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Explizite Erzählungen im Rahmen des narrativen und narratologischen Ansatzes

Im Dokument Christoph Heilig Paulus als Erzähler? (Seite 101-108)

2 Die mehrheitliche Skepsis

4  Die Relevanz expliziter Erzählungen für den „narrative approach“

4.3  Explizite Erzählungen als Ausgangspunkt der Evaluierung eines narratologischen Ansatzes der Paulusexegese

4.3.3  Explizite Erzählungen im Rahmen des narrativen und narratologischen Ansatzes

Im letzten Abschnitt wurde argumentiert, dass die hier angestrebte Berücksichti­

gung der gesamten Bandbreite erzählerischer Elemente bei Paulus – einschließ-lich der expliziten Erzählungen – in einem organischen Verhältnis zum Anliegen von Hays und Wright steht, dass nämlich deren Betonung spezifischer narrativer Strukturen unauflösbar mit einer Fokussierung auf Narrativität insgesamt ver­

bunden ist und dass folglich auch jene Passagen von Interesse sind, in denen Paulus explizit erzählt. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, festzuhalten, dass die sorgfältige Analyse expliziter Erzählungen bei Paulus nicht in einem „Kon­

kurrenzverhältnis“ zum „narrative approach“ steht.

Es kann nämlich, erstens, nur im Interesse eines solchen Ansatzes selbst sein, auf der Grundlage unumstrittenen Datenmaterials möglichst viel über die Charakteristika des erzählenden Paulus in Erfahrung zu bringen, um vor diesem Hintergrund andere, schwieriger zu beurteilende Texte auf ihren erzählerischen Gehalt hin abzuklopfen.

Zweitens sollten Vertreter/­innen des narrativen Ansatzes sich vor Augen halten, dass die Beschäftigung mit expliziten Erzählungen nicht nur einen Erkenntnisgewinn für die eigene exegetische Arbeit verspricht, sondern auch im Hinblick auf das Gespräch mit Kritikern von Relevanz ist: Insofern nämlich anhand leicht zugänglicher Erzählungen gezeigt werden kann, dass die Vertex­

tungsstrategie des Erzählens keineswegs eine Ausnahmeerscheinung in der Peri­

pherie des paulinischen Briefschreibens darstellt, sondern damit vielmehr ein zentrales Element der Textproduktion des Apostels erfasst wird, steht die These von impliziten Narrativen nicht mehr so diskontinuierlich im Raum (etwa als Gegenentwurf zum Fokus auf „Ideen“ etc.; siehe dazu auch unten, Kapitel 15).

Vielmehr präsentierte sie sich dann als naheliegende Anschlussfrage: Wenn Paulus häufig explizit als Erzähler aufträte, müssten wir uns zwangsläufig der Frage stellen, wo die Grenzen zum Nicht­Narrativen zu ziehen sind und ob diese tatsächlich so klar verlaufen, wie häufig angenommen wird.

Allerdings gilt auch: Zwar sollten Vertreter des narrativen Ansatzes aus den genannten Gründen einem Einschluss der expliziten Erzählungen zur Menge des Untersuchungsgegenstandes positiv gegenüber stehen, es ist andererseits aller­

dings durchaus verständlich, wenn die hier vorgenommene prioritäre Behand­

lung solcher erzählerischer Elemente mit Unbehagen wahrgenommen wird. Was, wenn die strikte Anwendung narratologischer Kategorien nicht mehr zu identifi­

zieren zulässt als – noch dazu vielleicht sogar nur wenige – explizite Erzählun­

gen? Dann stünde die narratologische Herangehensweise in der Tat im Konflikt mit dem narrativen Ansatz, wie er sich im Gefolge von Hays und Wright herausgebil­

det hat. Jedoch scheint es unausweichlich, sich dieser „Gefährdung“ zu stellen,

sofern die Rede von „stories“ und „narratives“ einen mehr als prätheoretischen Gehalt haben soll.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, sollte auch noch der im letzten Abschnitt angerissene Aspekt der „Priorität“ expliziter Erzählungen präzisiert werden. Es ist damit in diesem Kontext ausschließlich eine forschungs-pragmatische Überlegung gekennzeichnet: Wenn wir schon in Bezug auf Paulus, aus welchen Gründen auch immer, über „Erzählungen“ sprechen, scheint es schlicht sinnvoll, dabei zunächst (a) von einem etablierten Konzept der ‚Erzäh­

lung‘ auszugehen und (b) in einem ersten Schritt diejenigen Elemente in den Blick zu nehmen, welche am eindeutigsten dieser Kategorie entsprechen. Mit dem Festhalten an dieser Frage als für den narrativen Ansatz von entscheidender Wichtigkeit soll zweierlei aber nicht bestritten werden:

