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Klassifikation von Textsorten anhand von Kommunikationsbereichen Abhängig von den Vorstellungen darüber, was einen ‚Text‘ ausmacht (dazu unten

2 Die mehrheitliche Skepsis

3  Eine textlinguistische Einordnung von Narrativität und Brieflichkeit

3.2  Klassifikation von Textsorten anhand von Kommunikationsbereichen Abhängig von den Vorstellungen darüber, was einen ‚Text‘ ausmacht (dazu unten

mehr, 4, Abschnitt  3), unterscheiden sich natürlich auch die Merkmale, nach denen in der Textlinguistik Texte klassifiziert werden. Im Folgenden wird mit dem Textverständnis und dem einhergehenden Textsorten­Modell von Gansel und Jürgens gearbeitet.78

Die beiden Linguisten nehmen in ihre Textsortenbeschreibung sowohl tex­

texterne als auch textinterne Faktoren auf.79 Entscheidend am Vorschlag der Autoren ist nun, dass sie eine hierarchische Textklassifizierung vorschlagen,80 die sich am Kommunikationsbereich als Dominante orientiert.

Gansel und Jürgens definieren als Ausgangspunkt ihres Ansatzes eine „Text­

klasse“ als das „Vorkommen einer Menge von Texten in einem abgegrenzten, durch situativ­funktionale und soziale Merkmale definierten kommunikativen

76 Wilk, Erzählstrukturen, 4. Genau genommen spricht Wilk hier von nicht­narrativen „Texten,“

deren Struktur „nach ihrerseits der jeweiligen Textsorte entsprechenden Gesichtspunkten zu er­

mitteln“ sei. Es ist hier aber wohl kaum an Textsorten gedacht, die von den so kategorisierten Texten abweichen.

77 Während die erzählenden Schriften nach Wilk grundsätzlich eine Textsorte „Erzählung“

konstituieren und in ihren „Bausteinen“ ebenfalls oft Erzählungen liefern, räumt er durchaus ein, dass auch die „nicht­narrativen“ Texte solche narrativen Bausteine aufweisen können. Die Terminologie ist aber zumindest irreführend und die Tatsache, dass im Buch keine narrativen Textteile aus Briefen diskutiert werden, trägt zur Verfestigung dieser Dichotomie bei.

78 Vgl. hierzu insbesondere Gansel und Jürgens Textlinguistik, 53–112.

79 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 60.

80 Es ist daher darauf zu achten, dass Gansel und Jürgens Bezeichnungen als hierarchisch auf­

einander bezogen verwenden, die bei anderen Textlinguisten synonym verwendeten werden (z. B. Textsorte und ­klasse).

Bereich, in dem sich Textsorten ausdifferenzieren.“81 Die Klasse umfasst also eine Vielzahl an Textsorten, die darüber vereint sind, dass sie im selben „Kommunika­

tionsbereich“ eine Rolle spielen.

Ein solcher Kommunikationsbereich wären etwa die Massenmedien und eine Textsorte aus diesem Kommunikationsbereich beispielsweise der Kommentar.

Der Kommentar ist natürlich nur eine von mehreren Textsorten, die in diesem Kommunikationsbereich eine Rolle spielen. Dazu gehören außerdem noch Texte wie Bericht, Reportage und Leserbrief. Um zu verstehen, wie genau die besagte

„Rolle“ aussieht, bemühen Gansel und Jürgens Einsichten aus der Systemtheorie.

Aus systemtheoretischer Perspektive kann das Konzept des ‚Kommunikati­

onsbereichs‘ mit verschiedenen „sozialen Systemen“ in Verbindung gebracht werden, wobei differenziert wird zwischen dem sozialen System der „Gesellschaft“

und den in diese integrierten „Interaktions­ und Organisationssystemen.“82 Die Gesellschaft weist „funktional ausdifferenzierte … gesellschaftliche Teilsysteme“

(Religion, Recht, Erziehung, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Massenme­

dien etc.) auf.83 Überall, wo Menschen im Alltag miteinander interagieren (z. B.

in der Familie) entstehen zudem die ihrem Wesen nach recht brüchigen Interak­

tionssysteme. Die Organisationssysteme hingegen kommen dem nahe, was in der sozialwissenschaftlich orientierten Linguistik als „Institutionen“ bezeichnet wird (z. B. Gericht, Schule, Universität).

