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Fehlende Explikation des Konzepts der ‚Textsorte‘

2 Die mehrheitliche Skepsis

3  Eine textlinguistische Einordnung von Narrativität und Brieflichkeit

3.1.2  Fehlende Explikation des Konzepts der ‚Textsorte‘

Im weitesten Sinne wird in der neutestamentlichen Forschung unter dem Stich­

wort der „Gattung“ eine „Gruppe von Texten mit zusammengehörigen Merkma­

len“ zusammengefasst.61 Bei manchen Neutestamentlern begegnet im Kontext der Gattungsanalyse auch das Lexem „Textsorte.“ Dies wird meist synonym mit der Bezeichnung „Gattung“ verwendet.62 Diese unscheinbare terminologische Entscheidung ist jedoch durchaus nicht unproblematisch. Sie verweist vielmehr auf ein grundsätzliches Problem, welchem die theoretische Ausgestaltung der neutestamentlichen Gattungsanalyse vor dem breiteren Hintergrund der Textwis­

senschaften allgemein gegenübersteht.

Die Rede von der „Gattung“ entspringt der Literaturwissenschaft und ist dort ganz grundsätzlich mit der Dreiteilung in „Lyrik“, „Epik“ und „Dramatik“

verbunden. In gewissem Sinn begegnet Narrativität hier also als eine Großka­

tegorie in der Epik. Ein Problem, das eine eigene Diskussion bedürfte, besteht nun einerseits darin, dass die Diskussion zum Gattungs­Konzept in der neutes­

tamentlichen Wissenschaft über weite Strecken wenig Rücksicht auf die Wand­

lungen in den Literaturwissenschaften nahm.63 Viel grundlegender noch ist jedoch die Frage aufzuwerfen, ob ein Ordnungssystem, das für literarische Texte entworfen wurde, überhaupt einen adäquaten Zugriff auf die Briefe des Paulus zulässt.

Die Debatte um die Literarizität der Paulusbriefe der letzten Jahrzehnte hat nun einerseits deutlich gezeigt, dass die Unterteilung Deissmanns in literarische Epistel und (lediglich) situationsbezogene Briefe so nicht haltbar ist.64 Versteht man unter literarischen Texte solche Schriften, „deren sozial anerkannte Funktion es ist, auf literaturtypische Weise rezipiert zu werden,“65 so ist für die Texte des Paulus in ihrem kanonischen Kontext eine entsprechende Interpretation als

61 So etwa Berger, Formen und Gattungen, 1.

62 Söding und Münch, Methodenlehre, 76 sprechen, wie oben erwähnt, von „übergeordneten Gattung[en]“ im Hinblick auf die Unterabteilungen des neutestamentlichen Kanons und neh­

men besagte Gleichsetzung zwischen Textsorte und Gattung vor (S. 74 und 77).

63 Eine erfrischende Einführung mit Verweis auf die relevante Literatur bieten nun Rüggemeier und Finnern, Methoden, 85–102.

64 Siehe für einen prägnanten Überblick zu der von Deissmann angestoßenen Diskussion nun Hoegen­Rohls, Epistolographie, 70–91.

65 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 99.

Kunstwerke wohl durchaus angezeigt, denn sie werden de facto in kirchlichen und gesellschaftlich­kulturellen Kreisen auf eben diese Weise wahrgenommen.

Die historische Betrachtungsweise kann nun einerseits dieser Rezeption zuarbeiten, indem sie den „künstlerisch anspruchsvolle[n] Charakter“ bestimm­

ter Passagen herausarbeitet und damit die literarische Intention des Autors vor dem Hintergrund weniger elaborierter zeitgenössischer Schriften etabliert.66 Entsprechende an den literaturwissenschaftlichen Kategorien orientierte Über­

legungen haben also durchaus ihre Berechtigung. Diskutiert werden kann dann etwa die Einordnung der Pastoralbriefe als „Briefroman.“67 Da dieser zur Kate­

gorie der Epik gehört, könnte man also zumindest in diesem Sinn von der Figur des Paulus als einem fiktiven „Erzähler“ sprechen.68 Ein an den antiken Groß­

gattungen orientierter literaturwissenschaftlicher Zugang zur Gattungs­Analyse hätte also in gewisser Hinsicht doch das Potenzial, Narrativität als ernstzuneh­

mende Kategorie in die Paulusforschung einzuführen. Freilich entspricht die aristotelische Definition eines Epos kaum unserem heutigen Verständnis von Narrativität.69

Einerseits ist ein literaturwissenschaftlicher Zugriff auf die Paulusbriefe also – in einem recht engen Rahmen – durchaus gerechtfertigt und es wäre wün­

schenswert, wenn die Gattungsanalyse tatsächlich in diesem Kontext und unter Berücksichtigung des entsprechenden literaturwissenschaftlichen Kenntnisstan­

des erfolgen würde.

Zugleich ist aber auch unstrittig, dass die Paulusbriefe neben ihrer Rolle als Kunstwerke in historischer Perspektive auch (bzw. primär) als Artefakte der Kom-munikation anzusehen sind. Es handelt sich bei den Paulusbriefen zweifelsfrei um Gebrauchstexte und als solche müssen sie auch wissenschaftlich erforscht werden, wenn sie in ihrer historischen Dimension verstanden werden sollen.

