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Forschungsgeschichtliche Entwicklung

Im Dokument Christoph Heilig Paulus als Erzähler? (Seite 162-166)

6 Aufgabe und Umfang der Erzähltheorie

6.2  Forschungsgeschichtliche Entwicklung

Eine Antwort auf diese Frage kann nicht ganz ohne Berücksichtigung der histori­

schen Entwicklung der Beschäftigung mit Erzählungen erfolgen, auch wenn die detaillierteren Entwicklungen und die Differenzierungen innerhalb verschiede­

ner Schulen uns hier nicht zu sehr zu beschäftigen brauchen.255

Die Kategorie der „Erzähltheorie“ taucht in dieser Bezeichnung wohl erst­

mals in einer Überschrift in Eberhard Lämmerts, Bauformen des Erzählens auf.256 Diese Arbeit, welche auch in der deutschsprachigen Exegese breite Aufnahme gefunden hat,257 gehört jedoch noch der von Köppe und Kindt sogenannten „Eta­

blierungsphase“ der Erzähltheorie an, geht der „endgültigen Durchsetzung des Forschungsfeldes“ damit noch voraus.258

Diese Periode zwischen den 1950er und 1970er Jahren wird von Köppe und Kindt dahingehend charakterisiert, dass sich die Erzähltheorie „in Weiterfüh­

rung vor allem formalistisch­strukturalistischer, aber auch morphologischer und rhetorischer Traditionen … zu einem eigenständigen und zunehmend beachteten Bereich literaturwissenschaftlicher Theoriebildung“ entwickelt.259 Die einfluss­

reichsten Beiträge aus dieser Zeit können mit dem französischen Strukturalismus in Verbindung gebracht werden. Dazu gehören etwa Gérard Genettes Discours du récit260 und die Arbeit von Algirdas Julien Greimas, der an Vladimir Propps frühere These allgemeiner Strukturmuster in den Handlungen russischer Zauber­

märchen anknüpft.261

254 Charpa, Grundprobleme, 95. Die beiden Substantive sind im Original hervorgehoben.

255 Siehe hierfür Meister, „Narratology.“

256 Lämmert, Bauformen, 62. Durchaus signifikant tritt der Terminus im Plural auf: „Die Bedeu­

tung der Verknüpfungsformen in verschiedenen Erzähltheorien.“ Zu Lämmert, Bauformen siehe auch Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 18–19.

257 Vgl. etwa Wolter, Lukasevangelium.

258 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 20.

259 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 18. Die Beiträge der vorangehenden „Formierungsphase“ tei­

len die Autoren als zu den Forschungsbereichen „der literaturwissenschaftlichen Romantheorie und der volkskundlichen Märchenforschung“ gehörend ein (Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 17).

260 Vgl. die deutsche Ausgabe Genette, Erzählung.

261 Greimas, Sémantique structurale. Propp, Morphologie. Für einen prägnanten Überblick über die Beiträge von Propp, Lévi­Strauss, Greimas, Bremond, Todorov und Lotman siehe Renner,

„Erzähltextanalyse.“

Sofern in der neutestamentlichen Exegese von „Erzähltheorie“ die Rede ist, wird damit noch immer nicht selten auf den Forschungsstand dieser Zeit Bezug genommen.262 Hays’ 1983 veröffentlichte Arbeit entsteht zu einer Zeit, als die Erzähltheorie „zu einem etablierten und bei aller Vielfalt klar profilier­

ten Theoriebereich der Text­ und Kulturwissenschaften geworden ist.“263 Es wäre jedoch verfehlt, Hays’ Arbeit vor allem unter dem Gesichtspunkt der Anleihen bei Greimas narratologisch zu bewerten.264 Sein Hauptanliegen bestand nie in der Anwendung bestimmter Kategorien oder methodischer Werkzeuge auf die Paulusbriefe. Schon in der ursprünglichen Auflage macht er klar, dass die Über­

nahme der Greimas’schen Aktantenanalyse für ihn lediglich einem heuristischen Zweck dient und er tiefergehende strukturalistische Annahmen nicht automa­

