Klassifikation, sondern in der mög­

lichst präzisen Beschreibung der einzelnen Kategorien.

In der Regel wird dieser Diskurs jedoch unter anderen Vorzeichen geführt.

Die einzelnen Großgattungen werden nicht über ihr Verhältnis zu abstrakten lin­

guistischen Parametern näher bestimmt, sondern über ihre Beziehung zu zeit­

genössischen literarischen Gattungen. Instruktiv ist, mit welcher Formulierung Pearson und Porter die Beschreibungen der besagten neutestamentlichen Text­

kategorien einleiten: „Acts as a Romance or Novel,“ „Acts as a Travel Narrative or Sea Voyage,“ „Acts as History“ etc.53

Gegenüber den Anfängen der Formgeschichte kommt der Kategorie des Briefs im Neuen Testament nun also durchaus eine Betrachtungsweise zugute, die über Einzelelemente (z. B. den gottesdienstlichen Kontext verratende Hymnen, Bekenntnisformeln, etc.) hinausgeht. Dafür gehen die aufgeworfenen Fragen letztlich völlig in der Disziplin der Epistolographie auf. Thematisiert wird folg­

lich vor allem die in der Umwelt übliche formale Gestaltung von Briefen sowie etwaige erkennbare Unterteilungen (etwa in Briefe und Epistel).54

Trotz des aufgrund des Vergleichsmaterials recht breit eingestellten Fokus, bewirken die konkret anzutreffenden Phänomene der Textgestaltung eines relativ begrenzten Datenpools eine Limitation der Fragestellungen. Die Frage, welche Rolle dem Narrativen für die Textproduktion der Paulusbriefe zukommen könnte, kommt auch auf diese Weise nicht in den Blick. Lediglich aufgrund von Besonderheiten einzelner Unterkategorien des antiken Briefs kommt Narrativität überhaupt in den Fokus.55

2.3 Zwischenfazit

Die Frage, ob Paulus als Erzähler gelten könne, wird in weiten Teilen der neu­

testamentlichen Wissenschaft nicht verneint – sondern gar nicht erst gestellt.

53 Pearson und Porter, „Genres,“ 144–148.

54 So auch Pearson und Porter, „Genres,“ 148–155.

55 Etwa, wenn Döring, Ancient Jewish Letters, 512 in der Analyse antiker jüdischer Briefe auf Be­

züge auf ein heilsgeschichtliches „meta­narrative“ stößt. Siehe zu dieser Arbeit unten, Kapitel 2, Abschnitt 1. Vgl. auch Hodkinson, Rosenmeyer und Bracke, Hg., Epistolary Narratives.

Einen nicht unerheblichen Anteil an diesem Desinteresse gegenüber etwaigen Erzählungen bei Paulus scheint dem Umstand zuzukommen, dass die Schriften des Apostels als Briefe im kanonischen Kontext klar erkennbaren Erzählwerken gegenübertreten.

Im Rahmen der Gattungsanalyse finden die paulinischen Briefe zwar durchaus einen prominenten Platz, jedoch ist auch hier der Diskurs durch die kanonische Vorgabe und den impliziten Kontrast zwischen „narrativen und nicht­narrativen Großgattungen“ geprägt, sodass auch hier keine nennenswerte Auseinandersetzung mit denjenigen Fragen erfolgt, welche für einer begründete Ablehnung des „narrative approach“ zu berücksichtigen wären.

Die methodische Zweiteilung von „narrative criticism“ für die Übergattun­

gen Evangelien und Apostelgeschichte auf der einen Seite und „rhetorical criti­

cism“ für die Briefe auf der anderen Seite hat noch weiter dazu beigetragen, die im ersten Fall angestellten Überlegungen von den paulinischen Schriften fernzu­

halten. Im traditionellen Rahmen der Briefauslegung kommt der Kategorie der Erzählung daher überhaupt nur insofern Aufmerksamkeit zu, als diese als antike Kategorie der Rhetorik, als narratio, auftritt.

3  Eine textlinguistische Einordnung von Narrativität und