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Erzählerische Entscheidungen

Im Dokument Christoph Heilig Paulus als Erzähler? (Seite 140-153)

4 Anmerkungen zum Erzählen

4.1  Erzählerische Entscheidungen

Derselbe Stoff kann von unterschiedlichen Erzählern ganz unterschiedlich erzählt werden. Die Tatsache, dass Erzählungen mit demselben Gegenstand oft ganz unterschiedlich rezipiert werden, weist mit Nachdruck darauf hin, wie zentral die vom Erzähler getroffenen Entscheidungen in der Präsentation des Stoffes sind. Teilweise wurde bereits in der vorangehenden Diskussion auf die

132 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 43. Hervorhebung hinzugefügt.

133 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 101.

134 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 102.

Signifikanz erzählerischer Entscheidungen für bestimmte Lexeme verwiesen. Da die Gestaltungsmöglichkeiten für paulinische Erzählungen stark von den spezi­

fischen Vorgaben des Griechischen abhängig sind (und diese unten, Kapitel 6 ausführlich entfaltet werden), soll hier nur ganz kurz auf die Bandbreite der zu berücksichtigenden Phänomene hingewiesen werden.

Der grundsätzlichste Parameter, hinsichtlich dessen dem Erzähler Wahl­

möglichkeiten offen stehen, ist wohl die Wortwahl. Peter kann sich sowohl „ins Ausland absetzen“ als auch „fliehen,“ „den Verfolgern entwischen“ oder ihnen

„durch die Lappen gehen.“ Und das Hängen des Apfels am Baum könnte alter­

nativ – und teilweise metaphorisch – mit ganz verschiedenen Schwerpunktset­

zungen und kommunikativen Effekten auch als „Baumeln“ (Im Wind, der ihm noch zum Verhängnis werden würde!), „Befestigtsein“ (Von wem? Und wie sicher ist die Verbindung?), „Warten“ (auf die Erfüllung seines natürlichen Zwecks, verspeist zu werden!) etc. zum Ausdruck gebracht werden. Letztlich impliziert bereits schon die Wahl für „herunterfallen“ statt „hinunterfallen“ einen Stand­

punkt am Boden (nicht auf Höhe des Apfels), von welchem aus das Geschehen beobachtet wird. Die im Griechischen durch den Aspekt mögliche Nuancierung in der Darstellung des Geschehens wird im Deutschen über Ersatzkonstruktionen erzielt („der Apfel fiel“ vs. „der Apfel befand sich im Fall“).

Wird ein fallender Apfel beobachtet und dieses Ereignis dann sprachlich lexi­

kalisch oder aspektuell unterschiedlich zum Ausdruck gebracht, so steht zwar derselbe reale Sachverhalt im Hintergrund, das Erzählte ist jedoch nicht iden­

tisch. Diese Unterschiede können mit dem Konzept der ‚Konzeptualisierung‘

erfasst werden, also mit einer variierenden Präsentation der Geschehnisse, die bei den Lesern divergierende mentale Entwürfe der Situationen bewirken.135

Auch der Satzbau kann ganz unterschiedlich gestaltet sein. Dies betrifft etwa die Anordnung von Sätzen innerhalb eines Satzgefüges („Peter setzte sich ins Ausland ab, während die Polizei noch nach ihm fandete.“). Aber auch die Ordnung innerhalb eines Teilsatzes („Es setzte sich Peter ins Ausland ab“; „Ins Ausland setzte sich Peter ab“; etc.) ist nicht nur in den meisten Sprachen (in unterschiedlichem Ausmaß) variabel, sondern geht auch mit einer variierenden Präsentation der Information und damit mit einem unterschiedlichen Leseein­

druck einher.136

135 Vgl. dazu ausführlicher unten, Kapitel 6, Abschnitt 2.3.7. Die kognitive Kategorie der Kon­

zeptualisierung ist nicht mit allen Interpretationstheorien gleich gut verträglich. Vgl. dazu Ab­

schnitt 6.3 dieses Kapitels.

