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Berlin – Ecke Schönhauser

Im Dokument Sozialistische Filmkunst (Seite 160-166)

Das erste Produktionspraktikum im DEFA-Spielfilm führte mich 1956 in einen Produktionsstab, der wie die anderen nach seinem Leiter benannt war, zur Alb-recht-Produktion. Mit Erich Albrecht als producer hatte Gerhard Klein schon im Dokumentarfilmstudio zusammengearbeitet. Nach den gemeinsam gedrehten Fil-men Alarm im Zirkusund Eine Berliner Romanzewaren sie eben dabei, den drit-ten »Berlin«-Film vorzubereidrit-ten: Berlin – Ecke Schönhauser.Das Projekt lief noch unter dem Arbeitstitel des Szenariums von Wolfgang Kohlhaase Wo wir nicht sind ...Die drei Pünktchen standen für die Ergänzung einer landläufigen Lo-sung »sind die anderen«, und das wirmeinte uns, die Kommunisten.

Als ich die kleine Baracke inmitten des Studiogeländes betrat, war mir beklom-men zumute. Der neue Chef war unbekannt, und ich wußte nicht, was mich erwar-tete. Der sorgsam gekleidete Mann empfing mich hinter seinem penibel aufge-räumten Schreibtisch, die Ablagen auf Kante, ein ansehnliches Stiftsortiment nach Größe geordnet. Der quicklebendige, auch schnell aufbrausende Gerhard Klein wird ihn bald einmal im kleinen Meinungsstreit um irgend eine Organisations-frage geradezu tätlich beleidigen, wenn er statt weiterer Widerworte diese peinli-che Ordnung mutwillig zerstört, die wenigen greifbaren Schriftstücke und Bunt-stifte durcheinanderbringt.

Der schon berühmte Regisseur, Nationalpreisträger, bald auch Abgeordneter der Fraktion des Kulturbundes in der Volkskammer, war mir sofort sympathisch, das Gegenteil der Meister, die man von der Hochschule oder als Beobachter am Drehort kannte. Ihm waren die Chef-Allüren eines Artur Pohl, der Genie-Gestus des großen Mimen Martin Hellberg fremd. Ihn umgab nicht Kurt Maetzigs eher distanzierende Aura intellektueller Überlegenheit oder Dudows Aura des proleta-rischen Altmeisters noch aus der Zeit der frühen 30er Jahre.

Klein, Jahrgang 1920, war ein richtiger Kumpel, Arbeiterkind. Daß er Mitglied des Jung-Spartakus-Bundes war und zweimal verhaftet, erfuhr man erst nach sei-nem Tod. Er behandelte jeden seiner Mitarbeiter nicht als Untergebenen, sondern als Mitverschworenen einer einmaligen Unternehmung, als Kollegen, nicht schul-terklopfend, doch mit selbstverständlicher Autorität. Mit vielen war er per du, doch die Vertraulichkeit wurde nur nach Leistung gewährt. Gerhard Klein wollte seine proletarische, mehr noch seine Berliner Herkunft nicht verleugnen. Klein und drahtig, die Schultern ein wenig nach vorn genommen wie ein Boxer in Ab-wehrhaltung, uneitel in der Garderobe wie im Gebaren, dachte er gar nicht daran, seine geringe Körpergröße zu kaschieren.

Ich sollte ihn zur Motivsuche in Berlin begleiten, um seine Entscheidungen mit ihren Konsequenzen für die Produktionsvorbereitung und die Sicherung der Dreh-arbeiten festzuhalten. Klein hatte das Szenarium im Kopf und suchte nun die

Außenschauplätze bis zu stilprägenden Kamerastandpunkten. Er suchte sich von den Handlungsorten erst einmal ohne den Szenenbildner Oskar Pietsch und seinen Westberliner Kameramann Wolf Göthe ein Bild zu machen. Ohne den le-bendigen Eindruck vom jeweiligen Spielort wollte Klein kein Regiedrehbuch schreiben. Er hätte die heute übliche location-Praxis niemals akzeptiert, wo ein Beauftragter des Produzenten die preiswertesten Schauplätze ausmacht. Lediglich das zentrale Motiv galt zwischen Autor und Regisseur als verabredet: Dimitroff/

Ecke Schönhauser Allee, das erst später die Titel-Idee inspirierte, Treffpunkt der Jugendclique des Films unter der Hochbahn.

