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Minimalistische Definition 3.4.3.1 Definition nach Köppe und Kindt

Im Dokument Christoph Heilig Paulus als Erzähler? (Seite 127-136)

3 Das Konzept der ‚Erzählung‘

3.4  Äquivalenzdefinition(en) 3.4.1 Vorbemerkung

3.4.3  Minimalistische Definition 3.4.3.1 Definition nach Köppe und Kindt

Für Erzählungen gilt nun, dass sie gewisse Bedingungen erfüllen müssen, um als solche gelten zu können. Die minimalistische Definition einer „Erzählung“ nach Köppe und Kindt lautet:78

Ein Text ist genau dann eine Erzählung, wenn er von mindestens zwei Ereignissen handelt, die temporal geordnet sowie in mindestens einer weiteren sinnhaften Weise miteinander verknüpft sind.

Diese Definition gilt es im Folgenden zu entfalten, um sie für die exegetische Praxis anwendbar zu machen.

3.4.3.2 Textualitäts-Bedingung

Zunächst lässt sich beobachten, dass die Definition von Köppe und Kindt so angelegt ist, dass sie die Frage klären soll, wann ein bestimmter Text zur Katego­

rie der ‚Erzählung‘ gerechnet werden soll. Mir der Bezeichnung „Text“ verweisen die Autoren wiederum auf jene sprachliche Äußerungen, welche die Textualitäts­

Bedingungen der Textlinguistik erfüllen.79

Das heißt auch: Nicht­sprachliche Artefakte – wie Bilder und Filme – werden auf diese Weise ausgeklammert. Zwar könne man auf ihrer Grundlagen Erzählun­

gen „rekonstruieren,“ doch seien diese nach Köppe und Kindt dann „semiotische

78 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 43.

79 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 44. Inwiefern textlinguistische Textualitäts­Bedingungen tatsächlich neutral gegenüber gewählten Interpretationstheorien sind, kann hier nicht weiter diskutiert werden. Siehe aber grundsätzliche zum Verhältnis von deskriptiver Narratologie zur Textinterpretation unten, Abschnitt 6.

Hervorbringungen eigenen Rechts,“80 d. h. selbst Produkte eines Erzählaktes und damit eigenständige Erzählungen.

Damit ist dieser Definitionsansatz grundlegend restriktiver, was das Medium angeht, durch welches das Erzählte vermittelt wird, als dies etwa bei Ryan der Fall ist.81 Wir werden weiter unten noch auf die Frage eingehen, was diese Bedin­

gung der Textualität im Hinblick für die spezifischen von Hays und Wright postu­

lierten narrativen Strukturen impliziert (Kapitel 9).

3.4.3.3 Mindestanzahl der Ereignisse

Was das Konzept des ‚Ereignisses‘ angeht, begnügen sich die Autoren mit einer

„intuitiven Erläuterung“: Es bestehe aus Zeitpunkt, (physikalischem) Gegenstand oder Sachverhalt und etwas, was über diesen ausgesagt wird.82 Damit bleiben natürlich einige Fragen offen, auf die hier in aller Kürze eingegangen werden soll.

Ein erster Aspekt, der Erläuterung bedarf, ist der Umstand, dass die Klassifi­

zierung einer Proposition als ein oder mehrere Ereignisse umfassend in der Praxis natürlich oft schwierig ist, wie Köppe und Kindt anhand des Satzes „Peter niest.“

auch selbst illustrieren. Wer darauf bestehe, dass hier nur ein einziges Ereignis bezeichnet würde, müsse sich dem Einwand stellen,

dass der Satz etwas bezeichnet, das ebenso gut als mit einer Vielzahl von Ereignissen ver­

bunden verstanden werden kann: Das Kribbeln in der Nase, das tiefe Einatmen und die Kontraktion des Zwerchfells können mit demselben Recht als Ereignisse gelten wie das Niesen selbst.83

Umgekehrt könnte man natürlich auch das von Köppe und Kindt angeführte Bei­

spiel einer minimalen Erzählung – „Erst hing der Apfel am Baum und dann fiel er herunter.“84 – sprachlich reduzieren, ohne dass man sich deswegen weniger Ereignisse vorstellen müsste. Auch die Aussage „Der Apfel fiel vom Baum her­

unter.“ kann schließlich „als mit einer Vielzahl von Ereignissen verbunden ver­

standen werden.“

Die „Verbindung“ des „Bezeichneten“ mit mehren Ereignissen liegt letztlich auf der Ebene des Erzählten vor. Entsprechend sprechen die Autoren auch davon,

80 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 46.

