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Egon Günther – Biographie und Filmographie

Im Dokument Sozialistische Filmkunst (Seite 84-95)

Egon Günther wird am 30. März 1927 in Schneeberg (Erzgebirge) als Sohn eines Arbeiters geboren. Er erlernt das Schlosserhandwerk und arbeitet anschließend als technischer Zeichner in einem Konstruktionsbüro für Maschinenbau. 1944/45 ist er kurze Zeit Soldat, gerät in Holland in Kriegsgefangenschaft, aus der er ent-flieht. Nach einem Neulehrerkursus studiert er 1948 – 51 an der Karl-Marx-Uni-versität Leipzig Pädagogik, Germanistik und Philosophie (u. a. bei Ernst Bloch).

Er arbeitet zunächst als Lehrer, dann als Verlagslektor in Halle/Saale. Er veröffent-licht Gedichte (Die Zukunft sitzt am Tisch; 1955), zwei Romane (Flandrisches Finale, 1955; Der kretische Krieg, 1957) und eine Erzählung (Dem Erdboden gleich, 1958), ehe er 1958 als Dramaturg und Drehbuchautor an das DEFA-Studio für Spielfilme nach Potsdam-Babelsberg geht.

Der Literatur bleibt Günther auch weiterhin treu. 1971 erscheint sein Roman

»Rückkehr aus großer Entfernung« – ein Eichmann-Stoff: die Jagd eines ehemali-gen KZ-Häftlings nach einem Kriegsverbrecher. (Der authentische Fall Eichmann tauchte bereits als Motiv in seinem Roman »Die schwarze Limousine« auf, nach dem er das Drehbuch zu dem Film »Jetzt und in der Stunde meines Todes« ver-faßte.) Der Roman »Einmal Karthago und zurück« (1974) spielt, stark autobiogra-fisch beeinflußt, im Filmmilieu der DDR und blendet auch zurück in die Vergangen-heit der Hauptfigur, des Regisseurs Ernst Waldenburg. Der Roman »Reitschule«

(1981) reflektiert ebenfalls eigene, in diesem Fall familiäre, Erfahrungen: Es ist die Geschichte eines behinderten Mädchens. »Meinen Büchern merkt man an, daß der Autor Filme macht; und in meine Filme versuche ich Stilmittel zu übernehmen, die der Roman hervorgebracht hat.« (Günther, 1976).

1964/65 beginnt er mit Lots Weib, seine Drehbücher, die oft nach Szenarien seiner damaligen Frau Helga Schütz entstehen, selbst zu inszenieren. Sein zweiter Film Wenn du groß bist, lieber Adamwird in Folge des 11. Plenums des ZK der SED nicht aufgeführt. Er dreht neben Gegenwartsstoffen (Anlauf, Der Dritte, Die Schlüssel) für das Kino oder Fernsehen eine Reihe von Literaturverfilmungen (nach Johannes R. Becher und Arnold Zweig), die die Zeit um den Ersten Welt-krieg reflektieren. Mitte der 1970er Jahre beginnt eine Art Zyklus, der sich um die Person J. W. Goethes dreht (Lotte in Weimarnach Thomas Mann; Die Leiden des jungen Werthers; der Dokumentarfilm Weimar, du Wunderbare; das Fernsehspiel Euch darf ich’s wohl gestehen).

Trotz des internationalen Erfolgs seines Films Der Dritte, erlebt Günther einen Rückschlag mit Die Schlüssel: Der Film ist beim Publikum ein Mißerfolg und darf, nach Protest polnischer Stellen, außerhalb der DDR nicht gezeigt werden.

Die darauf folgende Beschäftigung mit Literaturverfilmungen bedeutet für ihn eine Art formalen Rückzugs, wie er aus Anlaß der Leiden des jungen Werthers

be-tont: »Zwar stand mein Sinn wirklich mehr nach einem Gegenwartsfilm, aber es ist für mich im Moment etwas schwierig, meine Vorstellungen von einem Gegen-wartsfilm zu realisieren. Deshalb konnte mich dieser interessante historische Stoff ganz gefangennehmen«. (Sonntag, Nr. 34, 1976).