All diese Systeme kommunizieren und bringen dabei sehr spezifische Texts­

orten hervor, durch welche die einzelnen Bestandteile miteinander in Beziehung stehen. Über die Systemtheorie lässt sich nun auch das Netzwerk an Beziehungen zwischen den verschiedenen Textsorten verstehen:84

Die Systemtheorie geht davon aus, dass soziale Systeme immer anschlussfähig operieren müssen, das bedeutet, dass soziale Systeme aufhören müssten zu existieren, wenn sie nicht kommunizieren.

Ein in modernen Gesellschaften funktional ausdifferenziertes soziales System wären auch die Massenmedien.85 Der Bericht stellt etwa eine sogenannte „Kern­

textsorte“ dar, also eine Textsorte, die „konstitutiv“ für das in Frage stehende soziale System ist.86 Die Textsorte des Kommentars hat hingegen ihren Platz im System als „Anschlusskommunikation“ in Bezug auf den Bericht. Der Leserbrief

81 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 70.

82 Luhmann, Soziale Systeme.

83 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 76.

84 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 77.

85 Vgl. für dieses Beispiel Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 71.

86 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 78.

wiederum reagiert auf die Reportage, usw.87 Da soziale Systeme zwar als „ope­

rativ geschlossen“ aber zugleich umweltoffen gelten, können Textsorten auch über den Kommunikationsbereich hinauswirken. Neben „Irritationen und Ein­

flussmöglichkeiten“ kann es auch zu dauerhaften Beziehungen zwischen sozia­

len Systemen kommen, die als „strukturelle Kopplungen“ bezeichnet werden.88 Auch der Leserbrief kann letztlich als ein solcher Fall betrachtet werden, da hier ein Individuum (ein psychisches System) mit dem Mediensystem interagiert.89 Kontaktanzeigen wiederum ermöglichen eine strukturelle Kopplung mit den Interaktionssystemen Freizeit, Familie, Liebe und Erotik, Todesanzeigen stellen zumindest teilweise eine Verbindung zum gesellschaftlichen Teilsystem Religion und zum Organisationssystem Kirche her.90

Die Textsorten innerhalb eines Kommunikationsbereichs können geordnet werden, indem eine hierarchische Textklassifikation durchgeführt wird. Dabei werden Kategorien gebildet, die mehrere Textsorten in sich vereinen und auf einer höheren Ebene wiederum in einer größeren Kategorie aufgehen. Dabei ent­

spricht die Ebene der Textsorte dem, was man in vergleichbaren Klassifikatio­

nen nach Stufenfolgen als „Gattung“ bezeichnet (was nicht mit der literarischen

„Gattung“ verwechselt werden darf).91

Unterhalb der Ebene der Textsorte könnte man daher auch von „Textarten“

sprechen.92 Gansel und Jürgens bevorzugen jedoch die Rede von „Textsortenva­

rianten,“ um die spezifische Beziehung zur übergeordneten Kategorie der Texts­

orte zu verdeutlichen. Dieses Verhältnis von Textsorte zu Textsortenvariante kann mit Hilfe des Konzepts des ‚Musters‘ verstanden werden.93 Es handelt sich bei diesem Muster nach Heinemann um einen Aspekt des „Interaktionswissens der Kommunizierenden.“94 Man kann ein Textsortenmuster folglich als einen gesell­

schaftlich geprägten normativen Leitfaden betrachten, nach dem bestimmte kommunikative Aufgaben gelöst werden.95 Während bei der Rede von der Texts­

orte die Perspektive der Klassifikation von Texten eingenommen wird, ist mit dem

87 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 71.

88 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 77, aufbauend auf Luhmann, Soziale Systeme, 117.

89 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 78.

90 Zu Todesanzeigen als Textsorte siehe Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 100–103.

91 D. h. vergleichbar zu etwa der „Gattung“ Homo in der Biologie, zu welcher die Art H. sapiens gehört. Besagte Gattung ist wiederum Teil der Familie der Menschenaffen, welche zur Ordnung der Primaten gehört. Diese wiederum gehört zur Klasse der Säugetiere.