136 Vgl.  z. B. Duden 1698–1708 zur Position des Nebensatzes im Deutschen und 1858–1889 zur Variation der Satzglied­Stellung und damit einhergehenden Konsequenzen für die

Ein wichtiger Aspekt der erzählerischen Gestaltung stellt die Wiedergabe der temporalen Ordnung des Erzählten dar. Ein Erzähler kann in seiner Schilderung dem Ablauf der Geschehnisse in der erzählten (und eventuell auch realen) Welt folgen oder aber von dieser natürlichen Abfolge abweichen. Dies kann im Kleinen geschehen („Der Apfel fiel zu Boden. Zuvor hatte er am Baum gehangen.“) oder auch umfangreiche Vor­ und Rückblenden betreffen.

4.2 Frequenz

Ebenso wie derselbe Stoff von verschiedenen Erzählern unterschiedlich darge­

stellt werden kann, ist es natürlich auch möglich, dass ein und derselbe Erzähler in einem einzigen Erzählakt mehrfach auf dieselbe Situation Bezug nimmt. In diesem Fall liegt ein repetitives Erzählen vor: „Ereignisse [werden] in der Erzäh­

lung häufiger geschildert, als sie sich in der erzählten Welt zugetragen haben.“137 Der Erzähler kann sich beim erneuten Erzählen wörtlich an das erstmalige Erzäh­

len halten, aber auch ganz andersartig – und in anderem Umfang – erzählen.138 Gerade auch wenn eine Erzählung mehrere Binnenerzählungen aufweist, ist es häufig der Fall, dass durch die verschiedenen erzählten Erzählfiguren insgesamt mehrfach auf dieselbe Situation Bezug genommen wird – wobei der Erzähler der Rahmenerzählung natürlich zusätzlich ebenso zum Geschehen Stellung beziehen kann.139 Zu unterscheiden vom repetitiven Erzählen auf der Ebene der Rahmenerzählung sind wiederholte – aber separate – Akte des Erzählens des Sprechers.140

Informationsübermittlung. Siehe zur Informationsstruktur in griechischen Erzählungen unten, Kapitel 4, Abschnitt 8.1.3.

137 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 189.

138 Ändert sich dabei jedoch der Wahrheitswert des bisher Erzählten (kann man die ursprüng­

liche Darstellung einer Situation nicht mit der „Revision“ in Einklang bringen), so liegt damit ein Hinweis auf (ab diesem Zeitpunkt) offenes unzuverlässiges Erzählen vor. Siehe unten, Ab­

schnitt 5.4.

139 Siehe nun die ausführliche Analyse von Tripp, Quotation zum Johannesevangelium.

140 Vgl. zu diesem Phänomen Schumann, Gülich, Lucius­Hoene und Pfänder, Hg., Wiedererzäh-len. Wenn narrative Vertextungen nur als Textteile eines Textes auftreten, kann die Abgrenzung zwischen repetitivem Erzählen innerhalb eines Erzählaktes auf der einen Seite und mehreren Er­

zählakten auf der anderen Seite schwierig werden. Siehe dazu unten, Kapitel 17, Abschnitt 4.2.3.

Siehe Kapitel 9, Abschnitt 5.4.1 für eine Diskussion am Beispiel von Gal 4,3–6 und 4,8–9.

Iteratives Erzählen ist streng betrachtet nicht das Gegenstück zum repetitiven Erzählen,141 da sich ein über seinen Zeitpunkt definiertes Ereignis (zumindest in den meisten erzählten Welten)142 schlecht „mehrfach“ ereignen kann.143 Entspre­

chend präziseren Köppe und Kindt:144

Im Fall erzählerischer Iteration wird in diesem Sinne nicht ein mehrmals stattfindendes Ereignis nur einmal geschildert, sondern es werden vielmehr mehrere Ereignisse der erzähl­

ten Welt als unterschiedliche Realisierungen eines Typs von Ereignis verstanden, in der Erzählung als solcher nur einmal dargestellt wird.