Im Sommer 1977 tritt Günther aus dem Verband der Film- und Fernsehschaf-fenden der DDR aus, dessen Präsidium er angehörte. Nach ersten Fernseharbeiten im Westen (Ursulaals TV-Co-Produktion Schweiz/DDR; Weimar, du Wunderbare für den Saarländischen Rundfunk) dreht Günther seit Ende der 1970er Jahre aus-schließlich im Westen, so 1979/80 die 7-teilige TV-Reihe Exil, nach dem Roman von Lion Feuchtwanger, mit dem er historisch an seine Zweig-Filme anknüpft.

1983 entsteht nach einem Gegenwartsstoff von Klaus Poche Hanna von acht bis acht.Mit Morenga, folgt eine 3-teilige TV-Produktion für den WDR über die deutschen Kolonien nach dem Roman von Uwe Timm.

Große Publikumsresonanz hat 1987 der Dreiteiler »Heimatmuseum« nach dem Bestseller von Siegfried Lenz. Dagegen scheitert Günther damit, mit Rosamunde ei-ner Entführungsgeschichte aus dem Jahr 1931, auch im Kino wieder Erfolg zu ha-ben. Mit Stein, der eindrucksvoll inszenierten Schlüsselgeschichte um einen in der DDR isolierten Künstler (Rolf Ludwig) dreht Günther 1990/91 nach einem Szena-rium von Helga Schütz einen der letzten DEFA-Filme, der allerdings in den Nach-wende-Wirren kein Publikum findet. Danach wendet sich Günther wieder literarischen Stoffen zu: Lenz. Ich aber werde dunkel seinist ein essayistischer Spielfilm über das Leben des Sturm-und-Drang-Dichters und sein Verhältnis zu Goethe. Dessen Eheleben mit Christiane Vulpius steht im Zentrum von Die Braut, Günthers Beitrag zum Goethejahr.

Egon Günther, der 1999 den Deutschen Filmpreis für sein Gesamtwerk erhält, lebt in Groß-Glienicke bei Berlin.

Filmographie

1998/1999 Die Braut (Drehbuch, Regie)

1998/1999 Else – Geschichte einer leidenschaftlichen Frau (Drehbuch, Regie)

1997 Das 7. Jahr – Ansichten zur Lage der Nation (Regie) 1994/1995 Der Kontrolleur (Dramaturgie)

1992 Lenz (Drehbuch, Regie)

1990/1991 Stein (Drehbuch, Regie) 1988 Rosamunde (Drehbuch, Regie) 1986/1987 Heimatmuseum (Drehbuch, Regie)

1986/1987 Heimatmuseum – Ein Roman wird Film (Mitwirkung) 1984/1985 Die letzte Rolle (Regie)

1984 Mamas Geburtstag (Regie)

1983 Hanna von acht bis acht (Regie)

1983 – 1985 Morenga (Darsteller, Regie, Drehbuch) 1981 Euch darf ich’s wohl gestehen

(Darsteller, Regie, Drehbuch) 1979/1980 Exil (Drehbuch, Regie) 1978/1979 Blauvogel (Darsteller)

1978 Weimar, du Wunderbare (Drehbuch, Regie, Mitwirkung) 1976 Die Leiden des jungen Werthers

(Darsteller, Drehbuch, Regie)

1974/1975 Lotte in Weimar (Drehbuch, Regie, Szenarium) 1973 Erziehung vor Verdun. Der große Krieg der

weißen Männer (Darsteller, Drehbuch, Regie, Szenarium) 1972/1973 Die Schlüssel (Drehbuch, Regie, Szenarium)

1971 Der Dritte (Drehbuch, Regie) 1967/1968 Abschied (Drehbuch, Regie)

1965 Wenn du groß bist, lieber Adam (Drehbuch, Regie)

1964 Alaskafüchse (Drehbuch)

1964/1965 Lots Weib (Drehbuch, Regie)