tisch mitübernimmt.265 Erhellend ist in diesem Zusammenhang aber vor allem auch, wie Hays selbst in der Retrospektive auf die konkreten erzähltheoretischen Anleihen blickt, mit welchen er die eigentliche Auseinandersetzung, seinen Kampf mit Bultmann (Hays spricht von einem „battle“266), bestritten habe. So meint er etwa, beinahe despektierlich,267 er habe für diesen Zweck alle möglichen Methoden in den Dienst genommen, welche er in die Hände habe bekommen können, und in seinem Eröffungskapitel eine eklektische Ansammlung verschie­

dener Forscher „zusammengeschustert.“268 Von besonderer Relevanz ist, welche

262 Vgl. für einen guten Überblick Finnern, Narratologie, 23–27.

263 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 19.

264 Siehe Hays, Faith, 82–95. Vor diesem Hintergrund ist auch die Kritik von Lee, „Richard B.

Hays“ kritisch zu bewerten, auch wenn seiner Bestandsaufnahme auf S. 434 eigentlich voll zu­

zustimmen ist: „Witherington … admits the contribution of such scholars as R. B. Hays, N. R.

Petersen, S. Fowl, and N. T. Wright in considering Paul’s so­called holistic narrative thought world. However, he does not spell out any specific methodology by which he finds narrative ele­

ments from non­narrative texts. Rather, he jumps directly to the explanation of Paul’s narrative thought. Alternately, Hays and Wright seem to suggest a solid­looking method in order to obtain narrative elements from the letters. Nevertheless, their method is problematic.“ Das Grundprob­

lem ist jedoch wohl gar nicht so sehr die Methodik, sondern befindet sich noch grundsätzlicher auf der theoretischen Ebene der Vorannahmen zum Untersuchungsgegenstand.

265 Siehe dazu bereits in der ursprünglichen Auflage Hays, Faith, 83–84, insbesondere 84, Fuß­

note 41.

266 Hays, „Introduction,“ xxvi.

267 Vgl. aber auch die Rede von „earnest methodological reflections“ in Kapiteln 1 und 3. Hays’

Rhetorik ist im Zusammenhang mit der Befürchtung zu lesen, Skepsis gegenüber seinem Werk­

zeug könnte im Weg stehen mit „substantive engagement with the issues I have sought to raise about interpretation of the text“ (Hays, „Introduction,“ xxvii).

268 Hays, „Introduction,“ xxvi: „In order to fight this battle I enlisted the aid of whatever meth­

ods came to hand. In Chapter I, I cobbled together an eclectic assemblage of insights from various critics.“

Rolle er in diesem Kontext Hendrikus W. Boers zuweist, dessen Beitrag zu Hays’

Forschungsarbeit im ursprünglichen Vorwort noch so zusammengefasst wird, dass eines seiner Seminare dazu beigetragen habe, Hays auszurüsten mit „the oppportunity to employ linguistic methodologies for investigating the function of πίστις in Romans and Galatians.“269 Über zwanzig Jahre später kommt ihm in der Retrospektive eine durchaus facettenreichere Rolle zu. Hays kommentiert seinen Gebrauch von an Greimas orientierten „structuralist methodologies“270 als vor allem auf ihn zurückgehend:271

This chapter particularly reflects the intellectual gravitational pull of Hendrikus Boers

…, who was then engaged in dialogue with structuralism – a theoretical movement much discussed in the 1970s but now as thoroughly superseded as disco music, or as my Smith­

Corona typewriter. Candidly, I thought even then that structuralism offered a singularly mechanistic and barren approach to reading texts, but Professor Boers strongly encouraged his graduate students to work with these methods.

