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3 Textmodell und Textstruktur

Im Dokument Christoph Heilig Paulus als Erzähler? (Seite 183-188)

Ein Hauptproblem für die Analyse paulinischer Texte unter der Fragestellung etwaiger Ereignisbezüge und deren inhaltlicher Verknüpfung stellt die Tatsache dar, dass die Praxis der Exegese – insbesondere im deutschsprachigen Raum – für diese semantischen Kategorien wenig Platz aufweist. Ältere methodische Einführungen legen einen Schwerpunkt auf diachrone Fragen der Textentste­

hung und ­überlieferung (Traditions­, Literar­, Text­ und Redaktionskritik).

Die Struktur des Textes spielt dabei nahezu ausschließlich auf der Ebene der Satzgrammatik eine Rolle. Wird Gattungskritik nicht im Sinne einer auf münd­

liche Vorformen abzielende diachrone Methode betrachtet (siehe dazu oben,

tinuität innerhalb der unumstrittenen Briefe und darüber hinaus im Gedankenexperiment von Hoehner, „Did Paul Write Galatians?“ bereits treffend herausgearbeitet. Fraglich ist, wie sehr man diese Beobachtungen im Sinne von Echtheitshypothesen der umstrittenen Paulusbriefe auswerten darf.

10 Siehe nun auch durch die Arbeit von Herzer, „Mythos und Wahrheit“ vorgenommene Wei­

tung der Optionen für 2. Timotheus und Titus.

Kapitel 1, Abschnitt 2.3.3), dann kommen in diesem Kontext unter Umständen immerhin größere Textzusammenhänge als Gegenstand vor. Was selbst in neueren Methodenbüchern, die explizit Anregungen aus den aktuellen Textwis­

senschaften aufnehmen, jedoch fehlt, ist die Frage nach den zwischen Satz­ und Globalstruktur des Textes vermittelnden Aspekten, also nach dem inhaltlichen Zusammenhang des Textes oberhalb der Satzebene.11

Der Grund für dieses methodologische Defizit besteht in einem den meisten Methodenleitfäden zugrundeliegenden Textverständnis, welches sich am text­

linguistischen Kenntnisstand der 1960er Jahre orientierte: Entsprechend diesem

„transphrastischen“ (d. h. satzübergreifenden) Ansatz sind „Texte strukturelle Einheiten vom gleichen Typ wie Sätze … nur umfangreicher.“12 Entsprechend gilt in diesem Modell der Satz als „die Struktureinheit des Textes,“13 sodass für die Analyse der Textgrammatik kein wesentlich neues methodisches Inventar erfor­

derlich ist.

Zu diesem Verständnis des Konzepts ‚Text‘ traten in der Fachdiskussion jedoch schon bald Erwägungen, welche auf die Ebene der Semantik abzielten, das heißt auf die „inhaltliche Verflechtung des Textes.“14 Im Zentrum des Inter­

esses befindet sich hier die hinter sprachlichen Realisierungen stehende Propo­

sitionalstruktur des Textes.15

Auch wenn hiermit ein wichtiger, im transphrastischen Modell weitgehend ignorierter Aspekt von Textualität ins Auge gefasst wird, „wird man dem Phäno­

men ‚Text‘ nicht gerecht, wenn man seine Bedeutung ausschließlich am proposi­

tionalen Gehalt festmachen wollte.“16 Vielmehr müssen auch pragmatische Kate­

gorien Berücksichtigung finden, welche „darüber aufklären, in welchem Sinn die einzelnen Äußerungs­ oder Informationseinheiten, in die ein Text zu zerlegen ist, zu verstehen sind.“17 Der Blick verläuft dann nicht mehr nur vom Satz zum Text,

11 Ebner und Heininger, Exegese, 57–130 bieten beispielsweise ein eigenes Kapitel zum Thema

„Textbeschreibung.“ Der von ihnen als „sprachliche Analyse“ bezeichnete Methodenschritt gibt jedoch keine Antwort auf die Frage, wie der Text Bedeutung vermittelt. Innerhalb des Abschnitts zur Narratologie wird auf Satzebene die „syntaktische Analyse“ bemüht (S. 92–96). Das seman­

tische Gegenstück („semantische Analyse“; S. 96–98) geht jedoch sogar wieder einen Schritt im Textaufbau zurück und fokussiert lediglich auf die Wortsemantik. Für nicht­narrative Vertextun­

gen – also etwa argumentative Textabschnitte – wird überhaupt kein methodisches Werkzeug geboten.

