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Unterwegs zu Lenin

Im Dokument Sozialistische Filmkunst (Seite 124-128)

1968 schlug der Dramatiker Helmut Baierl dem Studio vor, das gerade erschie-nene autobiographische Erinnerungsbuch von Alfred Kurella zu verfilmen. Das kam überraschend. Knapp zwei Jahre zuvor hatte Baierl das Studio zornrot und türschlagend verlassen. Nach dem 11. Plenum war seine mehrjährige Arbeit zu-sammen mit Egon Günther an einer Filmfassung seines Bühnenerfolgs Frau Flinz gestoppt worden. Die Hauptverwaltung Film hatte die bereits erteilte Produkti-onsfreigabe annulliert.

Nun wollte es der Autor noch einmal mit der DEFA versuchen. Der neue Vor-schlag war aussichtsreicher. Für 1970 stand ein großes Lenin-Jubiläum im Polit-und Kulturkalender. Sein 100. Geburtstag am 22. April war der Führung Anlaß ge-nug, ein ganzes »Lenin-Jahr« auszurufen. Da kam der DEFA die Stoffanregung höchst gelegen. Sie konnte mit einem Spielfilm im zentralen Kulturarbeitsplan glän-zen und höchste staatliche Förderung erwarten. Und es war eine willkommene Ge-legenheit für eine weitere Koproduktion mit der Sowjetunion in eigener Regie.

Die konspirative, abenteuerliche Reise des jungen intellektuellen Kommuni-sten bürgerlicher Herkunft, ins Land der erKommuni-sten proletarischen Revolution 1919 mit chiffrierter Post für Lenin im Gepäck schien auch für ein junges Publikum in-teressant. In Moskau erlebt er den nüchternen Alltag der ersehnten sozialen und politischen Umwälzung. Mit Aktivisten der Kommunistischen Jugendorganisa-tion Komsomol erarbeitet er die Gründungsdokumente für eine Kommunistische Jugendinternationale. Als es zur zweiten Begegnung mit Lenin kommt, sind die Ungarische und die Bayerische Räterepublik bereits zerschlagen. Lenin warnt den jungen Deutschen vor romantischen Träumen von einer bevorstehenden Weltre-volution und sagt einen langen, opferreichen Weg zum Sozialismus voraus.

Dem Ich-Erzähler des Berichts ging es weniger um die äußeren Begebenheiten, vielmehr um die Entdeckungsreise in die geistige Welt Lenins, der sich durch den unvorhersehbaren Gang der politischen Ereignisse immer neuen theoretischen und praktischen Herausforderungen gegenüber sieht.

Wie aber war dieses gedanklicheSujet in eine packende Filmhandlungzu ver-wandeln? Wie sollten aus den Dialogpartnern politischer Gespräche lebendige Charaktere entstehen? Für Alfred Kurella waren diese dramaturgischen Fragen kein Thema. Aber über die ideelle politische Substanz des entstehenden Films wollte er sich als ehemaliger Sekretär der Kommunistischen Jugendinternationale die eigene Kontrolle bis in die Endfertigung hinein unbedingt sichern. So ge-währte er uns nur eine »Option auf die Verfilmungsrechte«. Mit jedem Veto drohte so der Arbeitsstillstand, wenn nicht gar das Scheitern des Projekts. Dem langjährigen Leiter der Ideologischen bzw. Kulturkommission beim Politbüro der SED konnte das Studio eine solche rechtliche Position kaum verweigern. Doch das sollte noch Folgen haben.

Wir aber vertrauten der Autorität und Erfahrung des Regisseurs Günter Reisch.

Er hatte bereits Übung im konfliktreichen Umgang mit einer gleich schwierigen Autoren-Autorität wie Michael Tschesno-Hell beim Film über Karl Liebknecht So lange Leben in mir ist.

Nicht nur die Titelgestalt Lenins, auch die Vielzahl russischer Schauplätze und Gestalten erforderten zwingend die Koproduktion mit der SU. Sie mußte auf Minis-terebene beschlossen werden und war für uns mit doppelten Abnahmeprozeduren für Buch und Realisierung verbunden. Von der Zusammenarbeit mit den sowjetischen Kollegen aber versprachen wir uns neue künstlerische Impulse. Der sowjetische Film der 60er Jahre hatte gerade im historischen Sujet für weltweite Anerkennung gesorgt. Klarer Himmel, Iwans Kindheitund Ballade vom Soldaten signalisierten ei-nen unpathetischen Blick auf die Vergangenheit in einer unorthodoxen Filmsprache.

