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5 Anmerkungen zum Erzählten

5.3  Plot und Thema

Sehr häufig begegnet in der Analyse von Erzählungen die Rede vom „Plot“ oder von der „Handlung.“ Gemeint ist damit hier nicht nur (a) die Gesamtmenge sämt­

licher Geschehnisse einer Erzählung,213 sondern im Gefolge von Köppe und Kindt spezifischer (b) ‚die chronologische Abfolge und sinnhafte Verknüpfung der zen­

tralen Ereignisse eines Erzählwerks.‘214 Diese Definition lässt sich nicht nur auf Erzählwerke, sondern auch auf komplexere narrative Vertextungen innerhalb der Paulusbriefe, wie etwa Gal 1,13–2,21, anwenden.

An dieser Stelle ist vor allem der wichtige Umstand festzuhalten, dass der Plot – entgegen einer häufig anzutreffenden Verwendung des Terminus in den Bibelwissenschaften – „strenggenommen … kein Element eines Erzähltextes“ ist, sondern vielmehr „eine bestimmte (wertende, interpretierende, abstrahierende) Weise, einen Erzähltext zu beschreiben.“215

Das Ordnen der Ereignisse der Erzählung in die chronologische Folge auf der Ebene des Erzählten216 ist zwar zumindest in prägnanteren Texten aufgrund der vor­, nach­ und gleichzeitigen Konnektoren häufig noch recht problemlos möglich (siehe aber unten, Kapitel 8, Abschnitt 5.4.2.5 zu Unsicherheiten, die etwa schon im Fall von Gal 2,11 auftreten). Bereits die Unterscheidung zwischen zentralen und marginalen Vorkommnissen, welche im nächsten Schritt zu erfolgen hat, setzt aber in der Regel recht umfassende Interpretationen voraus.217

Das zum Plot Gesagte gilt in gesteigertem Maß für die Rede vom „Thema“218 einer Erzählung:219

[A]uch die Bestimmung des Themas eines Erzähltextes [hängt] von Interpretationen [ab], in deren Rahmen man u. a. rekonstruieren, gewichten und werten muss. Entsprechend kann man vielen Texten, je nach zugrunde gelegter Interpretation, mehrere verschiedene Themen

213 Zu darüber hinaus möglichen Schlussfolgerungen über Dinge, die in der Welt, in welcher sich die erzählte Handlung zuträgt, siehe unten, Kapitel 17, Abschnitt 3.3.2.

214 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 104. Die Autoren weisen darauf hin, dass im englischspra­

chigen Bereich mit „plot“ etwas gemeint ist, das sie „Handlungsmuster“ oder „Plottyp“ nennen:

‚die gemeinsamen Grundstrukturen der Handlungen verschiedener Erzähltexte‘ (Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 112). Siehe aber auch Dannenberg, „Plot Types,“ 439–440, die ebenfalls diese terminologische Differenzierung vornimmt.

215 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 107.

216 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 105.

217 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 106.

218 Dieses narratologische Konzept des ‚Themas‘ darf nicht verwechselt werden mit der auch in der textlinguistischen Forschung verbreiteten Rede vom „Thema.“ Siehe oben, Kapitel 1, Ab­

schnitt 3.4.

219 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 111–112.

zuordnen. Das Thema einer Erzählung gehört, wie auch die behandelte Ereignisfolge sowie der Plot, zu den semantischen Eigenschaften einer Erzählung. Entsprechend kann man auch sagen, dass eine Erzählung von einem Thema handelt bzw. ein Thema behandelt. Für die Rekonstruktion eines Themas sind jedoch vergleichsweise starke Abstraktionsschritte erforderlich. In den meisten Fällen dürfte die Bestimmung eines Themas voraussetzen, dass man Ereignisse und Plotstrukturen bereits rekonstruiert hat.