12 Vater, Textlinguistik, 20.

13 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 36.

14 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 39.

15 Vgl. Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 44.

16 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 49.

17 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 49.

vielmehr wird unter diesem Gesichtspunkt der Text „primär als eine kommunika­

tive Einheit angesehen, der Sätze zugrunde liegen.“18

Das „integrative“ Textmodell von Gansel und Jürgens vereint diese beiden Blickrichtungen: Ein Text sei einerseits „eine in sich kohärente Einheit der sprach­

lichen Kommunikation mit einer erkennbaren kommunikativen Funktion.“19 Er weise jedoch auch eine „in spezifischer Weise organisiert[e] Struktur“ auf, welche auf der Ebene der Verbindung von Sätzen anzusiedeln ist. Dabei ist diese Struk­

tur nach Brinker als „Gefüge von Relationen, die zwischen den Sätzen bzw. den Propositionen“ bestehen, zu verstehen,20 kann also sowohl auf der Ausdrucks­

als auch auf der Inhalts­Seite des Textes (siehe unten, Kapitel 5 und Kapitel 6) bezogen werden. Diese Struktur ist es, welche „den inneren Zusammenhang, die Kohärenz“ des Textes, bewirkt.21

Dieses dem integrativen Modell folgende Verständnis von Textstruktur wurde bisher in der neutestamentlichen Exegese kaum aufgenommen, obwohl es von Heinrich von Siebenthal in Beiträgen zu einem methodischen Leitfaden für die Exegese neutestamentlicher Texte schon vor einiger Zeit fruchtbar gemacht wurde.22 Das neue Methodenlehrbuch von Finnern und Rüggemeier greift diese Vorarbeit von von Siebenthal auf, sodass zu hoffen ist, dass sich die Exegese in Zukunft vermehrt das aktuelle Textverständnis der Linguistik zu eigen macht.

Leider verfehlt auch die Adaption von Finnern und Rüggemeier in zentralen Punkten das von von Siebenthal Gemeinte.23

18 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 51.

19 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 51.

20 Brinker, Textanalyse, 21.

21 Brinker, Textanalyse, 21.

22 Siehe von Siebenthal, „Sprachwissenschaftliche Aspekte“ für die sprachwissenschaftlichen Grundlagen und von Siebenthal „Linguistische Methodenschritte“ für eine stärker an „Metho­

denschritten“ orientierte Anleitung. Die Zweiteilung in eine linguistisch­grammatische Analyse (LGA) und eine semantisch­kommunikative Analyse (SKA) hat im englischsprachigen Raum in der neutestamentlichen Methodenlehre ein Vorbild bei Guthrie und Duvall, Exegesis.

23 Finnern und Rüggemeier, Methoden, 116. Problematisch erscheint in dieser Adaption zweier­

lei: Zum einen betrachten die Autoren diesen Arbeitsschritt als eine „Verfeinerung der Textglie­

derung“ (S. 104). Aus der analytischen Perspektive ergibt sich die Grobgliederung eines Textes jedoch gerade aus seiner semantisch­kommunikativen Propositionalstruktur! Zum anderen mei­

nen sie, in diesem Schritt würde analysiert, „wie der Text grammatisch­syntaktisch aufgebaut ist“ (S. 104). Damit wird aber ausschließlich die Ausdrucks-Seite der Textstruktur erfasst. Unter der Überschrift „Verknüpfung der Sätze analysieren“ (S. 113) wird dementsprechend die auf Konnektoren aufbauende Analyse vorgestellt. Dabei geht unter, dass sie im Fortgang des Textes (S. 117–118) plötzlich zu „Propositionsgruppen“ wechseln und unkommentiert ein hierarchisches

„textgrammatisches Schaubild“ zu Röm 6,22 präsentieren, welches doch der inhaltlichen Seite der Textstruktur zuzuordnen ist (GGNT 352a). Vgl. auch unten, Abschnitt 8.1.1.