Für die mobile Ortsrecherche verzichtete Klein auf den reservierten Produk-tionswagen, einen stattlichen schwarzen BMW, und entschied sich für mein Mo-torrad. Statt des klassischen Sozius’ bot die modische neue Sitzbank der kleinen tschechischen 150er Jawa gerade zwei schlanken Leuten Platz. Das war doch schon mal ein Vertrauensbeweis, denn mit langer Fahrpraxis im Großstadtverkehr konnte ich nicht gerade aufwarten.

So kurvten wir durch den Prenzlauer Berg, und als Student aus Thüringen ent-deckte ich mit den Augen und Kommentaren eines Ur-Berliners, wie verschieden ein Hinterhof oder ein Hausflur hier aussehen konnte und warum sich Klein für den sechsten oder siebenten Treppenaufgang entschied, nachdem er ihn vorsichts-halber noch einmal mit dem ersten verglichen hatte. Den kleinen Motivsucher mit verschiedenen Optiken stets griffbereit am Halsband, erprobte der Regisseur schon mal die Wirkung unterschiedlicher Brennweiten.

So sehr sich Gerhard Klein, in einer Laubenkolonie geboren und in Kreuzberg aufgewachsen, im Berliner Osten heimisch fühlte, so selbstverständlich lebte er inzwischen in seiner Villa in Kleinmachnow am Rande von Westberlin. Er hatte sie erst kurz zuvor bezogen. »Das Henselmann-Haus, Anfang der 30er Jahre ge-baut«, erschien selbst Kohlhaase »wahnsinnig nobel. Es ging ihm nicht um Privi-legien, aber er hätte es als kränkend empfunden, wenn man ihm etwas verweigert hätte, was andere auch hatten.«

Klein bevorzugte für die ruhige, kreative Vorbereitungszeit die häusliche At-mosphäre und bat seine Partner und Helfer zu Arbeitsgeprächen oft nach Hause.

Sicher war da auch Stolz im Spiel, ohne jede prahlerische Attitüde. Er wollte zei-gen, was er hatte: Ein Domizil im Bauhaus-Stil, den Blick durch die Glasfront im Mitteltrakt ins Grüne, vom großen Dachgarten in die schönen Kiefernwipfel ringsum.

Bei solcher Gelegenheit wurde ich Zeuge einer beeindruckenden Szene. Klein hatte gerade die erste Drittelrate seiner Regie-Prämie bekommen. Die ließ er sich nicht etwa überweisen, sondern in druckfrischen großen Scheinen an der Gagen-kasse des Studios vorzählen. Zu Hause öffnete ihm seine schon hoch betagte Mut-ter. Noch in der Tür zog er zu ihrem und meinem nicht geringen Erstaunen ein dickes Geldbündel aus seiner abgetragenen Lederjacke und hielt es ihr in der Hand entgegen: »Kiek ma, det erste Jeld für den neuen Film, nimm dir, wat de

brauchst.« Obwohl sie offenbar wußte, daß das ernst gemeint war, zögerte sie, sich so einfach zu bedienen. Doch ihr Sohn ließ nicht locker, bis sie sich wenig-stens einen der 50-Mark-Scheine genommen hatte. »Wenn de nich mehr willst, nu isset zu spät«, beendete Klein sein Anerbieten. Ehrlich unzufrieden über ihre Be-scheidenheit, knickte er das Bündel und schob es wieder lose in die Tasche zurück.

Mein Praktikum endete im Atelier mit den ersten Probeaufnahmen. Kohlhaase und Klein hatten den Film sehr auf Detailtreue und einen größtmöglichen Wirk-lichkeitsnähe hin konzipiert. Das eben kreidete ihnen später Alexander Abusch prompt als unzulässige Anleihe beim italienischen Neorealismus an. Doch Klein frönte keinem platten Dokumentarismus oder dem Naturalismus der Augenblick-serfindung. So dachte er für die Besetzung der jugendlichen Helden aus dem Kiez keinswegs zuerst an Laien, wenn es um die Gestaltung von Charakteren ging.

Einer seiner Wunschkandidaten für die Rolle des Kohlestand mit Ernst-Georg Schwill frühzeitig fest, doch der war ja schon fast ein Profi: Klein hatte den Vier-zehnjährigen 1953 als boxsportbesessenen Maxfür Alarm im Zirkusentdeckt und in der Berliner Romanzewieder besetzt. In die neue Aufgabe eines Halbstarken mit gestörtem Elternhaus war der frühverwaiste Schwill nun geradezu hineinge-wachsen.

