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Die Kraniche ziehen

Im Dokument Sozialistische Filmkunst (Seite 75-80)

Um heute die künstlerische Bedeutung des Films richtig zu würdigen, muß an den historischen Hintergrund erinnert werden, vor dem er 1956/57 entstand. Zu allen Zeiten berief sich die Partei auf Lenins Diktum von der »Filmkunst als der wich-tigsten der Künste« – allein wegen der möglichen Massenwirksamkeit bewegter Bilder. Nun hatte sich Stalin höchstpersönlich, man mag es kaum glauben, schon seit langem das letzte Urteil über alle Drehbücher von politischem Belang vorbe-halten. So auch im Fall der beiden Filme über Lenin von Michail Romm. Der Regisseur wußte von handschriftlichen Anmerkungen des obersten Zensors im Script zu berichten. Stalin hatte u.a. auch seinen Rollennamen im Drehbuch durch das kleine Adjektiv »der große« ergänzt.

Solche Erfahrungen und die letzte parteiamtliche Warnung am Beginn der 50er Jahre vor »Krittelei und Schwarzmalerei der sozialistischen Wirklichkeit« in der Kunst und die ihr folgende Konfliktlosigkeit führten zum qualitativen und quanti-tativen Kollaps auch der Kinematographie. 1951 kamen gerade mal sechs Neu-produktionen in die sowjetischen Kinos.

1953 starb Stalin. Doch es dauerte noch drei Jahre, bis der neue Erste Sekretär des ZK der KPdSU, Nikita Chruschtschow, auf dem XX. Parteitag 1956 mit sei-nem Referat in nicht-öffentlicher Sitzung »Über den Personenkult und seine Fol-gen« die Stalin-Ära auch politisch beendete. Zwar war die Produktion inzwischen sprunghaft auf etwa 100 Spielfilme im Jahr gewachsen, doch der große künstleri-sche Durchbruch stand mit dem Jahr 1957 erst noch bevor. Die Kraniche ziehen wirkte dafür wie ein Signal. Und das wurde in der westlichen Hemisphäre schnel-ler verstanden, als es manchen Funktionären im Sowjetlande und nicht nur dort lieb war.

Im Mai 1958 erhielt der Film in Cannes den Grand Prix, die Goldene Palme, und gleich noch zwei Sonderdiplome – für die Kameraarbeit von Sergej Urus-sewski und für Tatjana Samoilowa in der weiblichen Hauptrolle.

Nach einer langen Periode der Leinwand-Heroisierung des Großen Vaterländi-schen Krieges wurde dieser Film einer der besten. Er kreierte zugleich internatio-nal eine neue Art von Anti-Kriegsfilm und darf diesen Rang bis heute behaupten.

Es fehlten die bekannten großen Schlachten-Panoramen mit ihren namenlosen Opfern, vor allem der anderen Seite. Der Krieg diente nicht mehr der Glorifizie-rung massenhafter BewähGlorifizie-rung oder übermenschlich heldenhafter Einzelkämpfer, sondern erschien in seinem zerstörerischen Einfluß auf das Leben und die Ge-schicke einfacher Menschen. Das tragische individuelle Schicksal rückte ins Zen-trum der Bilderzählung.

Der Krieg beendet abrupt die glückliche Jugend des Mädchens Veronika, als der geliebte Boris freiwillig an die Front geht. »Und ich? Was wird aus mir?«

fragt sie und bleibt verlassen zurück. Als er, tödlich verwundet, im Birkenwald die Herrschaft über seinen Körper verliert, erscheint ihm das schöne Trugbild seiner erträumten Hochzeit mit Veronika, die er nicht mehr erleben wird. Sie aber, bald schon elternlos, erliegt der Werbung des Bruders ihres verschollenen Freundes.

Sie heiratet Mark, wird aber mit ihm nicht glücklich. Sie glaubt die Nachricht vom Tod des Freundes nicht – bis zum Tag des Sieges, den sie einsam inmitten glückstrahlender Menschen erlebt.