Mit dem Szenarium für Lenin in Polen hatte Jewgeni Gabrilowitsch neue Maßstäbe auch für die historisch-biographische Charakterstudie gesetzt.

So reisten wir im April 1969 unter Leitung von Filmminister Günter Klein mit dem ersten literarischen Entwurf Helmut Baierls und großen, doch auch bangen Erwartungen nach Moskau. Das Staatliche Komitee für Kinematographie der UdSSR hatte das Studio Mosfilm in Moskau als Koproduktionspartner bestimmt.

Dort erwartete uns Regisseur Lew Arnschtam, seit seiner Koproduktion Fünf Tage, fünf Nächte1961 ein guter DEFA-Freund und -kenner, nun als Leiter der Künstlerischen Arbeitsgruppe Lutsch – der Strahl.

Schon die erste Begegnung mit Gabrilowitsch, unserem Wunschkandidaten für die Buchmitarbeit, machte auf uns einen starken Eindruck. Der sehr kleine Mann, mit dem durchgeistigten Gesicht eines altersweisen Juden, war einer der ganz Großen der alten Garde sowjetischer Filmszenaristen. Er hatte für die berühmtesten russischen Regisseure Michail Romm, Friedrich Ermler und Juli Raisman geschrie-ben. Doch auch ein Exponent der jungen Generation, Gleb Panfilow, verdankte ihm das Buch für einen der schönsten und modernsten Gegenwartsfilme – Der Anfang.

Einigermaßen befangen saßen wir also vor dem unscheinbaren Siebzigjährigen mit dem unvergleichlichen Lebenswerk. Seine bedächtigen Fragen und kritischen Anmerkungen waren frei von Selbstgewißheit. Er hatte mehrere Angebote des Komitees und sowjetischer Studios zur Teilnahme an Prestigeprojekten abgelehnt.

Hier aber vertraute er dem Filmentwurf und einer echten Gemeinschaftsarbeit im kleinen Team. Er forderte starke emotionale Wirkungen statt langer Reden. Einig war man sich über einen lakonischen, auch komödiantisch-anekdotischen Stil mancher Episoden.

Die konzeptionelle Übereinstimmung war erstaunlich rasch herbeigeführt. Für die vielwöchige praktische Zusammenarbeit, teils in Moskau, teils in Berlin, muß-ten nun die Reiseformalitämuß-ten bewältigt, Aufenthalts- und Arbeitsmöglichkeimuß-ten organisiert, bindende Verabredungen getroffen, Verträge geschlossen werden. Der sowjetische Autor wünschte sich aus gutem Grund die DEFA als alleinigen Ver-tragspartner.

Die Arbeit am Rohdrehbuch verlief erstaunlich konfliktfrei. Besuch unterbrach eine der lebhaften Debatten in der Hochhauswohnung von Gabrilowitsch. Ein jun-ger Mann mit schwerem Koffer wurde freudig begrüßt, sofort in die Küche geführt, um auszupacken. Anteilnehmend wollten wir wissen, ob wir stören, weil vielleicht der Sohn aus weiter Ferne zurückgekehrt sei. Doch Jewgeni Josifowitsch beruhigte uns. Nein, nein, nicht der Sohn, nur der Spekulant sei turnusmäßig vorbeigekom-men, der private Beschaffer rarer Lebensmitel und Leckereien zu Extrapreisen ...

Mitten in diese schöne Harmonie platzte im Juli 1969 ein Telegramm aus Ober-hof, Haus Waldesrand 290. Es war glücklicherweise nicht an mich gerichtet, son-dern drohend sogleich an »chefdramaturg g. schroeder. Neueste fassung moskauer teil leninfilm völlig unmöglich. Nicht besprochene änderungen verfälschen inhalt politisch. Für handlung überflüssige historisch unzutreffende milieudetails hinzu-gefügt. Einziger auftritt lenins ganz am schluss mit völlig unmöglichem text. Ur-sache vermutlich nachgeben gegenüber gabrilowitsch, der politisches gewicht und bedeutung für uns nicht versteht. Verlange einhaltung getroffener vereinba-rungen, andernfalls ziehe option zurück.«

Antwort erwartete der empörte Leser im Kurort »morgens bis 9.00, mittags 12-14, abends nach 18 Uhr« und schloß ohne freundlichen oder auch nur sozialisti-schen Gruß: »Kurella«

Da läuteten alle Alarmglocken. Gabrilowitsch, gerade in Berlin, drohte schon mit Abreise. Allein Günter Klein gelang dank optimistischer Moderation, das per-sönliche Gespräch zwischen den Parteien wieder in Gang zu bringen. Es kam schließlich zu künstlerischen Lösungen, mit denen beide Seiten leben konnten.