Die Suche nach dem Hauptdarsteller führte Gerhard Klein zur Überraschung, ja Skepsis seiner Mitarbeiter zuerst ins Brecht-Theater, zu Ekkehard Schall. Der junge Star des Berliner Ensemble hatte dort gerade unter der Regie von Bertolt Brecht, Benno Besson, Manfred Wekwerth und Peter Palitzsch seinen eigenen theatralischen Stil gefunden und eine unverwechselbare artifizielle Sprechweise kultiviert. Kein Wunder, daß er sich, wie er selbst bekannte, nicht für einen Halbstarken-Darsteller hielt und auch keiner sein wollte. Schall erinnerte sich später: »Klein stellte mich vor die Entscheidung, das alles zu vergessen, um das Bühnengemäße dem Filmischen anzunähern, also anders zu spielen, als ich es ge-wohnt war. Wir konnten uns beide nicht überzeugen, und jetzt setzte ein merk-würdiger Krieg ein: Ich kämpfte mit den Machtmitteln des Schauspielers und spielte meine Konzeption der Szene, und er als Regisseur ließ sie vielleicht dreißig Mal wiederholen und sagte: ›Du wirst schon müde werden und es dann so falsch machen, daß es für mich richtig ist.‹ Das gelang ihm auch irgendwann, aber es kam zu einem großen Ärger zwischen uns, fast zum Abbruch der Dreharbei-ten.« Dem Produktionsleiter Albrecht dankte der Darsteller danach für die fach-liche und menschfach-liche Fähigkeit, zwischen beiden zu vermitteln: »Unsere danach entstandene Freundschaft resultierte, wenn man so will, aus einem Streit, aus einem Schlagabtausch«, so Schall.

Dieser Konflikt kündigte sich schon während der Probeaufnahmen an, doch Klein hütete sich, ihn schon jetzt auf die Spitze zu treiben. Er vertraute darauf, daß er Schall im Verlauf der Dreharbeiten in einen »natürlichen Ton« und einen filmischen Gestus zwingen würde.

Die Probeaufnahmen mit komplettem Drehstab fanden in eigens dafür impro-visierten Dekorationen statt. Sie dienten neben der Besetzung auch der Verab-redung über den angestrebten Bildstil. Für eine Probe mit Ekkehard Schall als Cliquen-Chef Dietermit einem FDJler war ein Kandidat nicht erschienen. So kam Klein auf die Idee, den Part nicht wie üblich vom Assistenten hinter der Kamera in die Szene hineinsprechen zu lassen, sondern mich auf den Stuhl des Agitators zu setzen. »Dietrich, du machst jetzt mal den Sekretär!«

Der Double-Debütant bekam die Bildzeugnisse seiner Mitwirkung nie zu Ge-sicht. Heiner Carow, neben Dudow der dritte Mann in der sich eben formierenden Gruppe Berlin, erinnerte sich noch viele Jahre später an den großen Lacherfolg über die unfreiwillige Satire auf einen FDJ-nikund dessen sattsam bekannten pädagogischen und im Berliner Raum vielfach höhnisch imitierten sächsischen Tonfall. Gerhard Klein fragte mich ernstlich, ob ich mir den winzigen Part zu-traue, den ich doch im wirklichen Leben hinreichend hatte studieren und prakti-zieren dürfen. Doch mir fehlte neben dem Talent auch jegliche Neigung, »etwas darzustellen«. Klein drang nicht weiter in mich und entschied sich glücklicher-weise für die weniger komische, sondern ernsthafte künstlerische Interpretation der Rolle durch Hartmut Reck.

Als Dramaturg traf ich zehn Jahre später noch einmal mit Gerhard Klein zu-sammen. Das war bei einer kurzen, doch sehr intensiven Drehbucharbeit für Der große und der kleine Williim Episodenfilm Geschichten jener Nacht.Da war der Regisseur bereits schwer erkrankt und operiert, doch voller Tatkraft. Sein letzter Spielfilm blieb unvollendet. Gerhard Klein starb 1970, gerade erst 50 Jahre alt.

Berlin – Ecke Schönhauser

Wo wir nicht sind ... (Arbeitstitel)

Produktionsland DDR (1957)

Premierendatum 30.08.1957, Berlin, Kino Babylon

Auszeichnungen ausgewählt von Filmhistorikern und -journalisten im Verbund Deutscher Kinematheken als einer der 100 wichtigsten deutschen Filme aller Zeiten ausgewählt vom Museum of Modern Art New York 2005: DEFA-Retrospektive »Rebels with a cause«

Produzent DEFA-Studio für Spielfilme, Potsdam-Babelsberg Verleih PROGRESS Film-Verleih

Regie Gerhard Klein Drehbuch Wolfgang Kohlhaase Dramaturgie Gerhard Hartwig Regie-Assistenz Otto Roland