81 Siehe auch Ryans ausführlichere Erörterungen zu diesem Thema in Ryan, „Media.“

82 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 49. Für eine Zusammenfassung der umfangreichen Diskussi­

on zur Rolle von „Ereignissen“ für Erzählungen siehe Hühn, „Event and Eventfulness,“ insbeson­

dere Abschnitt 3.5.1, wo auf den Zusammenhang mit der Definition von Narrativität eingegangen wird.

83 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 48.

84 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 50.

dass ihre Minimalerzählung „von zwei Ereignissen [handelt], die definitionsge­

mäß den Stoff für eine Erzählung im minimalen Sinn abgeben.“85 Man könnte also argumentieren, dass mit der Aussage „Der Apfel fiel vom Baum herunter.“

zwar nur ein Diskurs­Ereignis vorliegt, dass aber auf der Ebene des Erzählten das vorangehende Hängen am Baum wohl (vom Erzähler bzw. Leser/Hörer) voraus­

gesetzt ist.86

Damit kann die Unterscheidung zwischen Erzählung und Nicht­Erzählung bei extrem knappen Schilderungen freilich sehr schwierig werden. Teilweise werden Entscheidungen auch unterschiedlich ausfallen, je nachdem, welches Bedeutungskonzept in der Analyse zugrunde gelegt wird. So kann eine ein Ereig­

nis meinende Aussage je nach Kontext durchaus von Rezipienten als von mehre­

ren Ereignissen handelnd verstanden werden. (Siehe unten, Abschnitt 6.3 zum Verhältnis der narratologischen Beschreibung zu Interpretationen.)

Manche Narratologen umgehen diese Problematik vollständig, indem sie bereits das einzelne Ereignis an und für sich als konstitutiv für eine Erzählung ansehen. Im Hintergrund dieser Annahme steht das Argument, dass auch ein ein­

zelnes Ereignis immer mit einem Wechsel von einem Zustand in einen anderen verbunden ist.87 Offensichtlich setzt man dann aber wiederum voraus, dass Verben wie „jemanden lieben“ kein ‚Ereignis‘ darstellen.

Angesichts dessen, dass die hier analysierten paulinischen Erzählungen oft nur sehr begrenzte narrative Vertextungen darstellen, also kleine Teiltexte im größeren Gesamttext des Briefes darstellen, ist eine sorgfältige Betrachtung dessen, wie Ereignisse im Text zum Ausdruck kommen und wie sich die verschie­

denen Repräsentationen von Ereignissen unterscheiden, von größter Bedeutung.

Über das intuitive Verständnis von Köppe und Kindt hinaus wird daher unten (Kapitel 6, Abschnitt 1) die in der griechischen Grammatik übliche Kategorie der

„Aktionsart“ genauer unter die Lupe genommen. An dieser Stelle genügt die Beobachtung, dass es sich beim Konzept des ‚Ereignisses‘ um ein durchaus hete­

rogenes Phänomen handelt und die genaue Ausprägung im Text für die Bestim­

mung von dessen Erzählhaftigkeit von Bedeutung sein kann.

85 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 50. Hervorhebung nicht im Original.

86 Für eine kurze Zusammenfassung zur Unterscheidung von „object events, which he distingu­

ishes from discourse events, where the changes take place on the discourse level“ siehe Hühn,

„Event and Eventfulness.“

87 Vgl. Duden 1925.

3.4.3.4 Ausgesagte Ereignisse

Hinter der recht allgemeinen Redeweise vom „Handeln“88 von zwei Ereignissen verbirgt sich noch ein zweiter Aspekt, der nicht unproblematisch ist. Das wird insbesondere deutlich, wenn man bedenkt, wie vage formuliert die Bedingung ist, dass „etwas, das von dem Gegenstand oder Sachverhalt ausgesagt wird,“89 vorliegen müsse.

Die Frage „Fiel der Apfel vom Baum?“ und der Wunsch „Der Apfel möge vom Baum fallen!“ teilen sich mit der Aussage „Der Apfel fiel vom Baum“ eine gemein­

same Proposition, ein gemeinsames „Etwas.“90 Die sogenannte „illokutive“ Rolle der einzelnen Sprechakte divergiert jedoch erheblich. Es kann daher mit Recht erwogen werden, die Ereignisbedingung konkreter auf assertive Sprechakte zu beschränken.