Wenn mehrere (temporal distinkte) Ereignisse auf diese Weise als eine konzep­

tuelle Einheit angesprochen werden, wird im Folgenden die Bezeichnung des

„Ereignisbündels,“ in welchem die Einzelereignisse zusammengefasst werden, verwendet.145 Davon zu unterscheiden ist die raffende Darstellung von üblicher­

weise als mehrere Einzelereignisse beinhaltend vorgestellten146 Situationen durch ein einziges Prädikat, wodurch die erzählte Zeit gegenüber der Erzählzeit verkürzt wird.147 Beide Phänomene können allerdings überlappen.148

141 Dies wäre wohl entweder das singuläre Erzählen (Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 189) oder die Zerlegung einer Situation in mehrere Einzelereignisse und deren „kumulatives“ Erzählen.

142 Eine Inhaltsangabe zum Film Und täglich grüßt das Murmeltier könnte eventuell in diesem Sinn aufgefasst werden. Z. B.: „Phil Connors erwacht immer wieder an ein und demselben Tag …“

143 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 190.

144 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 191.

145 Siehe unten, Kapitel 6, Abschnitt 3.4.2.4 zur Frage, ob hier noch von „Erzählung“ gespro­

chen werden kann oder vielmehr von „Beschreibung“ die Rede sein sollte.

146 Siehe unten, Kapitel 6, Abschnitt 1.5.5 zu konventionalisierten Konzeptualisierungen von realen Situationen.

147 Vgl. Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 180–184 zum von der Frequenz zu unterscheidenden Aspekt des Tempos.

148 „Ich las das Buch“ ist zweifelsohne raffend gegenüber einem „zeitdeckenden“ Erzählen die­

ses komplexen Vorgangs (oder auch einer zeitdehnenden Darstellung: „In Sekundenbruchteilen hatten meine Augen das erste Wort erfasst und meine Sehnerven die Buchstaben an mein Gehirn weitergeleitet, wo die Zeichen zu einem sinnvollen Ganzen zusammengesetzt wurden und mich unwillkürlich zusammenzucken ließen …“). Zugleich kann derselbe Satz aber auch ein Ereig­

nisbündel mehrerer – eventuell zeitlich weit auseinanderliegender, sich im Ablauf jedoch glei­

chender – Lektüre­Einheiten zusammenfassen. Insofern diese Unterbrechungen im Rahmen der Erzählung keine Rolle spielen und das Lesen als „interruptative Einheit“ konzeptualisiert wird (vgl. hierzu unten, Kapitel 6, Abschnitt 3.4.1.1), kann man aber auch hier von Raffung sprechen.

Die einzelnen Akte des Lesens werden dann nicht als Instanziierungen desselben Ereignistyps betrachtet, sondern als aufeinander aufbauende Schritte auf dem Weg zu einem Handlungsziel, die sich untereinander durch die Entfernung zu diesem unterscheiden.

4.3 Fokalisierung

Bei der Beantwortung der Frage, ob Paulus als Erzähler bezeichnet werden kann, ist nicht nur der oft im Zentrum der Diskussion stehende erzählte Stoff von Inter­

esse. Vielmehr ist nicht zuletzt auch zu beachten, wie Paulus erzählt, wie er also die erzählten Ereignisse präsentiert. Die im letzten Abschnitt angesprochenen Punkte sind intuitiv einsichtig und werden noch an verschiedenen Stellen des Buches eine ausführlichere Diskussion erfahren. Ein Konzept soll hier jedoch noch etwas ausführlicher dargestellt werden, da es einerseits großes Potenzial für die narratologische Beschäftigung mit paulinischen Erzählungen aufweist, andererseits aber auch ein weniger offensichtlicher Parameter des Erzählens ist.