1963 Jetzt und in der Stunde meines Todes (Drehbuch) 1961 Das Kleid (Drehbuch, Regie).

1960 Begegnung im Zwielicht (Dramaturgie)

1960 Der Fremde (Drehbuch)

1960 Ärzte (Drehbuch)

1959/1960 Mutter Courage und ihre Kinder (Dramaturgie)

Abschied

Dieses ehrgeizigste Projekt der 1964 von mir gegründeten Gruppe Babelsberg war neben Ich war neunzehndie Adaption von Johannes R. Bechers autobiogra-phischem Roman über den Bruch eines jungen Bürgersohnes mit seinem Eltern-haus und seiner Klasse zwischen der Jahrhundertwende und dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Im November 1968 stand der zehnte Todestag Bechers bevor und ließ große öffentliche Aufmerksamkeit erwarten. Das konnte der Breitenwir-kung eines anspruchsvollen DEFA-Films nur dienlich sein.

Im Januar 1966 gab die Studioleitung »grünes Licht« für meine erste Begeg-nung mit Lilly Becher. Die Witwe hütete das künstlerische Erbe und die Urheber-rechte des ersten DDR-Kulturministers, den Walter Ulbricht postum zum »größ-ten deutschen Dichter der neues»größ-ten Zeit« gekürt hatte. In einem langen Gespräch überraschte sie mich durch ihre fast lückenlose Kenntnis der Babelsberger Pro-duktion, mehr noch durch ihr kritisches Urteil über ihren Standard. Sie interes-sierte sich allein für die Kontrolle der künstlerischen Qualität der Bearbeitung erst einmal bis zum Drehbuch. Zwei wissenschaftliche Mitarbeiter des Becher-Archivs der Akademie der Künste, Ernst Stein und Ilse Siebert, sollten uns bera-ten und für sie den Fortgang der Arbeit beobachbera-ten.

Wochen nach dieser freundlichen Übereinkunft teilte uns der Deutsche Fern-sehfunk mit, daß ihm der Aufbau-Verlag bereits vor Jahren das »ausschließliche Recht zur Bearbeitung des Stoffes als Fernsehfilm« übertragen habe. Man wolle ihn so produzieren, daß er »auch in den Lichtspielhäusern laufen kann«. Doch unser Konkurrent hatte dafür noch nichts getan und Lilly Becher inzwischen so viel Vertrauen zu uns, daß sie den Verlag zur Vertragsänderung veranlaßte. Der versprach, den Kinostart mit einer preiswerten Taschenbuch-Ausgabe, Auflage 50 000, zu begleiten. Und so geschah es später auch.

Trotz harscher Kritik der Parteioberen an Günter Kunert, auf dem 11. Plenum im Dezember 1965 gerade erst erneuert, empfahl sich der Lyriker auch dank sei-ner Erfahrung als Filmszenarist. Mit eisei-ner Filmerzählung wollten wir uns der Kino-Adaption nähern.

Schwieriger war die Regiefrage. Der Vorschlag der Studioleitung, Kurt Maet-zig mit der Regie zu betrauen, stieß bei Lilly Becher auf Zurückhaltung. Es gehe um das Bild sehr junger Leute auch für ein sehr junges Publikum. Die Ausrede war offenkundig, als sie statt Maetzig den fünf Jahre älteren Wolfgang Staudte ins Gespräch brachte. Doch der hatte das Studio erst kürzlich wissen lassen, daß er sich als Bundesbürger aus politischen Gründen keine neue DEFA-Verpflichtung leisten könne, ohne seine Existenzgrundlage im Westen zu gefährden, abgesehen von seiner Honorarerwartung von 150 000 DM. Lilly Becher hoffte nun auf Kon-rad Wolf, aber er gestand ihr unter vier Augen, daß ihm dieser Jugendstoff aus einer sehr fernen deutschen Vergangenheit fremd sei.