In der textlinguistischen Diskussion über verschiedene „Vertextungsmuster/­

strategien“ (siehe oben, Kapitel 1, Abschnitt 3.4) wird dies ebenfalls unterschied­

lich gehandhabt. So ist die Definition des Strategiemusters „Narration“ bei Hei­

nemann und Viehweger recht weit gefasst, insofern sie damit „chronologische Aufgliederung[en] von Ketten illokutiver Handlungen“ bezeichnen.91 Aumüller hält demgegenüber fest:92 „These three text types [narration, description, argu­

mentation] do not cover all forms of texts, however since, for a starter, they may be ascribed to assertive sentences. Features of other text levels (e.g. grammatical mode or dialogue) are not encompassed by this typology.“ Die Beschränkung auf Ereignis­Bezüge in assertiven Sprechakten setzt in der Regel auch voraus, dass die Ereignisse als in der Vergangenheit geschehen kommuniziert werden sollen, da nur vor diesem Hintergrund uneingeschränkte Behauptungen unproblema­

tisch sind.93

Geht man von einem Konzept einer graduellen Narrativität aus, so könnte man prototypische Erzählungen über diesen Aussagecharakter bestimmen. Fol­

gendes Zitat von Prince weist in diese Richtung:94

88 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 48.

89 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 49.

90 Zum Konzept der Proposition siehe unten, Kapitel 4, Abschnitt 5.1.

91 Heinemann und Viehweger, Textlinguistik, 237. Hervorhebung im Original.

92 Aumüller, „Text Types.“ Hervorhebung nicht im Original.

93 Vgl. etwa Gülich und Hausendorf, „Vertextungsmuster Narration,“ 373: „Eine ‚Erzählung‘ ist die in Form einer Diskurseinheit realisierte verbale Rekonstruktion eines Ablaufs realer oder fik­

tiver Handlungen oder Ereignisse, die im Verhältnis zum Zeitpunkt des Erzählens zurückliegen, oder zumindest (wie z. B. in Zukunftsromanen) als zurückliegend dargestellt werden.“

94 Prince, Narratology, 150.

In general, when we read a text as a narrative, we try and process it as a series of assertions about events the occurrence of which is not in doubt. The easier such processing proves to be, the more readily a text suggests it and lends itself to it, the more narrativity the text will have.

Entsprechend fordert der Ansatz von Ryan auch lediglich, dass eine Erzählung nicht ausschließlich aus sprachlichen Repräsentationen von Ereignissen bestehen dürfe, die nicht als Tatsachen in der „storyworld“ dargestellt werden.95

Im Folgenden wird daher einerseits davon ausgegangen, dass für die Klassi­

fizierung eines Textes als ‚Erzählung‘ gelten muss, dass es sich dabei um einen

„macro speech act of the constative type, claiming that such and such happened,“

handelt.96 Analog wird aber auch eine einzelne Proposition nur dann als Reprä­

sentation eines Ereignisses eingestuft, wenn sie mit einem assertiven Sprechakt verbunden ist. Auch Köppe und Kindt schreiben später (im Kontext der Erörterung des Konzepts der ‚Handlung‘/des ‚Plots‘): „[N]ach unserer Definition [stellen] bloß mögliche Ereignisse keine Ereignisse [dar].“97

Entsprechend muss das behauptete Geschehen aus Sprecherperspektive in der Vergangenheit liegen, sodass der Sprecher in seiner Behauptung gerechtfer­

tigt erscheint.98 Auch bei gemeinhin als „live“ betrachteter Berichterstattung ist diese Voraussetzung eines temporalen Versatzes in der Regel gegeben.99 Aussa­

gen über Ereignisse mit Zukunfts­Bezug werden demgegenüber nicht im Rahmen der Analyse der Minimalerzählung berücksichtigt. Folgende Beispieltexte stellen somit keine Erzählungen im Sinne der hier explizierten Definition dar:

Der Apfel wird erst am Baum hängen und dann wird er herunterfallen.

Die Polizei fahndete nach Peter, um ihn zu verhaften.

Dies bedeutet nicht,dass Bezugnahmen auf Ereignisse in Texten nicht­assertiver Art für eine narratologische Analyse völlig unbedeutend sein müssten. Diese Fest­

legung impliziert jedoch, dass sie nicht selbst das Vorhandensein einer Erzäh­

lung konstituieren und dass ihre Bedeutung im hier vorgestellten, recht strikten Rahmen anderweitig erfasst werden muss (dies geschieht unten, Kapitel 9).