Die erzähltheoretischen Diskussionen über die mit den Bezeichnungen „Per­

spektive,“ „Point­of­view,“ „Fokalisierung,“ „Modus vs. Stimme“ etc. gemeinten, teils erheblich überlappenden, dann wieder stark divergierenden, Konzeptionen ist recht verworren. Grundsätzlich ist jedoch nach wie vor149 die Unterscheidung von Genette zwischen den an eine Erzählung heranzutragenden Fragen „Wer spricht?“ und „Wer sieht?“150 in Gebrauch.

Im Hintergrund steht bei Genette die größere Frage der „Modi der Erzäh­

lung,“151 womit er die unterschiedliche Präsentation und vor allem Regulierung des Informationsflusses meint. Dabei bedient er sich zunächst zweier visueller Metaphern:152

„Distanz“ und „Perspektive,“ hier vorläufig so benannt und definiert, sind die beiden wesentlichen Weisen jener Regulierung der narrativen Information, die der Modus dar­

stellt, – so wie meine Wahrnehmung eines Gemäldes hinsichtlich ihrer Schärfe von der Distanz zu ihm abhängt, und hinsichtlich ihrer Weite davon, welche partiellen Hindernisse je nach Standort meinen Blick verstellen.

Auf den Aspekt der vom Leser empfunden unterschiedlichen „Nähe“ zum Erzähl­

ten (der größeren „Anschaulichkeit“ der Erzählung) soll unten im Zusammen­

hang mit verschiedenen sprachlichen Phänomenen kurz eingegangen werden.153

149 Vgl. Jahn, „Focalization,“ 176–177 für eine Diskussion von Stimmen, die Genettes Konzep­

tion nicht nur modifizieren, sondern verwerfen beziehungsweise ersetzen wollen.

150 Genette, Erzählung, 119.

151 Genette, Erzählung, 103.

152 Genette, Erzählung, 103.

153 Siehe vor allem die Diskussion zur freien Aspektwahl in Kapitel 6, Abschnitt 3.3.3.2. Siehe auch im selben Kapitel Abschnitt 4 zur Diathese. Zur Rolle des Weltwissens der Leser/­innen für die bewirkte Anschaulichkeit vgl. Kapitel 14, Abschnitt 4.4.2.1. Vgl. grundsätzlich auch Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 192–199.

An dieser Stelle soll jedoch die Rede von der Perspektive etwas ausführlicher betrachtet werden.

Niederhoff hat die Metapher aufgegriffen, um zwischen Perspektive und Fokus zu differenzieren: Eine aufgestellte Kamera kann nur einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit ablichten. Die Positionierung alleine bestimmt jedoch nicht das Bild, denn innerhalb des „Blickwinkels“ lässt sich auf ganz unterschiedliche Objekte fokussieren.154 Mehrheitlich wird unter Narratologen jedoch mit Perspektive nicht nur auf einen Standort verwiesen, sondern im Sinne Gennettes die Wahrnehmung insgesamt angesprochen.155 So schreiben Köppe und Kindt:156

Der Ausdruck „Perspektive“ ist dabei in einem weiten Sinne zu verstehen: Wertungen, die räumliche Perspektive sinnlicher Wahrnehmungen, die Charakterisierung von Ereignissen und anderes können dadurch erklärt werden, dass man auf den räumlichen Standpunkt, die Meinungen, Ansichten oder wertenden Einstellungen der Figur erweist.