Die erste Hürde auf dem Weg zum Filmbuch war mit Günter Kunerts Treat-ment nicht genommen. Weder die Gruppe Babelsbergsamt Erstleser Herrmann Zschoche, noch Lilly Bechers Gewährsleute fanden das Gesellschaftspanorama und die wichtigsten Charaktere tief genug erfaßt. Die skizzierte Filmhandlung folgte der Chronologie des Romans, ihre Ausschmückung tendiere eher zum Fernseh-Mehrteiler.

Da kam uns der Zufall zu Hilfe. Für die dramaturgische Betreuung des Presti-geprojekts hatte ich Prof. Dr. Konrad Schwalbe gewonnen, Ex-Chefdramaturg und nun Rektor der Filmhochschule. Er traf in der Kantine Egon Günther und empfahl ihm die Lektüre des Romans und der Filmerzählung. Günthers leiden-schaftliches Interesse war sogleich geweckt. Für ihn sprach sein schönes Regiede-büt Lots Weib.Doch seine zweite Inszenierung Wenn du groß bist, lieber Adam, ein komödisch-ironisches Gegenwartssujet, war noch vor Abschluß der Drehar-beiten in die politischen Turbulenzen des 11. Plenums geraten und im Filmkeller gelandet. Daß sich Günter Kunert und Lilly Becher, aber auch die neue Studiolei-tung sehr rasch mit dieser Regie-Perspektive befreundeten, lag nicht allein am En-thusiasmus des unerwarteten Bewerbers. Dank seiner Erfahrung als Dramaturg und Szenarist versprach er auch einen Ausweg aus der Sackgasse, in die der erste Bearbeitungsschritt geführt hatte. Und Kunert akzeptierte sogleich die von uns vorgeschlagene Mitautorschaft des Regisseurs.

Egon Günthers Filmidee war so respektlos wie vielversprechend. Zum Glück formulierte er sie so provokatorisch nur im Gespräch mit Lilly Becher. »Man muß Bechers Romanstruktur zerbrechen, um sie für den Film neu zu konstruieren.« In keiner Dramturgenkonzeption wäre solch eine Blasphemie geduldet worden und hätte schon den Plan vereitelt. Die Autoren durchbrachen also die Chronologie der Handlung und verknüpften die Episoden durch die Gedankenstimme des jun-gen Bürgersohnes Hans Gastl,der seine Entwicklung rückschauend mit seinem inneren Monolog kommentiert.

Das neue Erzählprinzip erlaubte einen freien Umgang mit dem Stoff und zu-gleich eine heiter-überlegene, ironisch-distanzierende Sicht auf die konfliktreiche Entwicklung des jungen Helden. Wir versprachen uns davon auch einen leichte-ren Zugang des jungen Publikums zum historischen Gegenstand.

Mit wenigen Detailwünschen empfahl die Gruppe Babelsberg im Mai 1967 die Abnahme des Szenariums und die Produktionsplanung für die Premiere im Okto-ber 1968. Der neue Chefdramaturg Günter Schröder bemängelte lediglich die schwache Repräsentanz »der Kräfte, die der Bourgeoisie entgegenstehen«. Doch die waren schon im Roman nur durch das Dienstmädchen Christine, den Offi-ziersburschen Xaverlund den Klassenkameraden Hartingervertreten, auch der kein lupenreiner Proletarier, sondern Sohn eines sozialdemokratisch orientierten Schneiders. Aber es gab auch den Gymnasiasten Löwenstein, Sohn eines Ban-kiers, das Jüdlein,mit seiner rein intellektuellen Schwärmerei für die Revolution oder was er dafür hielt. Gekürzt werden sollte das kleinbürgerlich-anarchistische

Bohème des Café Stefanie,Bechers Anspielung auf das bekannte Münchener Café Größenwahn, obschon die Entwicklung des jungen Mannes zum künftigen Dichter hier entscheidende Impulse bekommt. Allein die Warnung vor zu vielen Zeitsprüngen im Exposé lag auch im Publikumsinteresse. Ganz im Sinne der neuen Leitungspraxis nannte der Chefdramaturg seine Empfehlungen abschließend

»Auflagen für die Weiterarbeit«.