95 Vgl. oben ihre Bedingung 7.

96 Margolin, „Narrator.“ Zu Narrativen als komplexen Sprechakten vgl. auch Berns, „Performa­

tivity.“

97 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 110. Hervorhebung im Original.

98 Vgl. Gülich und Hausendorf, „Vertextungsmuster Narration,“ 369: „Erzählen ist eine kommu­

nikative und eine rekonstruktive Tätigkeit. Die Voraussetzung für die Rekonstruktion des zurück­

liegenden Ereignisses ist, dass der Erzähler sich daran erinnert.“

99 Siehe zur „simultanen Narration“ ausführlicher unten, Kapitel 6, Abschnitt 3.2.3 und 3.4.

3.4.3.5 Temporale Ordnung

Eine weitere von Kindt und Köppe genannte Bedingung ist die Forderung, dass die Ereignisse, von denen der Text handelt, temporal geordnet sein müssen.100 Darunter verstehen die Autoren, dass die beiden Ereignisse zeitlich zueinander in Beziehung gebracht sind, entweder im Sinne des Nacheinanders101 oder (seltener) der Gleichzeitigkeit.102 Das bereits eingeführte Satzgefüge „Erst hing der Apfel am Baum und dann fiel er herunter.“ stellt ein Beispiel für den ersten Fall dar.

Eine Minimalerzählung, welche ein Beispiel des letzteren Typs darstellt, wäre: „Während die Polizei noch nach ihm fahndete, setzte sich Peter ins Ausland ab.“103 Bemerkenswert an dieser Illustration ist, dass sie ein recht weitgefasstes Verständnis von Gleichzeitigkeit durchscheinen lässt, da Peters Absetzen in seiner zeitlichen Ausdehnung wohl kaum exakt identisch ist mit der Fahndung nach ihm. Im Gegenteil legt das „noch“ nahe, dass die Polizei zum Zeitpunkt der Flucht eine Tätigkeit fortsetzt, die sie bereits zuvor aufgenommen haben könnte.

Die Rede vom „Zeitpunkt“ im letzten Satz – wobei ja eigentlich auch ein Intervall im Hintergrund steht – ergibt sich zudem aus der Tatsache, dass die Aktion des Absetzens in der Regel ein klares Ziel vor Augen hat, sodass der Text nahelegt, dass das Ereignis des Sichabsetzens zum Abschluss kommt, wobei die Fahndung definitionsgemäß noch weiterläuft, so lange der Verdächtige nicht gefasst ist (oder die Ermittlung eingestellt wird).104 Ganz anders wäre die ebenfalls gleich­

zeitige Konstellation etwa im Beispiel: „Peter war auf der Flucht, solange die Polizei noch nach ihm fahndete.“

Präziser gesagt liefert also im Beispiel die Rede von der Fahndung eine Ereig­

niszeit, welche als Betrachtzeit der Ereigniszeit des Absetzens fungiert.105 Diese kurze Überlegung zeigt bereits, dass bei der Analyse von Erzählungen das genaue zeitliche Verhältnis von Sachverhalten sehr differenziert wahrgenommen werden muss (siehe entsprechend unten, Kapitel 5, Abschnitt 2 und Kapitel 7). Auch die Kategorie der sequentiellen Ordnung muss weiter differenziert werden. Denn tex­

tuell kann auch das spätere Ereignis vor dem früheren präsentiert werden: „Der Apfel hing zu Boden. Zuvor hatte er noch am Baum gehangen.“

Außerdem ist noch ein weiteres Phänomen zu berücksichtigen, welches keiner der beiden Kategorien klar zugeordnet werden kann. Die Betrachtung der

100 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 50.

101 Siehe hierzu auch Grabes, „Sequentiality.“

102 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 50.

103 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 50.

104 Zur Unterscheidung verschieden strikter Auffassungen von Gleichzeitigkeit siehe Margolin,

„Simultaneity.“

105 Vgl. Zifonun, „Textkonstitutive Funktionen,“ 320.

Binnenerzählung, die Odysseus in Homer, Ilias 10.555–563 liefert, ist in dieser Hinsicht instruktiv. Odysseus und Diomedes hatten zuvor auf einem Spähtrupp den Kundschafter Dolon gefangen, ausgehorcht und getötet (338–468). Darauf­

hin waren sie in das (von Dolon verratene) Lager der Thraker eingedrungen und hatten dort dreizehn Mann getötet, darunter den Führer Rhesos (469–497). Im Anschluss hatten sie die Pferde geraubt und waren mit ihnen zum Lager zurück­

gekehrt (498–531). Nestor, der den Hufschlag der Pferde vernimmt (532) und sowohl hoffnungsvolle als auch sorgenvolle Überlegungen über die Gründe anstellt (533–539), spricht die Heimkehrenden direkt auf die göttlich scheinen­

den Pferde an (544–543). Entsprechend beginnt die Antwort (544) des Odysseus mit einer Erklärung der Herkunft der Pferde (557–558). Es folgt die Schilderung der Getöteten (560) und dann die Tötung des Spähers (561–563) „als Dreizehnten“