Die Erzählfigur, aus deren Perspektive die Geschehnisse geschildert werden, ist die „Instanz der Fokalisierung“ (engl. „focalizer“).157 Ein Erzähltext, der auf diese Weise von der Wahrnehmung einer Erzählfigur getönt ist, wird als „intern fokali­

siert“ bezeichnet.158

Demgegenüber wird ein Text als „extern fokalisiert“ bezeichnet, wenn er

„von Figuren handelt und keine direkten Informationen über deren Mentales ent­

hält.“159 Personen erscheinen hier „von außen“ wahrgenommen. Entsprechend ist auch die Rede vom „camera eye view“ für diese Art der Fokalisierung üblich.160 Auch hier kann das Erzählte aus einer bestimmten Perspektive geschildert sein, dieser Subtyp der Fokalisierung definiert sich folglich nur über die Einschrän­

kung des aus der Perspektive wahrgenommenen Gegenstands.161

Gibt die Erzählung zwar Einblicke in Mentales, lässt sich aber nicht einer ein­

zelnen Erzählfigur zuordnen, so liegt „Nullfokalisierung“ vor. Häufig begegnet in

154 Niederhoff, „Fokalisation.“ Vgl. Jahn, „Focalization,“ 175–176 für eine ausgewogene Dis­

kussion.

155 Vgl. Jahn, „Focalization,“ 174 zur eigentlich zu beschränkten Fragestellung: „Wer sieht?“

156 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 216–217.

157 Vgl. Genette, Erzählung, 124.

158 Vgl. den an Genette anknüpfenden Überblick bei Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 208–226.

159 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 226.

160 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 228.

161 Teilweise wird für diese Art der Einschränkung des Erzählten die Rede des „Standpunk­

tes“ verwendet, die dann der mehr auf die emotionale Einfärbung des Erzählten abzielenden Fokalisierung zur Seite gestellt wird. Vgl. etwa de Jonge, Narratology, 60, die beide Aspekte der

„älteren“ Rede von point­of­view und Perspektive unterordnet.

diesem Zusammenhang auch die Rede vom „allwissenden Erzähler,“ die jedoch nicht unproblematisch ist.162 Ein null­fokalisierter (beziehungsweise nicht foka­

lisierter) Text kann unter Umständen nur schwer von einem intern fokalisierten Text unterscheiden werden, wenn die Fokalisierungsinstanzen wechseln, also eine „variable interne Fokalisierung“ vorliegt.163 Wird im Text etwas erzählt, das die Perspektive derjenigen Figur „übersteigt,“ die bis dahin als Fokalisierungsin­

stanz fungiert hatte, ist der Text zumindest nicht durchgehend, sondern lediglich dominant intern fokalisiert.164

Die interne Fokalisierung kann im Text sehr unterschiedlich stark markiert sein.165 Dabei ist darauf zu achten, dass gerade die Beschreibung der Perspektive einer Figur nicht unbedingt ein Hinweis darauf sein muss, dass sie als Fokalisie­

rungsinstanz dient. Entscheidend ist, aus wessen Perspektive diese Schilderung geschieht.166 So kann etwa ein Erzähler über die Fähigkeit verfügen, über Gedan­

ken der Protagonisten Auskunft zu geben. Gerade wenn im Text explizit eine Perspektive als solche identifiziert wird, dient diese also vermutlich eher nicht als Brille, durch welche die Geschehnisse betrachtet werden.167

Zusätzlich zu den sich als Erzählfiguren anbietenden Fokalisierungsinstan­

zen ist immer auch die Perspektive des Autors für die „Tönung“ des Erzählten relevant. Im Fall der Paulusbriefe fallen Autor und Erzähler in der Regel zusam­

men, es sei denn Paulus lässt innerhalb der Erzählung einen weiteren Erzähler auftreten (vgl. unten, Abschnitt 5.2). Zu beachten ist, dass Paulus natürlich nicht immer nur über von ihm selbst Erlebtes berichtet, sodass die Beschränkung der Rede von Paulus als Erzähler auf Autobiographisches verkürzt ist.168 Hier stehen

162 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 231.

163 Vgl. Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 222 und 231.

164 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 216.