Gerade anhand der Rede von verschiedenen „Handlungssträngen“ einer Erzäh­

lung lässt sich das Wesen des Plots gut illustrieren. Im Fall von komplexeren Erzählwerken kann oft beobachtet werden, dass die Handlung im Sinn der

„Summe des Geschehens“220 letztlich als auf verschiedene Handlungen im hier definierten Sinn verteilt verstanden werden kann. Gemeint sind damit „in beson­

derer Form miteinander verbundene und darum mehr oder weniger eigenstän-dige, sinnhaft verknüpfte Ereignisfolgen.“221

In der Regel sind diese verschiedenen Handlungen im Text nun aber gerade nicht strikt getrennt, sodass letztlich etwa zwei Erzählungen über beispiels­

weise zwei verschiedene Figuren aneinandergereiht wären. Es handelt sich in solchen Fällen vielmehr um eine Erzählung, in welcher zwischen verschiedenen im Zentrum stehenden Handlungsorten und Erzählfiguren hin und her gesprun­

gen wird. Meist entsteht erst in der Auswertung des Erzählten durch den Leser eine Wiedergabe mehrerer „Geschichten.“ Diese Auswertung des Geschehens der erzählten Welt ist aus Leserperspektive wiederum so natürlich, dass dabei leicht übersehen werden kann, dass die Erzählung unter Umständen an keiner Stelle explizit zwischen verschiedenen Handlungen differenziert und ihren Zusammen­

hang spezifiziert.222

Handlungsstränge lassen sich generell anhand verschiedener Parameter dif­

ferenzieren, wobei der Fokus auf unterschiedliche Figuren (und damit verbun­

den: Orte) am häufigsten ist. „Verbunden“223 sind sie oft über einzelne Ereignisse oder Episoden, in welchen etwa die bisher unabhängig voneinander agierenden Figuren zusammen auftreten.224 Sie müssen sich jedoch in der erzählten Welt nicht notwendigerweise zu einem bestimmten Zeitpunkt begegnen, sondern

220 Asmuth, „Handlung,“ 6.

221 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 108. Hervorhebung nicht hinzugefügt.

222 Sätze wie der folgende sind typisch für Zusammenfassungen von literarischen Werken und nicht für deren Beginn: „In dieser Erzählung geht es um X und um Y und darum, wie die beiden Schicksale miteinander verbunden sind.“

223 Vgl. Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 109–110.

224 Vgl. Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 108.

können auch indirekter miteinander in Beziehung stehen, beispielsweise über einen gemeinsamen Kontext (z. B. Berlin des 19. Jahrhunderts).225

Ist also von mehreren Handlungssträngen innerhalb einer Erzählung die Rede, so ist damit gemeint, „dass in einem Erzähltext mehrere Plots angelegt sind.“226 Die Identifikation dieser Plots und die darüber noch hinausgehende Fragestellung, wie diese aufeinander bezogen sind – ob es etwa einen Hauptplot und mehrere unterstützende Plots gibt – ist daher nicht selten mit erheblichem Interpretationsaufwand verbunden.227 Im Rahmen dieser Arbeit wird teilweise auch im Hinblick auf konzise Erzählungen von einem Wechsel der „Handlungs­

stränge“ gesprochen, wenn z. B. ein auffälliger Wechsel des Agens vorliegt. Eine solche Klassifikation ist dann oft nicht alternativlos,228 auch wenn im Einzelfall aus Platzgründen nicht immer die im Hintergrund stehenden interpretativen Ent­

scheidungen begründet werden können.

Insofern die Interpretationen von Erzählungen nicht willkürlich ist, sondern im Rahmen bestimmter Interpretationstheorien gemeinsamen methodologi­

schen Vorgaben folgt, können sie vor diesem Hintergrund natürlich auch bewer­

tet werden (vgl. unten, Kapitel 5, Abschnitt 5.2.2 zur Interpretation von Gal 1,13–17 durch Barclay). Verschiedene Beschreibungen der Gesamthandlung des Gesche­

hens einer Erzählung als einen bestimmten Plot konstituierend oder auf mehrere Handlungsstränge zerfallend können daher durchaus in begrenztem Rahmen miteinander verglichen und als unterschiedlich plausibel bewertet werden.

Nicht vergessen werden darf dabei aber, dass die Beschreibung des Plots von der grundsätzlichen „Verständnisweise“ abhängig ist, mit welcher der Text gelesen wird.229 Diese Weichenstellungen der Lektüre haben oft mit Vorannahmen über

225 Für konkrete literarische Beispiele siehe Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 109–110, Richard­

son, „Causality,“ 52 und O’Neill, „Narrative Structure,“ 368–369.

226 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 109. Hervorhebung nicht im Original.