Dennoch ist daran festzuhalten, dass die Voraussetzungen für eine Interaktion innerhalb der neutestamentlichen Forschung mit dem integrativen Textmodell insgesamt hervorragend sind. Heinrich von Siebenthal hat das integrative Text­

modell von Gansel und Jürgens nun auch explizit in der Neuauflage seiner Grie-chische[n] Grammatik zum Neuen Testament aufgegriffen24 und die entsprechende textgrammatische25 Analyse sehr ausführlich vorgestellt und, darin liegt der große praktische Nutzen, speziell für die im NT verwendete Koine aufbereitet.26

Auch wenn es sich bei der Textgrammatik um eine jüngere Disziplin handelt als im Fall der grammatischen Analyse untergeordneter Einheiten, bedeutet dies nicht, dass die textgrammatischen Kategorien für die Analyse oberhalb der Satz­

ebene „optional“ wären. Ebenso wie beispielsweise die Analyse der Syntax im Rahmen der neutestamentlichen Wissenschaft unter Rückgriff auf die Erkennt­

nisse zur Satzgrammatik der Koine erfolgen muss, um wissenschaftlichen Stan­

dards zu genügen, gilt es, dass auch die Textstruktur nur unter Berücksichtigung des entsprechenden textgrammatischen Wissensstandes adäquat erfasst werden kann. Es ist daher zu wünschen – und aus linguistischer Sicht muss man eigent­

lich formulieren: bei Anspruch von Wissenschaftlichkeit absolut unerlässlich – dass neutestamentliche Forschungsarbeiten in Zukunft die von Heinrich von Siebenthal vorgelegte Textgrammatik zur Koine zugrunde legen, wenn sie den Anspruch erheben, über die Textstruktur Auskunft zu geben.

Auch die Bedeutung der durch die GGNT gebotenen textgrammatischen Analy­

semöglichkeiten für die hier verfolgte Fragestellung nach Erzählstrukturen in den Paulusbriefen darf nicht unterschätzt werden: Es ist auf dieser textgrammatischen Basis, dass ein paulinischer Text oder Textabschnitt auf seine Erzählhaftigkeit hin befragt werden kann. In anderen Worten: Die textgrammatische Methodik von Heinrich von Siebenthal erlaubt eine präzise Beschreibung des Textes oberhalb der Satzebene und somit die Beurteilung der Fragen, (1) ob die für Narrativität kon-stitutiven Merkmale (siehe oben, Kapitel 3, Abschnitt 3.4) in einem Text gegeben sind oder nicht – und (2) wie die narrative Vertextungsstrategie präzise umgesetzt werden, welchen „Erzählstil“ die erzählenden Passagen der Paulusbriefe also aufweisen.

24 Siehe GGNT 298.

25 Zu beachten ist, dass im internationalen Diskurs über die Analyse der Textstruktur neutes­

tamentlicher Schriften die Rede von einer „text grammar“ teilweise mit dem besagten veralteten transphrastischen Textmodell assoziiert zu sein scheint (so versteht zumindest Porter, „ Discourse Analysis,“ 20 die Bezeichnung; vgl. wiederum AGG S. 569 zu „discourse analysis“). Die Verwen­

dungsweise von Heinrich von Siebenthal ist demgegenüber vor dem Hintergrund des sehr viel weiter gefassten integrativen Textmodells zu verstehen, welches Gansel und Jürgens, Textlingu-istik, 113 „Textgrammatik als pragmatische Grammatik“ verstehen lässt. Vgl. insbesondere auch Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 135 zur pragmatischen Dimension von Textgrammatik.