Zwiespältige Gefühle löste seine Absicht aus, Alexander Abusch um Konsulta-tion zu bitten. Der Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrats der DDR war die ranghöchste kulturelle Regierungsinstanz, doch nur bei gutem Ausgang eine prächtige Rückversicherung. Die Filmleute aber kannten das ZK-Mitglied, den Ex-Kulturminister, als intelligenten, doch ungewöhnlich strengen kunstpoliti-schen Interpreten der jeweiligen Linieder Parteiführung.

Er empfing die kleine DEFA-Abordnung, Chefdramaturg, Regisseur und Grup-penleiter, in seinem riesigen Arbeitszimmer im repräsentativen Sitz des Minister-präsidenten, dem Alten Stadthaus Am Molkenmarkt. Der kleine Mann mit der hohen Intelligenzlerstirn pries die Bedeutung des Romans und lobte die Verfil-mungsabsicht, ohne sich auf Details des filmliterarischen Entwurfs einzulassen.

Interessant war seine lebendige Schilderung der psycho-sozialen und politischen Situation rebellischer Bürgersöhne in Süddeutschland und ihrer drei geistig-kultu-rellen Repräsentanten, »der Becher in München, der Brecht in Augsburg und ich in Stuttgart« ..., so in größter Bescheidenheit Abuschs Aufzählung.

Nach diesem Wink aus dem Olymp war die Produktionsfreigabe durch die HV Film sicher. Sie war mit der Mahnung versehen, die sozialen Gegenkräfte stärker ins Spiel zu bringen, einschließlich Liebknechts Verweigerung der Kriegskredite.

Dafür sollte dem erotischen Ausflug des jungen Gastlins Milieu der Edelnutte Fannysamt Todesvision mit der Geliebten weniger Raum gegeben werden.

Urteilen Sie selbst, ob Sie den erhobenen Zeigefinger irgendwo im Film entdecken.

Die Arbeit am Drehbuch und die Inszenierung blieben frei von jedweder Einmi-schung. Im Januar 1968 wurden die Dreharbeiten begonnen und im Mai beendet.

Zu einerNachaufnahme allerdings ließ sich Egon Günther herbei. Lilly Becher kritisierte nach einer Mustervorführung die Besetzung der Rolle der Großmutter Gastl.Ilse Voigt, schwergewichtiger Oma-Typ von eher proletarischer Statur und Ausstrahlung, wurde durch Mathilde Danegger ersetzt, die in Gestalt, sozialem Gestus und süddeutscher Sprachfärbung der Romanfigur ideal entsprach. Lilly Becher war vom fertigen Film begeistert. Ihre Sorge galt nur noch dem Kinoein-satz. Der Film müsse ins Ausland gebracht werden und dürfe nicht etwa nur in die Filmklubs kommen. Wie prophetisch!

Trotz der für die DEFA kühnen, ja gewagten formalen Mittel künstlerischer Stilisierung gab es keine Abnahmehürden. Selbst Progreß Verleih und DEFA-Außenhandel waren des Lobes voll. HV-Chef Siegfried Wagner sprach »sehr be-eindruckt von der modernen künstlerischen Gestaltung, von einem großartigen künstlerischen Dokument, von dem trotz hoher Ansprüche an das Publikum starke

internationale Wirkung zu erwarten ist«. Und er kündigte bereits die »glanzvolle Premiere als würdigen Beitrag nach dem Festakt des Präsidialrats des Kulturbun-des zum 10. ToKulturbun-destag Bechers« an.