Kamera Wolf Göthe

Kamera-Assistenz: Manfred Damm Optische Spezialeffekte: Ernst Kunstmann Standfotos: Hannes Schneider, Siegmar Holstein Licht Hans Helmstädt

Bauten Oskar Pietsch Außenrequisite Fritz Stemmer

Bühne Manfred Grimm (Bühnenmeister) Kostüme Lydia Fiege

Maske Bernhard Kalisch, Inge Roloff Schnitt Evelyn Carow

Ton Erich Schmidt Musik Günter Klück Produktionsleitung Erich Albrecht

Aufnahmeleitung Horst Dau, Heinz Walter

Darstellende Dieter: Ekkehard Schall, Angela: Ilse Pagé

Karl-Heinz: Harry Engel, Kohle: Ernst-Georg Schwill Kohles Mutter: Erika Dunkelmann

Kohles Schwester: Brigitte Stroh

Angelas Mutter: Helga Göring, FDJler: Hartmut Reck Kohles Stiefvater: Maximilian Larsen

Karl-Heinz’ Mutter: Ingeborg Beeske Karl-Heinz’ Vater: Siegfried Weiß Dieters Bruder: Manfred Borges

Kommissar der Volkspolizei: Raimund Schelcher 1. Geldwechsler: Jürgen Holtz

2. Geldwechsler: Gerhard Soor

Schläger: Gerhard Rachold, Sekretärin: Hella Jansen FDJ-Sekretärin: Adi Tischmeier

1. Lagerleiter: Heinz Schröder 2. Lagerleiter: Peter Kiwitt

Amerikaner: Gerd-Michael Henneberg Korpulenter Mann: Horst Friedrich Chef des Funkwagens: Horst Ripperger Dieters Zimmerwirtin: Dorothea Thiesing

Darstellende Arbeiter: Albert Zahn, Sekretärin: Ursula Mundt Junge Schwester der Bahnhofsmission:

Barbara Brecht-Schall (Barbara Berg) Arzt im Flüchtlingslager: Dr. Bahlke Kriminalkommissar: Rudolf Christoph Älterer Mann: Kurt Getke, Ober: Willi Korrik Freund von Angelas Mutter: Anselm Glücksmann Mädchen von Karl-Heinz: Brigitte Rauchfleisch Älteres Fräulein: Hilde Sonntag, Passant: Carlo Kluge Alte Frau: Liesel Eckhardt

Zeitungsverkäufer: Hans Beck Lkw-Beifahrer: Rudolf Meurer Baggerfahrer: Walter Lendrich Älterer Arbeitskollege: Paul Streckfuss Jüngerer Arbeitskollege: Rolf Beuckert

in weiteren Rollen: Gert Heinrich, Ursula Keßler, Paul Knopf, Grete Carlsohn, Arthur W. Neubert Gertrud von Bastineller

Zum Inhalt

Dieser Jugendfilmklassiker ist die anschauliche Darstellung einer Stadt, deren wirtschaft-liche und politische Teilung alle Bereiche des Lebens beeinflußt. Berlin, Prenzlauer Berg.

Unter dem U-Bahnbogen an der Ecke Schönhauser Allee trifft sich täglich das junge Deutschland. Die Erwachsenen stören sich an der Gruppe Jugendlicher, den Halbstarken, ohne zu fragen, warum sie auf der Straße ihre Freiheit suchen. Da ist »Kohle«, dessen Stiefvater versucht, ihm mit Schlägen Anstand beizubringen. Angela macht stundenweise Platz für den Liebhaber der Mutter, einer Kriegswitwe, die die Einsamkeit nicht mehr aus-hält. Dieter liebt Angela und ist ein anständiger Kerl, der sich aber von niemandem etwas sagen läßt und deshalb überall aneckt. Einzig und allein Karl-Heinz, ein Junge aus behüte-tem Elternhaus, ist auf die schiefe Bahn geraten. Am Bahnhof Zoo versucht er, das schnelle Geld zu machen. Als er seine Freunde Dieter und »Kohle« mit in die Sache hineinzieht, müssen die beiden vor der Polizei in den Westsektor der Stadt fliehen. Im Auffanglager kommt »Kohle« tragisch ums Leben und Dieter muß erneut um seine innere Freiheit kämp-fen. Am Ende kehrt er zu Angela zurück – denn nun weiß er, was er tut.

Der dritte gemeinsame Berlin-Film von Gerhard Klein und Wolfgang Kohlhaase ist im Stil des italienischen Neorealismus gedreht.

Im Dokument Sozialistische Filmkunst (Seite 160-166)