Mit der neuen, nunmehr von Kurella abgesegneten Fassung traf man sich erneut in Arnschtams Gruppe. Sein irritierender Zwischenbescheid über zu erwartende schwere Einwände erledigte sich glücklicherweise bei der Begrüßung in Moskau.

Verantwortlich war die platte russische Übersetzung der Dialoge in Berlin. Sie war inzwischen redaktionell korrigiert worden. Im Abnahmegespräch kritisierte der Ju-gendfunktionär des Komsomol die mangelnde Entwicklung des jungen Mannes zum Berufsrevolutionär. Auch Baierls schöne Erfindung, die Figur des kleinen Sol-daten im Zug der heimkehrenden Kriegsgefangenen, entsprach nicht seinen Wunschvorstellungen vom proletarischen deutschen Landser, der, in Rußland be-kehrt, die Ideen der Revolution nach Deutschland zu tragen habe. Der Ernst der De-batte veranlaßte Günter Reisch zur Erinnerung, daß ein heiterer Blick auf die Ge-schichte aus der »Sicht« – wie konnte es anders sein – »der Sieger« beabsichtigt sei.

Danach kam es rasch zur Produktionsfreigabe und zum Koproduktionsvertrag.

In meiner Erinnerung bleiben die freundschaftlichen Begegnungen mit Jew-geni Gabrilowitsch, besonders herzliche mit Lew Oskarewitsch Arnschtam, Jahr-gang 1905. Als Absolvent des Leningrader Konservatoriums hatte er zunächst als Musiker am berühmten Meyerhold-Theatre gearbeitet, bevor seine Filmkarriere begann. Als Autor und Komponist des Films Soja erhielt er auf dem 1. Internatio-nalen Filmfestival in Cannes den Preis für das beste Szenarium. Er beeindruckte

seine junge Kleinmachnower Gastgeberin mit geradezu französischer Noblesse und Galanterie. Der stattliche alte Herr ließ es sich nicht nehmen, mit ihr eine flotte Sohle aufs Hochglanzparkett zu legen...

In einem langen Brief wandte er sich nach dem Rohschnitt noch einmal per-sönlich an »dorogoi diter«, um seine sehr präzisen Beobachtungen mitzuteilen und kleine Korrekturen für Montage und Synchronisation vorzuschlagen. Er schloß mit »Grüßen an alle Freunde in herzlicher und wahrer Freundschaft Ihr L. Arnschtam.«

Ein Zeitzeugnis darf nicht fehlen. Der junge Münchener Laiendarsteller des Martin schrieb in unser Gästebuch: »Ein gelungener Abschluß der langen Monate, die ich im etablierten Sozialismus verbringen durfte, war das Sit-in bei Wolfs.

Aber beim Tischtennis habt ihr mich maßlos geschlagen. In der Hoffnung, daß eure Genossen bei den olymp. Spielen in München genau so abschneiden ein drei-fach-kräftiges Rotfront – Helmut Habel«.

Die hiesige Abnahme war wie selten problemlos. Die Staatliche Zulassung vollzog Günter Klein protokollwidrig gleich im Studio.

In Moskau aber gab es noch einmal ein kleines dramatisches Intermezzo. Als im Staatlichen Filmkomitee ein Redakteur dieser höchsten Behörde anhub, auch noch die Szenen mit Lenin auf ihren Realitätsgehalt hin zu befragen, wurde er, be-vor noch seine Rede ins Deutsche übersetzt war, vom zunehmend erregten Alfred Kurella mit der kurzen rhetorischen Frage gestoppt: »Ha-ha-habe ich mit mit Le-lenin gesprochen o-oder Sie?«

Nach der Nationalpreisehrung baten Günter Reisch und seine Frau Beate die engere deutsche Crew samt Anhang zur familiären Nachfeier ins kleine Reihen-haus in Berlin-Baumschulenweg. Eine schöne Geste, die man von anderen Preis-trägern nicht kannte. Da war Spaß und Tanz in allen Räumen angesagt. Und der Regisseur schenkte seinem sehr verdienstvollen producerManfred Renger ein Tonbandgerät. Der großformatige schwergewichtige Kasten trug den anmutigen Namen Smaragd.

Im Dokument Sozialistische Filmkunst (Seite 124-128)