(τὸν τρισκαιδέκατον σκοπὸν εἵλομεν ἐγγύθι νηῶν).

Für den Leser ganz offensichtlich erfolgt der Bericht in chronologisch gegen­

läufiger Weise. Innerhalb der Binnenerzählung ist dies jedoch anders als im obigen Apfel­Beispiel („Zuvor …“) nicht markiert. Die durch die bei Homer pro­

minente Nummer 13 erfolgende Charakterisierung dieses chronologisch ja ersten (und absolut eigentlich vierzehnten; vgl. v. l. ) Opfers zeigt vielmehr (vgl. 495 mit Bezug auf Rhesos, das dreizehnte Opfer der Thraker), dass die Präsentation der Ereignisse, welche von der die Pferde betreffenden Frage des Nestors ausgeht, hier klimaktisch zum Abschluss kommen soll.

Fraglich ist, ob Nestor und die Umstehenden die im Hintergrund stehende Chronologie überhaupt hätten erfassen können, denn Dolons vorbereitende Rolle für den Rest der Unternehmung wird in der Binnenerzählung nicht erwähnt.106 Die „Zugänglichkeit zwischen der zeitlichen Situierung der einzelnen Ereignis­

se“107 ist also sehr eingeschränkt. Zeitreferentiell füreinander zugänglich sind sie letztlich den zuhörenden Erzählfiguren nur über den Zeitraum, welchen die Mission in Anspruch nahm.

Diese Art der temporalen Ordnung scheint nicht gut von der binären Klas­

sifizierung von Köppe und Kindt erfassbar. Zifonun grenzt ein solches „Muster der Inklusion“ von den Mustern der „Sequenzierung“ und „Überlappung“ (statt:

„Gleichzeitigkeit“) ab.108 Sie führt dafür folgendes Beispiel an:109

106 Im Beispiel von Zifonun, „Textkonstitutive Funktionen,“ 321 ist das vorzeitige Verständnis nicht zwingend, die in einem solchen Fall vorliegende sinnhafte Verbindung jedoch vom Welt­

wissen her direkt einleuchtend: „Anna verließ mich. Sie verliebte sich in einen anderen Mann.“

107 Zifonun, „Textkonstitutive Funktionen,“ 316.

108 Vgl. Zifonun, „Textkonstitutive Funktionen,“ 316.

109 Zifonun, „Textkonstitutive Funktionen,“ 316.

Im Jahr 1547 starb Heinrich VII, wurde Johann Fischart, deutscher Satiriker und Polemiker, geboren und übernahm Michelangelo die Bauleitung der Peterskirche in Rom.

In diesem Beispiel liegt allerdings (anders als im zitierten Beispiel der Ilias) keine Kontinuität der Beteiligten vor,110 sodass die Einordnung als Erzählung hier schwerer fällt.

Die Identifizierung einer sinnhaften Verknüpfung (siehe nächster Abschnitt) fällt sicherlich einfacher, wenn die Ereignisse auf dieselbe Figur bezogen sind.

Der Satz „Im Jahr 2010 machte ich meinen Studienabschluss und heiratete meine Frau.“ lässt sich etwa recht unproblematisch als Erzählung über wichtige Etappen einer Biographie verstehen. Aber auch speziell markierte Sätze wie „Im Epochen-jahr 1492 entdeckte Kolumbus Amerika und wurde Granada rückerobert.“111 lassen sich leichter als Erzählungen verstehen, als dies für einen „panoramaar­

tigen Querschnitt oder Überblick über Ereignisse“112 wie im obigen Beispiel der Fall ist, wo die Klassifizierung als Deskription (des Jahres 1547) näher liegt.