Eine solche Filmabnahme hatten wir noch nicht erlebt, und so beantragten wir vorab die Zuerkennung des Staatlichen Prädikats Besonders wertvoll.Die nächste Überraschung folgte auf dem Fuße. Der Antrag wurde, nachdem Abusch den Film gesehen hatte, positiv beschieden, mehr noch, erstmalig in der DEFA-Geschichte durfte die Nachricht von dieser Auszeichnung die Plakatwerbung zieren. Aller-dings auch letztmalig.

Während alle Beteiligten der Premiere entgegenfieberten, mündete der Prager Frühlingin den heißen August der militärischen Beendigung der tschechoslowa-kischen Sozialismusreform. Kein Wunder, daß die repräsentative Becher-Ehrung am 10. Oktober 1968 im Kino Internationalmit dem Gesang des Erich-Weinert-Ensembles der NVA einem Feingeist wie Günter Kunert geradezu martialisch erscheinen mußte. Nicht weniger die heftigen Attacken des Festredners Abusch gegen die »freiwilligen und unfreiwilligen Helfer der psychologischen Krieg-führung der Imperalisten«, die im Nachbarland »einen ›neuen Sozialismus mit ei-nem menschlichen Gesicht‹ propagierten, aber gleichzeitig durch ihre provinzielle Nachäffung der spätbürgerlich westlichen Dekadenz in Filmen und Theater-stücken das Gesicht des Menschen ihres sozialistischen Vaterlandes verunstalte-ten und deformierverunstalte-ten«.

Um so erstaunlicher Abuschs kühnes Kompliment, »daß unsere DEFA mit der Ur-aufführung des Films Abschiedden Dichter ehrt und zugleich damit die Lebenswirk-samkeit seines Werkes für den heutigen Tag bezeugt.« Mutiger noch das Bekenntnis des Festredners: »Ohne die Meinung der Zuschauer vorwegnehmen zu wollen, meine ich als langjähriger Freund Bechers und seines Werkes, daß die Schöpfer die-ses Films sich mit hohen Qualitäten bemüht haben, ihn in der politisch-poetischen Durchdringung des Themas ebenbürtig an die Seite des Romans zu stellen.«1

Der angemessene Beifall für die lange Rede war kaum verklungen, da erhoben sich in der ersten Reihe zwei, um den Saal am Seitenausgang zu verlassen, Walter Ulbricht, Parteichef und Vorsitzender des Staatsrats der DDR, dicht gefolgt von seiner kleinen Frau Lotte.

Nun befürchteten manche schon das Schlimmste. Der Beifall der geladenen Gäste für den nun folgenden Film war freundlich. Eine Vorstellung der Künstler auf der Bühne war vom Protokoll nicht vorgesehen. Dafür feierten am selben Abend die zahlenden Besucher der öffentlichen Kino-Premiere im 1 000-Plätze-Theater Kosmos die Filmleute mit frenetischem Applaus.

Am nächsten Tag erschien Abuschs Rede ungekürzt im »Zentralorgan« und schien alle Unkenrufe über ein mögliches Verbot zu widerlegen. Zwei Tage später brachte Neues DeutschlandRainer Kerndls ausführliche Rezension mit genauer

1 Neues Deutschland v. 11.10.1968

Beschreibung der Konzeption und ihrer Realisierung.2So machte sich die Filmcrew ohne Arg auf den Weg zu mehreren Bezirksfilmpremieren und Sonder-veranstaltungen.3

In Erfurt lud SED-Bezirkskulturfürst Rudolf Herzog danach zum Abendimbiß in kleiner Runde. Der, so hörte man, habe als erster die Alarmglocken geläutet, weil er manche seiner dunklen Vermutungen während der Vorführung in allzu freimütigen Äußerungen von Regisseur und jugendlichem Hauptdarsteller be-stätigt fand: Da wollten wohl respektlose Filmrevoluzzer den Dichter der Nation vom Sockel stoßen. Unmut unter der NVA-Generalität hatte es schon in Straus-berg ausgelöst, als Bechers alter ego, Jan Spitzer, zur feierlichen Veranstaltung im Haus der Offizierein den verpönten Blue Jeans auf die Bühne sprang und die üppig dekorierten Militärs und ihre festlich gekleideten Damen mit seinem sub-versiven West-Import provozierte.