165 Vgl. Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 212–215.

166 Vgl. Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 217–218. Ihr Beispieltext für eine zumindest nicht deut­

liche interne Fokalisierung beinhaltet Formulierungen wie „In ihm wuchs die Hoffnung“ und

„denn er war überzeugt.“ Die Schwierigkeit der Abgrenzung der hier vorgestellten Kategorien zeigt sich allerdings auch daran, dass die Autoren im Hinblick auf lediglich externe Fokalisie­

rung sehr viel striktere Maßstäbe anzulegen scheinen, wenn sie schreiben: „[I]n extern fokali­

sierten Erzähltextpassagen [werden] die Motive von Figuren nicht explizit benannt.“

167 Vgl. etwa Joh 2,24–25: αὐτὸς δὲ Ἰησοῦς οὐκ ἐπίστευεν αὐτὸν αὐτοῖς διὰ τὸ αὐτὸν γινώσκειν πάντας καὶ ὅτι οὐ χρείαν εἶχεν ἵνα τις μαρτυρήσῃ περὶ τοῦ ἀνθρώπου · αὐτὸς γὰρ ἐγίνωσκεν τί ἦν ἐν τῷ ἀνθρώπῳ.

168 Gegen den ansonsten sehr stimulierenden Artikel von Wischmeyer, „Ich­Erzähler,“ 89.

ihm prinzipiell beide Arten der Fokalisierung und die Nicht­Fokalisierung zur Verfügung.169

Bei den Erzählungen, die durch die 1. Person Singular geprägt sind, liegt demgegenüber die Vermutung nahe, dass hier Autor/Erzähler und Fokali­

sierungsinstanz zusammenfallen. Allerdings muss auch hier darauf geachtet werden, ob „der Schreibende ein früheres Selbst zu Wort kommen lässt,“170 was unter anderem darin zum Ausdruck kommen kann, dass er auf späteres Wissen verzichtet, über das er aber zum Zeitpunkt des Erzählens verfügt.171

Grundsätzlich können sich die Perspektiven von Erzähler und Erzählfigur auch überlagern.172 Dies gilt auch für den Ich­Erzähler, der sich einerseits auf seinen früheren Kenntnisstand beschränkt, andererseits aber beispielsweise Wertungen aus der Gegenwart des Erzählaktes durscheinen lässt.173 Sehr selten – dafür umso signifikanter – ist, dass der Erzähler einer faktualen Erzählung zurückblickt, das Erinnerte aber nicht intern auf das Mentale des erlebten Ichs fokalisiert wiedergibt.174 Bei Paulus liegt ein solcher Fall in 2. Kor 12 vor (siehe dazu unten, Kapitel 8, Abschnitt 5.5).

Die Terminologie und auch die im Hintergrund stehenden Annahmen, was die in der Präsentation des Erzählten zum Ausdruck kommenden Einstellun­

gen angeht, ist nach wie vor sehr uneinheitlich.175 Dies macht gerade für die

169 Generell kann interne Fokalisierung als Fiktionalitätssignal betrachtet werden, auch wenn auch für faktuale Texte generell gilt, dass der Autor – etwa eines Zeitungsartikels – „den Sprach­

duktus, den beschränkten Wissenshorizont oder die wertenden Einstellungen einer anderen Person vorübergehend annimmt“ (Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 226).

170 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 226. Diese Formulierung ist allerdings nicht unproblema­

tisch, da sie fälschlich an Genettes „Wer spricht?“ erinnert. Vgl. für eine präzisere Darstellung die nächste Fußnote.

171 Vgl. auch Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 221 für dieses Phänomen im Roman: „Im Roman treten erlebendes und erzählendes Ich auseinander, d. h., der Erzähler schreibt aus der Perspek­

tive der Person, die er früher einmal war. In diesem Fall bedeutet das, dass der Erzähler insbe­

sondere auf das (spätere) Wissen verzichtet, über das er zum Zeitpunkt des Erzählens verfügt.