3.4.3.6 Sinnhafte Verknüpfung

Die Rede von Peter als einem „Verdächtigen“ im letzten Abschnitt kommt für die meisten Leser/­innen vermutlich nicht überraschend – obwohl diese Charakteri­

sierung nicht direkt Teil der ursprünglichen Erzählung war – da wir beim Lesen von „Während die Polizei noch nach ihm fahndete, setzte sich Peter ins Ausland ab.“ als Erzählung automatisch davon ausgehen, dass ein sinnvoller Zusammen­

hang zwischen den beiden temporal gleichgeordneten Ereignissen besteht.

Damit ist das Kriterium der Verknüpfung auf „mindestens eine weitere sinn-hafte Weise“ angesprochen, welches ausschließen soll, dass Texte als ‚Erzäh­

lung‘ eingestuft werden, die dies nach herkömmlichem Verständnis nicht sind, wie etwa: „Die Polizei fahndete nach Peter, und an der Universität von Chicago wurden die Lehrpläne für das Wintersemester erstellt.“113

110 Vgl. Zifonun, „Textkonstitutive Funktionen,“ 321.

111 Die Reihenfolge muss hier nicht chronologisch sein. Vgl. auch unten, Kapitel 8, Abschnitt 3.2 zu Gal 1,21 (Ἔπειτα ἦλθον εἰς τὰ κλίματα τῆς Συρίας καὶ τῆς Κιλικίας).

112 Zifonun, „Textkonstitutive Funktionen,“ 321.

113 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 51. Die im Internet in kursierenden Listen über erstaunli­

che Gleichzeitigkeiten sind demgegenüber trotz (bzw. wegen) des sie auszeichnenden fehlenden inneren Zusammenhangs nicht so zu klassifizieren. Z. B.: „Als die ersten ägyptischen Pyramiden gebaut wurden, gab es noch Mammute.“ Oder: „Als die Chicago Cubs das erste Mal die World Series gewannen, war das Ottomanische Reich noch nicht untergegangen.“ Im Hintergrund steht ein konzessives Verhältnis: Obwohl Sachverhalt A gilt, gilt auch Sachverhalt B – also entgegen der intuitiven Erwartung, dass es kein solches Zeitintervall geben dürfte.

In der Definition von Toolan, die uns weiter oben bereits begegnete, wird diesem Aspekt durch die Formulierung Rechnung getragen, dass von einer Sequenz von „non­randomly connected events“ die Rede ist:114

For example, if each member of a group in turn supplies a one­paragraph description of something or other, and these paragraphs are then pasted together, they will not count as narrative unless someone comes to perceive a non­random connection.

Wohl der wichtigste Vertreter einer solchen „sinnhaften Verknüpfung,“ eine For­

mulierung, die zum Ausdruck bringen soll, „dass zwischen den Ereignissen ein gehaltvoller Zusammenhang erkennbar ist,“ ist der Verknüpfungs­Typ der Kau­

salität.115 Neben der Kausalität kann auch die mentale Einstellung von Personen für Verknüpfungen sorgen: So können „Handlungsmotive, Absichten, Pläne, Vorhaben oder Wünsche einer Person“ zwei Ereignisse miteinander in Bezie­

hung setzen.116 Selbiges gilt, wenn ein Ereignis die Grundlage für die Bewertung anderer Ereignisse liefert oder die Verknüpfung auf Teleologie oder thematischer Verbindung basiert.117

Der sinnhafte, „non­random,“ Zusammenhang kann natürlich auch nur sehr implizit vorliegen. Eine solche implizite Verzahnung liegt im Verständnis von Köppe und Kindt genau dann vor, „wenn der Autor des Textes zu verstehen geben wollte, dass eine solche Verknüpfung vorliegt, und damit rechnen konnte, ver­

standen zu werden.“118

Wie das obige Zitat von Toolan zeigt, ist bei ihm eben diese Bedingung der sinnhaften Verknüpfung davon abhängig, dass jemand zu dem Schluss kommt, dass eine solche Verbindung vorliege. Die Intention des Textproduzierenden, Ereignisse auf nicht­zufällige Weise miteinander zu verknüpfen, wäre somit weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung für das Vorliegen

114 Toolan, Narrative, 6.

115 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 51. Die Autoren bauen auf Henning, Person auf.

116 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 2014, 58.

117 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 59–61. Zu nicht­temporalen Verknüpfungen vgl.  auch Schmid, „Non­temporal Linking in Narration.“

117 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 59–61. Zu nicht­temporalen Verknüpfungen vgl.  auch Schmid, „Non­temporal Linking in Narration.“

Im Dokument Christoph Heilig Paulus als Erzähler? (Seite 127-136)