Die Fabel, aufs Banale verkürzt, hätte auch das alte Schema mit positivem und negativem Helden-Typus bedienen können. In der zweibändigen Kurzen Ge-schichte des sowjetischen Kinoswurde zu Beginn der 70er Jahre die Figur des Mädchens noch oder schon wieder ganz im Stil der alten ästhetischen Dogmatik als »schwach« und »egoistisch« gedeutet. Ihre ratlose Frage beim Abschied:

»Was wird aus mir?« wird als »Verrat an den Idealen« interpretiert, »für die Boris lebt«. Tatjana Samoilowa aber hätte in dieser Rolle keine so weltweite starke emotionale Wirkung entfalten können, hätte sie die Gestalt nicht anrührend hilf-los, sondern distanziert und schuldbeladen als Verräterin am Geliebten charakteri-siert. Mit dieser, ihrer zweiten Hauptrolle spielte sich die 23jährige in die erste Reihe der sowjetischen Darstellerinnen.

Als der Film 1958 in die Kinos der DDR kam, bildeten sich zum ersten Mal nach vielen Jahren wieder Schlangen vor den Kinokassen. Und das für einen Rus-senfilm, der beim breiten Publikum nach den ersten großen Filmentdeckungen im Nachkriegsjahrfünft keinen guten Ruf mehr hatte.

Während der Arbeit am Film Sonnensucher1957/58 berief sich Konrad Wolf in der Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen auch auf das sowjetische Beispiel Die Kraniche ziehen.Doch die DDR-Kulturpolitik war gerade jetzt mit dem Kampf gegen verschiedene »revisionistische Abweichungen« befaßt, wie sie schon in Polen und vor allem in Ungarn beargwöhnte und nun also auch vom

»Großen Bruder«. Sonnensucherlandete für zweieinhalb Jahrzehnte im Keller. Als Wolfs nächster Film Leutemit Flügeln die Kontinuität und Konsequenz einer kom-munistischen Antifa-Biographie ausgerechnet am Beispiel der bald darauf einge-stellten DDR-Flugzeugindustrie exemplifizierte, geriet er im Diskussions-forum der Freien Tribünedes Filmfestivals von Karlovy Vary 1960 in eine aussichtslose Posi-tion. Sein DEFA-Film wurde den neuen sowjetischen Werken Die Kraniche ziehen, Ein Menschenschicksal, Ballade vom Soldatengnadenlos gegenübergestellt, ja, ge-gen seine eige-genen Arbeit, Sterne(1958/59), ausgespielt. Wolf blieb nur die Flucht nach vorn: »Daß die Filme der Richtung Die Kraniche ziehenmit Recht die großen Erfolgsfilme sind, verpflichtet uns geradezu, auch Filme des unmittelbaren revolu-tionär-historischen Themas und des Gegenwartsthemas mit derselben, wenn nicht gar mit noch größerer künstlerischer Überzeugungskraft zu meistern.« (Chefdrama-turg Klaus Wischnewski, DEFA-Blendevom 4. 10. 1960)

Ein Jahr später präsentierte Wolf seinen Film Professor Mamlockauf dem Moskauer Festival und kam auf die neue Orientierung zurück, die die

sozialisti-sche Filmkunst, »beginnend mit Die Kraniche ziehen, erfahren hat. Der Mensch rückt in den Mittelpunkt mit einer enormen Wucht der künstlerischen Gestal-tung.« (Sonntag, 23. 7. 1961)

Wer aber war jener Michail Kalatosow, der diese Entwicklung so beispielge-bend in Gang gesetzt hatte? Da trat kein Jungfilmer auf den Plan, wie man das aus manch einer anderen Neuen Wellekannte, vielmehr ein gestandener Profi, gang 1903, dessen wenig aufsehenerregendes Debüt bereits zweieinhalb Jahr-zehnte zurücklag.