92 Vgl. Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 72.

93 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 72.

94 Heinemann, „Textsorte,“ 519.

95 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 93 sprechen hier etwas kompliziert von einer „Instanz der Reflexivität von Kommunikation.“

Text(sorten)muster primär an die Perspektive des Textproduzenten gedacht, der sich die Konventionen seiner eigenen Kommunikationssituation bewusst macht.

Da sich diese Konventionen im Laufe der Zeit auch ändern können, entstehen auf diese Weise Textsortenvarianten.96 Textsorten und Textmuster sind also mitein­

ander verbundene Konzeptionen, die aber letztlich auseinandergehalten werden müssen. Letztlich ist es auch gut möglich, dass eine Textsorte völlig verschiedene (d. h. nicht bloß „variierte“) Muster an ihrer Basis aufweist. Gansel und Jürgens führen das Beispiel einer rektoralen Antrittsrede an, die verschiedenen Textmus­

tern folgen kann (reine Fachrede, Fachrede mit gesellschaftlichem Bezug, hoch­

schulpolitische Administrationsrede).97 Es ist von derselben Textsorte zu spre­

chen, da „die kontextuellen, äußeren Bedingungen“ konstant sind.98

Oberhalb der Ebene der Textsorte werden die Bezeichnungen Familie, Ordnung und Klasse verwendet, um umfassendere Kategorien zu bezeichnen, wobei die Textklasse, wie eingangs erwähnt, den gesamten Kommunikations­

bereich abdeckt, in welchem sich die Textsorten ausdifferenzieren. Im Folgen­

den soll am Beispiel der Textsorte Kommentar kurz dargelegt werden, wie sich dieses abgestufte System in der Praxis gestalten kann. Idealtypisch handelt es sich beim Kommentar um einen argumentativen Text mit der Schlussfolgerung der eigenen Meinung. Durch Variation dieses Musters ergeben sich verschiedene Textsortenvarianten innerhalb dieser Textsorte Kommentar. Gansel und Jürgens nennen den Einerseits­Andererseits Kommentar (in dem das Fazit häufig fehlt), Pro­Kontra­Kommentar, Meinungsartikel (der gegenüber der letztgenannten Variante eher vorsichtig vorgeht), Kurzkommentar (mit wenig Platz für eigene Argumente, aber viel rhetorischer Zuspitzung), Pamphlet (welches ganz ohne Argumente auskommt).99 Diese vielgestaltige Textsorte des Kommentars gehört nun auf einer höheren Ebene der Klassifikation zur Familie der Meinungstexte.

Andere Textsorten dieser Familien wären die Glosse und die Satire.100 Die Familie der Meinungstexte wiederum kann als Bestandteil der höherliegenden Ordnung des Journalismus verstanden werden. Andere Familien in derselben Ordnung wären Informationstexte (welche wiederum die Textsorten Bericht und Meldung

96 Vgl. Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 93.

97 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 92. Sie beziehen sich hierbei auf Meiburg, Rektoratsan-trittsreden.

98 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 92. Mehr noch: „Man kann als Rektor einer Universität … auch eine Antrittsrede halten, die sich nicht am Muster der Reden der Vorgänger­Rektoren des gesamten Jahrhunderts einer Universität orientiert, dennoch bleibt die Rede eine Rektoratsan­

trittsrede, weil sie in entsprechender Situation gehalten wird“ (Gansel und Jürgens, Textlinguis-tik, 93).

99 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 72.

100 Gansel und Jürgens, Textlinguistik, 71.

beinhaltet) und Unterhaltungstexte. Die Ordnung Journalismus stellt wiederum nur eines von mehreren „Subsystemen“ des Kommunikationsbereichs Massen­

medien dar.101 Andere Ordnungen derselben Klasse wären Öffentlichkeitsarbeit und Werbung. Diese Ordnungen enthalten selbst wiederum Textsorten, welche sich je verschiedenen Familien zuordnen lassen.

3.3  Die Paulusbriefe als Teil einer Textsorte im frühchristlichen