Der Film hatte trotz mancher Sorge um die »Volkstümlichkeit« seiner Film-sprache einen phantastischen Kino-Anlauf mit ausverkauften Vorstellungen in den großen Häusern. Die ersten Statistiken ließen Besucherrekorde erhoffen.

So glaubten wir uns schon über den Berg. Doch mit der 9. Tagung des ZK im November 1968 drehte sich der Wind. Walter Ulbricht hatte im Referat über die

»weitere Gestaltung des gesellschaftlichen Systems des Sozialismus« einen Sei-tenhieb auf die Kunst parat. »Das humanistische Erbe ist für uns weder museales Bildungsgut noch Tummelplatz sujektivistischer Auslegungen.«4 Deutlicher wurde der Kandidat des ZK Hans-Dieter Mäde, Generalintendant der Staatstheater Dresden. Er polemisierte in der Diskussion gegen alle möglichen ideologischen Ab-weichungen im Kunstbetrieb und befand, »daß der Abschied-Film die Höhe des Be-cherschen Geschichts- und Menschenbildes nicht erreicht.« Er war Walter Ulbricht schon einmal in einer abstrusen Formen-Diskussion gegen schlanke, zylinder-förmige Vasen beigesprungen und entdeckte nun »wieder (...) Konzessionen an sogenannte moderne Mittel, die dazu führen, daß der Vorgang der Fabel und die Be-chersche historische Vorgabe in impressionistische Einzelelemente aufgelöst wird.«

Ihm fehlte weitgehend Bechers Intention, »wie im Neinsagen zugleich die Keime einer echten neuen Bewußtheit wachsen.« Das war eine deutliche Kritik an Alexan-der Absuch, Alexan-der vom Helden gesagt hatte: »Noch weiß er erst ahnend und ungenau, wohin er gehört; aber er weiß schon genau, wohin er nicht mehr gehört.« Und Mäde monierte, »daß die Seite des Alten so satirisch zugespitzt, so komödiantisch, mit neuen Mitteln dargestellt wird. Aber wenn ich den Gegner durch sogenannte komö-diantische Mittel zu sehr verkleinere, verkleinere ich im selben Moment auch die Leistung dessen, der den Gegner überwindet. Auch diese Dialektik scheint mir in vielem gestört.«5

2 Neues Deutschland v. 14.10.1968

3 11.10. Gera, 12. Erfurt/Eisenach, 13. Sangerhausen, 14. Buna, 15. Leipzig, 16. Wünsdorf GSSD; 17. Leuna-Werke Bitterfeld; 18. Cottbus; 19./20.10. Karl-Marx-Stadt

4 Neues Deutschland v. 25.10.1968 5 Neues Deutschland v. 26.10.1968

Mädes Polemik im höchsten Parteiforum lag wohl ganz im Sinne von Ulbrichts Becher-Bild und dessen Filmverständnis, denn prompt danach initiierte Neues DeutschlandLeser-Zuschriften unter der rhetorischen Frage »Ist das noch Bechers Weltsicht?« mit Zwischentiteln wie »Tief enttäuscht« oder »Reizt zum Lachen, aber nicht zum Denken«. Horst Knietzsch verharmloste den organisierten Verriß

Mädes Polemik im höchsten Parteiforum lag wohl ganz im Sinne von Ulbrichts Becher-Bild und dessen Filmverständnis, denn prompt danach initiierte Neues DeutschlandLeser-Zuschriften unter der rhetorischen Frage »Ist das noch Bechers Weltsicht?« mit Zwischentiteln wie »Tief enttäuscht« oder »Reizt zum Lachen, aber nicht zum Denken«. Horst Knietzsch verharmloste den organisierten Verriß

Im Dokument Sozialistische Filmkunst (Seite 84-95)