In Grusinien hatte er 1930 Das Salz von Swanetienproduziert. Bekannt aber wurde er mit seinem Film über den legendären Helden der frühen sowjetischen Luftfahrt, Waleri Tschkalow, der im 64-Stunden-Erst- und Non-Stop-Flug über den Nordpol Berühmtheit gewann und bei seiner Rückkehr nach Moskau massen-hafte Begeisterung auslöste. Im Jahr 1940 durfte freilich die obligate Stalin-Szene nicht fehlen. Der große Führer war schließlich nicht nur der erste Gratulant des Rekordhalters, sondern selbstverständlich auch der eigentliche Inspirator aller so-wjetischen Erfolge und Großtaten ...

1943 brachte Kalatosow gemeinsam mit Sergej Gerassimow Die Unbesiegba-renauf die Leinwand. Der Spielfilm war eher ein bestaunenswerter Bericht über das aufopferungsvolle Ringen der Arbeiter einer Leningrader Panzerfabrik um termingerechte Waffenlieferung für die gefährdete Front. Die Handlung spielte nicht nur während der Blockade, das Team drehte sie auch unter den tödlichen Bedingungen der fast vollständigen Abtrennung der Millionenstadt vom Hinter-land. Die Endfertigung mußte dann in den ausgelagerten Produktionsstätten von Taschkent und Alma-Ata erfolgen.

Mit dem Titel Verschwörung der Verdammtenzollte Kalatosow 1950 seinen Tribut dem eskalierenden Kalten Kriegder Supermächte und wurde dafür mit dem Stalin-Preis belohnt. Das Propagandastück handelte von US-imperialisti-schen Machenschaften in den volksdemokratiUS-imperialisti-schen Ländern CˇSR, Rumänien, Po-len und Ungarn. Als negative Helden figurieren neben US-Botschaftern Mitglie-der des Klerus und reaktionärer politischer Parteien. Doch die Anschläge auf Führer demokratischer Gruppierungen mißlingen. Das gute Filmende wurde von einem sowjetischen Lebensmitteltransport in ein ausgedachtes Freundesland ge-krönt.

1953/54 aber nahm Kalatosow Abschied vom politischen Thema und verließ die lang gepflegte Typologie des sozialistischen Realismus. Ein Jahr nach Stalins Tod präsentierte er im Genre einer leisen Komödie eine Reise mit Hindernissen über drei alte Freunde, die einen gemeinsamen Urlaub unternehmen planen. Zwei von ihnen, ein Chirurg und ein Tierzüchter, wollen noch einmal ihrer Jugend-romantik frönen. Nur mit einem Trick locken sie den dritten auf ein primitives Floß, denn der, Architekt und Akademiemitglied, ist an Komfort und Repräsenta-tion gewöhnt. Das urwüchsige Erlebnis der Natur in der Gesellschaft seiner le-benslustigen, realitätsnahen Freunde und die ernüchternde Begegnung mit seinem

alter ego, einem bürokratischen Bauleiter, werden zum Impuls der Selbstbesin-nung. Zum ersten Mal bestimmten nicht politische Parolen ein Gegenwartssujet, traten differenzierte Charakterstudien an die Stelle sozialer Klischees. Auf dem Festival in Karlovy Vary 1954 bekam der Film den Großen Preisaus geschliffe-nem Karlsbader Kristallglas.

Drei Jahre später kam der Welterfolg Die Kraniche ziehen, auch dank einer er-neuerten Filmsprache, die auf Rhetorik und sujetfremde Dialoge und Kommen-tare verzichtete. Regie- und Kameraarbeit waren nicht voneinander zu trennen.

Die auf die Psychologie der Charaktere konzentrierte Führung der Schauspieler durch Kalatosow wurde vom Kameramann Sergej Urussewskis phantasievollen und einprägsam unterstützt.