Fokalisierungsinstanz ist das erlebende ich, nicht das erzählende Ich.“

172 Vgl. Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 223, die dadurch die Differenzierung von Chatman, Co-ming to Terms aufnehmen, der zwischen dem auf das Mentale des Erzählers bezogenen „slant“

und dem auf das Mentale der Figuren bezogenen „filter“ differenziert und die Rede von der Fo­

kalisierung insgesamt ablehnt.

173 Vgl. unten, Kapitel 6, Abschnitt 3.2.2 zur eingeschobenen Narration.

174 Köppe und Kindt, Erzähltheorie, 228 verweisen auf Albert Camus’ Roman Die Pest für ein (fiktionales) Beispiel eines Ich­Erzählers, „der über sich in der dritten Person berichtet und zu­

mindest vorgibt, keinen Einblick in die Gedanken dieser Person zu haben, über die er spricht.“

Die Parallele zur (faktualen) Erzählung in 2. Kor 12 liegt hier auf der Hand. Vgl. unten, Kapitel 14, Abschnitt 5.2.2.3.

175 Vgl. auch Niederhoff, „Focalization.“

Übernahme einer narratologischen Betrachtungsweise für exegetische Fragestel­

lungen die Fokalisierung zu einer eher sperrigen Kategorie.

Beispielsweise bietet sich die Arbeit von de Jonge zum Nutzen der Erzählthe­

orie für die klassische Philologie, schon aufgrund der zahlreichen griechischen Beispiele, grundsätzlich als Bezugspunkt für Neutestamentler/­innen an. Zu beachten ist dann allerdings, dass die Autorin ein sehr umfassendes Verständ­

nis von Fokalisierung vertritt, und annimmt „that narration always entails foca­

lization.“176 Dabei sei der Erzähler immer eine „primäre“ Fokalisierungsinstanz, was im Text entweder offen („overt“) oder zumindest verdeckt („covert“) zum Ausdruck käme. Schon die Substitution der Eigannamen in Homers Ilias 6.482–

485 durch Termini, die ihre Rolle innerhalb der Familie zum Ausdruck bringen,

„reveals his focalization: the narrator looks at his characters in terms of proto­

types of a family of which the father leaves for war, and thereby turns the scene into a profoundly sad one.“177 Wann immer die Wahrnehmung einer Erzählfigur erwähnt werde (oder sie dies selbst in direkter Rede tut),178 sei prinzipiell diese als „eingebettete“ Fokalisierungsinstanz anzusprechen.179 Der Bezug auf eine Wahrnehmung der Erzählfigur kann implizit (z. B. über bestimmte Wertungen) oder explizit vorgenommen werden, nämlich durch Verben des Sehens, Fühlens, Denkens etc.180

Dementsprechend wäre also das von den Säulen in Jerusalem in Gal 2 Gese­

hene (V. 7: ἰδόντες ὅτι …) und Erkannte (V. 9: γνόντες τὴν χάριν τὴν δοθεῖσάν μοι …) mit Verweis auf Johannes, Jakobus und Petrus als Fokalisierungsinstanzen zu erklären. Es ist jedoch äußerst fraglich, inwiefern das Mentale von Personen nicht zumindest doch mittelbar von außen „sichtbar“ ist.181 Andernfalls müsste man auch viele andere zum Ausdruck gebrachten Handlungen strenggenommen als intern fokalisiert einordnen, da die verwendeten Prädikate grundsätzlich mit Intentions­Zuschreibungen verbunden sind.182

Bei allen Schwierigkeiten in der Anwendung und Verständigung ist de Jonge jedoch bei folgender Aussage zuzustimmen: „Focalization is arguably the most

176 de Jonge, Narratology, 47.

177 de Jonge, Narratology, 49.

177 de Jonge, Narratology, 49.

Im Dokument Christoph Heilig Paulus als Erzähler? (Seite 140-153)