(1) Zum einen unterstellt diese Überlegung zum Ausbau des narrativen Ansat­

zes als Forschungsprogramm nicht, dass der Einstieg in die Thematik, wie er sich forschungsgeschichtlich ergab, ein „Fehler“ war. Es wird also, in anderen Worten, nicht die anmaßende Behauptung vertreten, die frühen Beiträge von Hays und Wright mit ihrem spezifischen Gepräge wären nur dann valide gewesen, wenn sie aus dem Anliegen hervorgegangen wären, eine erzählthe­

oretische Perspektive möglichst umfassend auf die Paulusbriefe übertragen zu wollen.

Wie an anderer Stelle ausführlich dargelegt,158 hat es abduktive Hypo-thesenbildung an sich, dass sie aus dem Empfinden einer unbefriedigenden Erklärungskraft des herrschenden Paradigmas neue Wege einzuschlagen anregt. Dass diese in ihrer Reichweite und Form notwendigerweise von den Hindernissen geprägt sind, welche sie zu überwinden versuchen, ist daher kein vermeidbarer Makel, sondern liegt in der Natur der Sache. Zugleich ist es im Fortgang der Forschung jedoch unerlässlich, dass diese situationsbe­

dingte Gestalt auch als solche wahrgenommen und in kritischer und theorie­

gestützter Reflexion und unter Einbezug der sich als relevant herausstellen­

den Daten in eine stabilere Form gebracht wird.

Die Priorität, die in dieser Arbeit expliziten Erzählungen aufgrund der gewählten grundsätzlichen narratologischen Perspektive eingeräumt wird, impliziert damit nicht, dass das Postulat von „Erzählungen“ als die Pau­

lusbriefe erhellende Kategorie in ihrer Anfangsphase in diesem Sinn hätte verstanden werden müssen. Vielmehr ist es der Zweck dieses Kapitels zu betonen, dass zum heutigen Zeitpunkt eine Evaluation des narrativen Ansat­

zes angemessen nur dann durchgeführt werden kann, wenn eine umfassende

158 Heilig und Heilig, „Historical Methodology.“

Betrachtungsweise gewählt wird: Aufgrund der Beiträge von Hays und Wright zu spezifischen narrativen Strukturen hat sich die Kategorie des Narrativen in den Vordergrund gedrängt – und als zentraler Gegenstand der Erzähltheo­

rie bedarf sie daher nun auch einer entsprechend allgemeinen Betrachtungs­

weise.

(2) Zum anderen beinhaltet der Vorschlag, eine Evaluation des bestehenden nar­

rativen Ansatzes mit der Analyse expliziter Erzählungen beginnen zu lassen – ein Vorschlag, der wie gesagt auf der Hand liegt, wenn erstmal die etablierte Terminologie als dem Bereich der Erzähltheorie zugehörig erkannt wird – auch nicht, dass damit bereits die Kontur des möglicherweise zu gewinnen­

den Ertrags vorgegeben wäre.

Es ist durchaus nicht gesagt, dass eine Synthese der narratologischen Untersuchungen zu Paulus ergibt, dass er uns als Erzähler vor allem (d. h.

entweder quantitativ betrachtet oder im Sinne einer „reinsten Form“) in seinen expliziten Erzählungen gegenübertritt. Es ist also durchaus möglich, dass die Forschung im Endresultat Paulus als Erzähler gerade doch über die von Hays und Wright von Anfang an in den Mittelpunkt der Aufmerksam­

keit gerückten impliziten Erzählstrukturen definieren könnte. Nur gilt, dass dieses Resultat letztlich nicht unter Absehung der expliziten Erzählungen erzielt werden kann, sondern dass jenes vielmehr voraussetzt, dass diese sorgfältig analysiert und dann in Bezug auf andere narrative Strukturen – die weniger klar identifizierbar sind oder denen ein erweitertes Konzept von

‚Erzählung‘ zu Grunde liegt – gewichtet worden sind.