26 GGNT 297–354.

Dieses Kapitel führt einige Grundlagen der textgrammatischen Analyse nach Heinrich von Siebenthal – insbesondere mit Ergänzungen der Beiträge zum Hand-buch der deutschen Konnektoren (HDK 2) – ein, die folgenden beiden Kapitel expli­

zieren dann, wie ein narrativer Text gestaltet ist. Im Anschluss (Kapitel 7) wird ein Teilaspekt – die temporale Ordnung des Textes – in einem eigenen Kapitel aus­

führlicher besprochen. Bereits in den vorangehenden Kapiteln 5 und 6 wird jedoch immer wieder auf konkrete paulinische Erzählungen eingegangen. Die Verweise haben hier nicht einfach nur illustrative Funktion für die Einführung der textgram­

matischen Kategorien. Vielmehr liefern die so durchgeführten Klassifikationen bereits wichtige Erkenntnisse für die Charakterisierung von Paulus „als Erzähler.“

Ungeachtet dieses spezifischen Interesses der Arbeit sind die besagten Kapitel 4–7 aber auch als allgemeine Einführung in die textgrammatische Analyse nach Heinrich von Siebenthal verwendbar. Es wird zwar nur an wenigen Punkten in theoretischen Grundlagen von GGNT abgewichen, die zahlreichen Beispiele und insbesondere deren ausführliche Diskussion sollten jedoch einen leichte­

ren und umfassenderen Zugang zur Methode ermöglichen, als dies im Rahmen einer Grammatik geliefert werden kann. Es wurde der Versuch unternommen, die hierfür nötigen Konzepte möglichst kontinuierlich, aufeinander aufbauend ein­

zuführen. Völlig vermeidbar sind Vorgriffe jedoch nicht. Es bietet sich daher an, sich zunächst mit der prägnanten Einführung in GGNT 297 ff. vertraut zu machen.

4  Textkohärenz durch grammatische Mittel auf Ausdrucks-Ebene

Im Folgenden wird in einer groben Skizze dargestellt, wie sich die Struktur eines griechischen Textes auf Ausdrucks- („grammatischer“)27 und Inhalts-Ebene konstituiert. Auf dieser Grundlage kann dann nach den konkreten Merkmalen einer spezifisch narrativen Textstruktur gefragt werden.

Ein wichtiges grammatisches Mittel zur Bildung von Kohärenz auf der Ausdrucks­Ebene des Textes sind phorische bzw. deiktische Funktionswörter,28

27 Heinrich von Siebenthal spricht von der „grammatischen“ Seite des Textes „mit dem Satz als wichtigster Struktureinheit“ (GGNT 298). In dieser Arbeit ist bevorzugt von der „Ausdrucks­

Seite/Ebene“ die Rede (vgl. nun auch AGG 298: „… the grammatical side, i. e. the expression/

form side),“ um dem Beitrag der Lexis zur Kohäsion (vgl. GGNT 301) Rechnung zu tragen. Au­

ßerdem wird dadurch die parallele Verwendung zweier ‚Grammatik‘­Konzeptionen vermieden, wobei syntaktisch­grammatische Phänomene aus der weitergefassten textgrammatischen Pers­

pektive betrachtet werden.

28 Siehe GGNT 346–348.

welche einzelne Elemente des Textes aufeinander beziehen und so auch über größere Einheiten des Textes hinweg Verknüpfungen herstellen können, sodass

„ein enges Geflecht von kohärenzfördernden Beziehungen“ entsteht.29

Noch grundlegender für die Struktur des Textes sind jedoch Konnektoren, welche die Funktion von textuellen „Bindewörtern“ haben.30 Diese Funktion wird nicht von einer einzelnen Wortart übernommen, sondern von Konjunktionen,31 Relativa,32 Adverbien33 und Präpositionen (und folgendem Kasus).34 Die Syntax von Konstruktionen mit Konnektoren wird in Abschnitt 6 noch ausführlich besprochen. Zunächst wollen wir uns jedoch der inhaltlichen Seite zuwenden, die diesen Ausdrucks­Elementen entspricht.

Im Dokument Christoph Heilig Paulus als Erzähler? (Seite 183-188)