Urussewski hatte bereits mit Altmeistern wie Mark Donskoi, Wsewolod Pudow-kin und Juli Raisman gearbeitet und Kalatosow 1955 auch beim weniger glückli-chen Ausflug in die Thematik der von Chruschtschow inspirierten Neulandgewin-nung begleitet: Der erste Zug.Doch seine größte künstlerische Ausdruckskraft gewann er erst mit den Kranichen. Nun sprach man wieder von der entfesselten Kamera,sah man Stilmittel, die der Formalismus-Kampagne des Parteiideologen Andrej Shdanow geopfert worden waren.

Im Rückblick auf 100 Jahre Film schrieb Hilmar Hoffmann vom »visuell furio-sen Requiem auf den sterbenden Boris«. Kurt Maetzig war tief beeindruckt von der »Bildmontage mit jagenden Einstellungen, kurzen Schnitten und starken Bild-kontrasten.« Von ihm wissen wir, daß die hier erreichte Perfektion nicht zuletzt großzügigen ökonomischen und technischen Produktionsbedingungen und einem ganzen Jahr Drehzeit zu danken war.

So mag Maetzig auch mit seiner frühen Empfehlung aus dem DEFA-Augen-zeugenzur Wiederbegegnung mit diesem Film einladen: »Sie sehen selbst, sie hören selbst, urteilen sie selbst!«

Die Kraniche ziehen

Produktionsland UdSSR Premierendaten 1957

Produzent Mosfilm, UdSSR, Moskau Produktionsleitung Igor Wakar

Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Michail Kalatosow

Drehbuch Wiktor Rossow Kamera Sergei Urussewski

Schnitt Marija Timofejowa Musik Moissei Wainberg

Deutsche Bearbeitung VEB DEFA-Studio für Synchronisation Dialog der deutschen Fassung Wito Eichel

Regie Helmut Brandis Schnitt Hildegard Gierke

Ton Max Galinski, Fritz Klenke

Darstellende Weronika: Tatjana Samoilowa (Eva-Maria Hagen) Boris Borosdin: Alexei Batalow (Horst Schön) Fjodor I. Borosdin: Wasili Merkurjew (Hans Wehrl) Mark Borosdin: Alexander Schworin (Reinhard Brandt) Irina Borosdina: Swetlana Charitonowa

(E. M.-Fürstenau) Stepan: Walentin Subkow (Helmut Müller-Lankow)

Wolodja: Konstantin Nikitin (Manfred Borges) Großmutter Warwarowa: Antonina Bogdanowa (Maria Hofen)

Tschernow: Boris Kokowkin (Karl Eugen Lehnkering)

Anna Michailowa: Jewgenja Kuprjanowa (Marga Legal)

Satschkow: Leonid Knjasew Ingenieur: Georgi Kulikow

Weronikas Mutter: Galina Stepanowa Weronikas Vater: Georgi Schamschurin Antonina Monastyrskaja: Irina Preis Zum Inhalt

Boris und Weronika sind ein Liebespaar, sie läßt sich von ihm »Eichhörnchen« nennen und die beiden beobachten den Zug der Kraniche über der Stadt 1941. Nach dem Ausbruch des Krieges meldet sich Boris freiwillig zur Front und wird am Tag vor Weronikas Geburtstag eingezogen. Ihr gelingt es nicht, sich von ihm zu verabschieden, und Boris kann ihr nur sein Geburtstagsgeschenk, ein Spielzeug-Eichhörnchen, hinterlassen. Sein Bruder Mark, der Pianist, war schon immer in Weronika verliebt und nutzt die Abwesenheit von Boris, um Weronika während eines Bombenangriffs zu verführen. Sie willigt ein, ihn zu heiraten.

Währenddessen fällt Boris an der Front, nachdem er seinen verwundeten Kameraden Wolodja gerettet hat. Weronika erfährt aber nichts von seinem Tod und hält ihn weiterhin für vermißt. Erst als Weronika bei der Siegesparade nach dem Krieg Boris’ Freund und Frontkameraden Stepan wiedertrifft, kann sie Boris’ Tod akzeptieren. Die für Boris mit-gebrachten Blumen verteilt sie an zurückgekehrte Soldaten.

Leuchte, mein Stern, leuchte

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