Es liegt nahe, eine Analogie zur ebenfalls paradigmenhaften „anti-imperialen“ Paulusauslegung zu ziehen. Zwei Parameter, die bei der Suche nach verborgener Kritik am römischen Reich eine große Rolle spielen, sind die Fragestellungen nach der Quelle einer paulinischen Formulierung (LXX? römische Propaganda?) auf der einen Seite und nach der unabhängig davon zu ermitteln-den kritischen Ausrichtung (Parallelen müssen schließlich nicht notwendigerweise auf einen Konflikt hindeuten).159 Vor diesem Hintergrund stellen termini technici aus dem Bereich des rö-mischen Reiches eine naheliegende Ausgangsbasis dar, um ein eventuell imperiumskritisches Potenzial der paulinischen Briefe zu erheben.160 Zugleich ist damit allerdings natürlich nicht ge-sagt, dass die Analyse dieser unstrittigen Bezüge ein unumstößliches Raster ergeben würde, in dessen Rahmen subtilere Anspielungen dann unweigerlich ihren Platz finden müssten:161 „It is

159 Siehe hierzu Heilig, Hidden Criticism, Kapitel 6.

160 Heilig, Hidden Criticism, 140–141 und 157–158. Heilig, Paul’s Triumph zu θριαμβεύω.

161 Heilig, Hidden Criticism, 5–6. Siehe auch den Verweis dort auf Krauter, Studien, 253, dem dieser Umstand bewusst ist, auch wenn er sich einer Leseweise von Röm 13,1–7 im Rahmen eines aufgrund subtilerer Aussagen erhobenen anti­imperialen Paradigmas sträubt (Hervorhebung nicht im Original): „Das ist freilich ein problematisches Vorgehen. Weniger darum, weil hier eine

of course possible to start an inquiry into Paul’s engagement with Roman ideology by focusing on terms and phrases that seem to have the biggest subversive potential. However, if it is at the same time more difficult to ascertain that they are written with reference to an imperial frame-work (such as the designation of Jesus as ‚Lord‘), such a point of departure seems less prudent. It is better not to start with ambiguous ‚resonances‘ but rather to begin with clearer references and to evaluate more ambiguous cases against the backdrop of this extended background knowled-ge. Of course, in so doing we should always keep in mind the possibility that these more ambi-guous examples could give us the most illuminating insights into Paul’s mind-set.“ Auch eine solche weitreichende interpretatorische Entscheidung würde jedoch einerseits eine theoriebe-zogene Begründung erfordern (also eine Erklärung dafür, weshalb nicht erwartet werden darf, dass Paulus explizit kritisiert)162 und andererseits voraussetzen, dass auch die nicht- kritische Oberflächenbedeutung der expliziten Bezugnahme auf den römischen Staat in Röm 13,1–7 vor diesem selben Hintergrund plausibilisiert werden kann. Die Rede von expliziter Bezugnahme auf römische Konzepte kann eins zu eins übertragen werden auf das explizite Erzählen, ebenso die Rolle der impliziten Kritik auf diejenige der impliziten Erzählstrukturen.

4.4 Ausblick

Kann Paulus sinnvoll als „Erzähler“ bezeichnet werden? Vertreter des „narrativen Ansatzes“ der Paulusexegese bejahen diese Frage vehement und sehen hierin einen Schlüssel zum Verständnis der Schriften des Apostels. Sie sind jedoch mit der Tatsache konfrontiert, dass in der neutestamentlichen Wissenschaft die Kate­

gorie der Erzählung zwar eine große Rolle spielt – jedoch gerade nicht im Hin­

blick auf die Briefliteratur.

Analysiert man die Begründungsmuster, welche hinter einer Skepsis gegen­

über einer Thematisierung von narrativen Elementen bei Paulus stehen (siehe oben, Kapitel 1, Abschnitt 2–3), stellen sich diese aus textlinguistischer Sicht als nicht haltbar heraus. Aus dieser Perspektive ist geradezu zu fordern, die Rolle von

„narrativen Vertextungen“ für das Textsortenmuster des apostolischen Briefes gründlich zu eruieren.