Auch wenn er daran festhält, dass sich diese Methodik als erstaunlich fruchtba­

res heuristisches Werkzeug für seinen Gegenstand herausgestellt hätte, ist es ihm 2002 doch wichtig zu betonen, „the argument of the dissertation does not ride upon these methods or upon the results produced by them.“272

Wright, der sich etwas später, am Übergang der 1980er zu den 1990er Jahren, mit der Thematik beschäftigt, nimmt die Kritik am Strukturalismus bereits deut­

licher wahr und formuliert sogar schon zurückblickend, dieser sei „already somewhat passé.“273 Seinen Rückgriff auf die Aktantenanalyse von Greimas will er daher dezidiert als „within the service of a broader historical and hermeneu­

tical programme“ verstanden haben.274 Auch in seinem großen Paulusbuch Paul and the Faithfulness of God aus dem Jahr 2013 verwendet Wright noch immer die Greimas’sche Aktantenanalyse,275 wie Joel White jedoch nachgewiesen hat, gebraucht auch Wright die Methode nicht „as a heuristic tool for bringing the narrative substructure of texts to the surface. He does not really rely on it, in other

269 Hays, „Introduction,“ xvii.

270 Hays „Introduction,“ xxvi.

271 Hays „Introduction,“ xxvii. Für den Verweis auf die Schreibmaschine, siehe Hays, „Intro­

duction,“ xxi.

272 Hays, „Introduction,“ xxvii. In Bezug auf seine eigene Praxis schließt er den Abschnitt mit folgenden vielsagenden Worten ab (Hays, „Introduction,“ xxvii): „Since departing from Emory I have not used structuralist methods in my subsequent exegetical work, nor do I expect that I shall do so in the future.“

273 Wright, New Testament, 70.

274 Wright, New Testament, 70.

275 Wright, Faithfulness.

words, to analyze texts, but rather to graphically depict the underlying narratives he believes are there on other grounds.“276

Dieser Blick in die Vergangenheit zeigt: Es würde den verwandten grundsätz­

lichen Anliegen von Hays und Wright nicht gerecht werden, würde man diese zusammen mit den von ihnen aufgegriffenen strukturalistischen „Erzähltheo­

rien“ verwerfen (vgl. auch Kapitel 2, Abschnitt 1). Ziel muss es vielmehr sein, Hays’ und Wrights grundsätzliche Thesen vor dem Hintergrund des Forschungs-standes der aktuellen Erzähltheorie zu bewerten. Die Sorge einer mit einem „nar­

rative approach“ einhergehenden Verpflichtung gegenüber einem bestimmten und noch dazu veralteten narratologischen Entwurf scheint etwa in der grund­

sätzlichen Kritik von R. Barry Matlock durchzuschimmern:277

It may have made sense – assuming a theory of narrative is what is wanted – for Hays, as a doctoral student in the late 1970s and early 1980s, to turn to the narrative theory of Greimas.

This choice is less obvious, however, twenty years later … It is not just that structuralism as a movement is no longer current. Structuralism, narratology, and semiotics themselves have not stood still since the narrative theory of the early Greimas … But then we ought to ask whether it is really a theory of narrative that we want … [D. h.: Anstelle etwa des Kon­

zepts der Intertextualität.] And even if we prefer to retain ‚narrative,‘ we should still ask whether it is a theory of narrative, exactly, that we need.

Wo steht die Erzähltheorie heute? Nach einer durch Kritik am Strukturalismus bedingten Krise der Erzähltheorie befindet sich diese seit den 1990er Jahren wieder im Aufschwung, eine Zeit, welche Köppe und Kindt als „Pluralisierungs­

phase“ bezeichnen. Sie ist gekennzeichnet durch die Entwicklung der Erzähltheo­

rie „aus einem vergleichsweise einheitlichen Bereich literaturwissenschaftlicher Theoriebildung zu einem umkämpften Feld interdisziplinärer Diskussionen.“278

Dabei spielt einerseits die Frage nach dem „methodischen Profil“ der Erzähl­

theorie – die Frage, ob sie im Anschluss an die Kognitionswissenschaften umge­

staltet werden sollte – und die nach der „konzeptuellen Ausrichtung“ eine Rolle.279 Mit letzterem Aspekt kann sowohl eine Erweiterung im Hinblick auf den oben genannten „Daten“ gemeint sein (also ein Blick über literarische Werke hinaus)280 als auch die Diskussion um die „Funktion.“

276 White, „Narrative Approach,“ 189.

277 Matlock, „Arrow,“ 49.

278 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 20.

279 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 20–21.

280 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 21.

Im Dokument Christoph Heilig Paulus als Erzähler? (Seite 162-166)