Genau für diese Betrachtungsweise hat sich in den Textwissenschaften die Rede von der „Textsorte“ etabliert.

Die Gleichsetzung der Konzepte ‚Gattung‘ und ‚Textsorte‘ ist daher nicht gerechtfertigt.70 Während es sich bei der Rede von der „Gattung“ um einen

66 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 97. Für eine entsprechende Stil­Analyse siehe etwa Caragou­

nis, New Testament, Kapitel 9.

67 Vgl. Glaser, Briefroman.

68 Siehe unten, Kapitel 3, Abschnitt 5.2, für die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein fiktionaler Text einen fiktiven Erzähler aufweist.

69 Aristoteles, Poet. 23 grenzt das Epos etwa von Geschichtswerken – im Sinn von umfassenden Chroniken – ab. De Jonge, „Epic,“ 138 definiert das Epos als „a long narrative poem about heroes performing impressive deeds usually in interaction with gods.“

70 Einflussreich und unter Verweis auf Fachliteratur wurde diese etwa vorgenommen von Egger, Methodenlehre, 147 (siehe auch noch ähnlich Egger und Wick, Methodenlehre, 207).

literaturwissenschaftlichen Terminus handelt, ist der Ausdruck „Textsorte“ mit der Disziplin der Textlinguistik assoziiert.71 Diese Zweiteilung entspricht in etwa auch dem Gegenstandsbereich der beiden Forschungsbereiche:72

Der Begriff ‚Textsorte‘ hat sich in der jüngeren Vergangenheit als Klassifikationsterminus für Gebrauchstexte weitgehend durchgesetzt und grenzt sich von dem literaturwissen­

schaftlichen Begriff der künstlerischen ‚Gattung‘ ab.

Die Berührungspunkte zwischen den beiden Disziplinen sind naturgemäß eher gering.73 Die Textlinguistik hat für die Klassifikation und Beschreibung von Textsorten ihr ganz eigenes Instrumentarium entwickelt und es ist bedauerlich, dass die Paulusbriefe bisher nicht angemessen mit diesem bearbeitet worden sind. Im Folgenden soll eine erste annäherungsweise Integration der paulini­

schen Schriften in ein textlinguistisches Paradigma erfolgen. Es wird zu sehen sein, in welchem Verhältnis Narrativität und Brieflichkeit aus dieser Perspektive erscheinen.

Gegenüber der bisher besprochenen synonymen Verwendungsweise von Gattung und Textsorte ist noch der Gebrauch in der Arbeit von Florian Wilk anzu­

führen, welche eine differenziertere Inbeziehungsetzung vornimmt und in gewis­

ser Weise als textlinguistischer Klassifikationsversuch gelten kann. „Gattung“

steht hier wie üblich (vgl. oben, Abschnitt 2.2.3 zu diesem Gattungsverständnis) für eine Gruppe Texte der Umwelt, denen die neutestamentlichen Schriften zuge­

ordnet werden können. So schreibt Wilk, dass die Evangelien „in formaler Hin­

sicht der Gattung des antikes Bios“ angehörig seien und die Apostelgeschichte als

„historische Monographie“ beschrieben werden könne. Der Fokus seiner Arbeit liege aber nicht auf dieser Ebene:74

Mit solchen Klassifizierungen wird spezifiziert, welche Art von Erzählung jeweils vorliegt, nicht bestritten, dass es sinnvoll ist, diese Schriften (wie viele ihrer Bausteine) generell als Erzählungen aufzufassen.

Für diese grundsätzliche Einordnung eines Textes verwenden Wilk die Rede von der „Textsorte ‚Erzählung.‘“75 Dieser „Textsorte“ steht nun in Wilks Vorstellung

71 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 65.

72 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 65.

73 Vgl. die nüchterne Bilanz zum Stand des Dialogs von Textlinguisten und Literaturwissen­

schaftlern nach einem „kurze[n] hochgestimmte[n] Flirt zwischen den Disziplinen“ Dammann,

„Textsorten und literarische Gattungen,“ 546–561 (das Zitat ist von S. 547).

74 Wilk, Erzählstrukturen, 1. Hervorhebungen nicht im Original.

75 Wilk, Erzählstrukturen, 4.

wohl nicht eine einzige Kategorie „Nicht­Erzählung“ gegenüber, vielmehr nennt Wilk „Reden und Briefe“ als „nicht­narrative“ Textsorten.76

Bemerkenswert ist, dass Wilk hier die in der Gattungsanalyse etablierte Dichotomie zwischen Paulusbriefen und Evangelien aufgreift, sie aber explizit generalisiert, indem er ganz grundsätzlich von „Briefen“ und „Erzählungen“

spricht und Narrativität als linguistisches Kriterium der Differenzierung einführt.

Es wird sich im Folgenden herausstellen, ob es aus textlinguistischer Sicht tat­

sächlich angemessen ist, eine „Textsorte Brief“ und eine „Textsorte Erzählung“

zu postulieren (und gegeneinander auszuspielen).77

3.2 Klassifikation von Textsorten anhand von Kommunikationsbereichen