227 So identifiziert Kingsbury, Matthew as Story im Matthäus­Evangelium hauptsächlich den auf Jesus bezogenen Plot, argumentiert jedoch, dass die Handlung nicht einfach als ein zusammen­

hängendes Ganzes verstanden werden soll, sondern manche Handlungszusammenhänge den weiteren Handlungssträngen der religiösen Führer Israels und der Jünger Jesu zuzurechnen sind.

Thematisch (!) sei das Element des Konflikts zentral. Powell, „Plots and Subplots,“ 199–203 ver­

tritt demgegenüber die Position, dass die Haupthandlung durch den Konflikt zwischen Gott und Satan konstituiert sei. Das Verhältnis von Jesus zu den religiösen Führern auf der einen Seite und zu seinen Jüngern auf der anderen Seite liefere zwei Sub­Plots (S. 203): „These subplots add depth to the narrative by sometimes developing in ways that are tangential to the main plot line, but they are also related to the main theme and ultimately serve to advance its interests.“

228 Für eine ausführliche Darstellung der möglichen Komplikationen solcher Beschreibungen siehe unten, Kapitel 17, Abschnitt 3.

229 Vgl. Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 106–107 am Beispiel von Woody Allens Kurzgeschichte

„Der oberflächlichste Mensch, der mir je begegnet ist.“

Kontext und Pragmatik des Textes zu tun. Sie lassen sich nur sehr begrenzt durch Argumente über die vom Erzähler konkret gewählten Ausdrucksmittel im Text beeinflussen.230

Auch wenn in der neutestamentlichen Exegese nicht selten umfassende Beschreibungen der Handlung bemüht werden, um zu klären, „worum es in der Erzählung geht,“ ist ein solches Vorgehen daher nicht unproblematisch: „Wer beurteilen will, welche Vorkommnisse einen Plot voranbringen und auf welche Vorkommnisse ohne Konsequenzen verzichtet werden kann, der muss bereits über ein Verständnis der Erzählung verfügen.“231

Entsprechend ist beispielsweise auch der Wert des von Finnern und Rüg­

gemeier gekonnt vorgestellten „Spielplan[s] für Handlungen“232 als Analyseins­

trument sehr fraglich. Man mag dadurch das in der Interpretation gewonnene Verständnis der Erzählung nachvollziehbar abbilden können,233 derartige Opera­

tionen „sind aber nicht als Verfahren zu verstehen, mit deren Hilfe sich die Hand­

lung einer Erzählung rekonstruieren lässt.“234

Es ist also zu beachten, dass die dem Text „entnommenen“ Plots und Themen signifikant divergieren können. Oft lässt sich auch die „richtige“ Beschreibung dieser inhaltlichen Größen nicht generell bestimmen, weil die verschiedenen Auslegungen von ganz grundsätzlich verschiedenen Verstehensweisen abhän­

gig sind. Zugleich ist für eine Arbeit, die sich als Beitrag zur neutestamentlichen Exegese versteht, auch wichtig, dass sie solche Fragestellungen nicht ausklam­

mert, sondern soweit als möglich berücksichtigt.235 Es muss daher im nächsten Abschnitt 6 zumindest noch ansatzweise darauf eingegangen werden, wie die narratologische Aufgabe sich zu konkreten Textinterpretationen verhält und wie in der vorgelegten Arbeit deskriptive und interpretative Operationen aufeinander bezogen sind.

230 Siehe unten, Abschnitt 6.3.3 und Kapitel 5, Abschnitt 5.2.2 zu Gal 1,13–17.

231 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 106. Hervorhebung hinzugefügt.

232 Finnern und Rüggemeier, Methoden, 219–225.

233 Insofern diese Abbildung dabei hilft, auch im Vollzug der Textanalyse sich selbst Zwischen­

stände der eigenen Interpretation vor Augen zu halten, kann darin natürlich durchaus auch ein gewisser heuristischer Wert bestehen.

234 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 106 im Hinblick auf Entwürfe wie der von Chatman, Story and Discourse, 53–54.

235 Zur Annahme, dass die Exegese neutestamentlicher Texte kein ausschließlich deskriptives Bestätigungsfeld darstellt, siehe unten, Abschnitt 6.3.3.

Im Dokument Christoph Heilig Paulus als Erzähler? (Seite 155-159)