Damit ist die Debatte um Erzählungen bei Paulus jedoch noch nicht bei­

gelegt. Denn bei aller inhaltlicher Kontroverse ähneln sich die beiden Lager doch darin, dass sie es an einer sorgfältigen Klärung theoretischer Grundlagen mangeln lassen.

für sich genommen sehr klare Aussage mit Hilfe von umstrittenen und teilweise etwas unklaren Texten ausgelegt wird. Denn zwar scheint das umgekehrte Vorgehen logischer, aber es wäre ja durchaus möglich, dass Paulus sich bei der expliziten Behandlung eines Themas eher bedeckt hiel-te, während er sich in beiläufigen Anmerkungen zum selben Thema offener äußerte.“

162 Heilig, Hidden Criticism, Kapitel 5, Abschnitt 2.

Den Exegeten, welche die Bedeutung der Kategorie der ‚Erzählung‘ nicht für bedeutsam für das Verständnis der Paulusbriefe halten, stehen Vertreter des „nar­

rative approach,“ der auf dem von Richard B. Hays und N. T. Wright gelieferten Fundament fußt, diametral gegenüber. Während die beiden genannten Autoren durch innovative Neuansätze für die Paulusexegese aufgefallen sind, kann mit Recht bezweifelt werden, ob sie auch eine belastbare definitorische Basis gelie­

fert haben. Interessanterweise stellt die Frage, was überhaupt Erzählungen sind, in der an diese beiden Exegeten anknüpfenden Diskussion so gut wie keine Rolle.

Dieser irritierende Umstand hat seine Ursache darin, dass es sowohl Hays als auch Wright um ganz bestimmte narrative Strukturen geht. Infolgedessen hat sich auch die anschließende Diskussion zur Methodik sehr schnell zu konkrete­

ren Fragen der exegetischen Praxis fortbewegt. So ist bei manchen Autoren eine nahezu vollständige Verschiebung hin zum Themenkomplex der Intertextualität festzustellen, welcher sich zu einem eigenständigen Forschungsschwerpunkt entwickelt hat. Auf diese Weise erfährt der narrative Ansatz zwar weiterhin eine methodologische Betrachtung, diese blendet Fragen nach dem Wesen der Narra­

tivität jedoch praktisch vollständig aus.

Es folgen zwar nicht alle Autoren, welche sich in der Tradition von Hays und Wright sehen, dieser Engführung. Doch auch bei diesen Ausnahmen führt das spe­

zifische Gepräge der von Hays und Wright postulierten narrativen Strukturen zum Ausblenden der die Narrativität selbst konstituierenden Elemente. Wichtig ist nicht mehr, was die ‚Erzählung‘ im Allgemeinen ausmacht, sondern wo die paulinische Erzählung als eine implizite Erzählung zu verorten ist und welchen Inhalt sie hat.

Ohne Offenlegung des definitorischen Fundamentes müssen aber Konsistenz und Kohärenz solcher Entwürfe fraglich bleiben. Viele der in der exegetischen Literatur vorgebrachten Thesen sind somit zum momentanen Zeitpunkt schlicht nicht in der Form der Arbeiten, in denen sie präsentiert werden, bewertbar. Es kann oft weder überprüft werden, ob die identifizierten narrativen Strukturen tat­

sächlich einer vorausgesetzten Definition von „Erzählung“ entsprechen, noch ob vielleicht entscheidende Phänomene im Text übersehen wurden, die auch unter dieser Überschrift zwingend anzusprechen wären.

Um die Charakterisierung des Paulus als Erzähler zu plausibilisieren, ist es folglich dringend notwendig, die grundsätzliche Frage zu klären, was eine Erzäh­

lung überhaupt ausmacht. Entsprechend wendet sich das folgende Kapitel 3 der Definition des Terminus „Erzählung“ zu – und der nächste Buchteil als Ganzes der Analyse von expliziten Erzählungen in den Paulusbriefen.

Es war das Ziel der unmittelbar vorausgehenden Diskussion, Einwände von Seiten des „narrative approach“ gegen ein solches Vorgehen, welche von der Befürchtung motiviert sind, dass hierdurch die „eigentlich“ interessierenden nar­

rativen Strukturen aus dem Blick geraten könnten, zu entkräften.

Open Access. © 2020 Christoph Heilig, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 International Lizenz.

https://doi.org/10.1515/9783110670691-003

Im Dokument Christoph Heilig Paulus als Erzähler? (Seite 101-108)