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Der Fall Gleiwitz

Im Dokument Sozialistische Filmkunst (Seite 63-69)

Hitler erklärt am 22. August 1939 vor seinen Oberbefehlshabern zum bevorste-henden Kriegsbeginn mit dem Ziel der Vernichtung Polens: »Ich werde propagan-distischen Anlaß zur Auslösung des Krieges geben, gleichgültig ob glaubhaft. Der Sieger wird später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht.«

Diese Methode hat in der Geschichte weiter Schule gemacht bis in die Gegenwart.

Aber nach der Wahrheit muß und wird immer wieder gefragt werden – auch mit den Mitteln der Kunst.

Autor Günther Rücker, in den 50er Jahren überwiegend mit Dokumentarfilmen befaßt, hatte die Idee, den von SS und SD fingierten Überfall polnischer Freischär-ler auf den deutschen Grenzlandsender Gleiwitz am Vorabend des Angriffs zum Ge-genstand eines Spielfilms zu machen. Er hatte dafür nicht nur die geheime Vorberei-tung und den martialischen Verlauf der Aktion recherchiert, sondern auch die Biographie ihres Kommandeurs. Er muß sich der Authentizität seiner Nachfor-schungen sicher gewesen sein, denn er nannte die Filmfigur bei ihrem wahren Na-men, Alfred Naujocks, und dokumentierte Stationen seiner Karriere öffentlich noch einmal 1992 in der Wochenpost.

Nach Bewährung in den Feme-Trupps der Freikorps findet Naujocks Ende der 20er Jahre folgerichtig zur SS. Zwar mißglückt ihm ein Mordkomplott am frühen Hitler-Kumpan und späteren -Rivalen Gregor Strasser im Prager Exil, doch dessen Funkingenieur Formis, der aus einem Hotel in Böhmen Strasser-Parolen ins Reich sendet, entging ihm nicht. »Er tötete Formis, verätzte dessen Gesicht mit Säure, setzte erst den Toten, dann das Zimmer in Brand, und weil es Winter war und sich die Löschmannschaft verspätete, brannte das Hotel bis auf die Grundmauern nieder.«

Kein Wunder, daß SD-Chef Heydrich im SS-Sturmbannführer den besten Gewährs-mann für den Erfolg der neuen, hoch geheimen »Kommandosache« sah. Und der hat seine Auftraggeber nicht enttäuscht. Auf sein Konto geht der erste Tote des Zweiten Weltkriegs, der über 50 Mill. Menschen das Leben kostete. Dank seiner Untat konnte Hitler am Morgen des Überfalls auf Polen behaupten, nun werde zurückgeschossen.

Mehr muß zum Inhalt des Films nicht gesagt werden. Zur Entstehungsge-schichte und Stilfindung nur so viel: Mit dem authentischen Vorgang jedenfalls traf Günther Rücker auf das Interesse von Autor Wolfgang Kohlhaase und Regis-seur Gerhard Klein. Das war so selbstverständlich nicht. Die zwei hatten zusam-men die drei sogenannten Berlin-Filmegemacht: Alarm im Zirkus, Berliner Ro-manze, Berlin Ecke Schönhauser,allesamt Gegenwartsgeschichten über junge Leute, die ihren Platz in der geteilten Stadt erst noch finden müssen. Der aktuelle, realistische Zugriff, den beide am konsequentesten im letzten Streifen praktiziert hatten, war zwar beim jungen Publikum auf große Zustimmung gestoßen, hatte aber die Wächter sozialistisch-realistischer Tugenden alarmiert.

Alexander Abusch, Erster Stellvertreter des Minister für Kultur, kritisierte auf der Filmkonferenz 1958 »zu große Konzessionen an die Betrachtungs- und Ge-staltungsweise des italienischen Neorealismus.« Das war nun wahrlich keine Er-munterung, der unmittelbaren Gegenwart und dem ungeschönten Leben auf der Spur zu bleiben. Kohlhaase und Klein aber fürchteten selbst, sie könnten sich in Thema und Machart wiederholen. Zu dieser Zeit stießen sie im tschechischen Film Die weiße Taubeauf einen extrem anderen stilistischen Impuls, »alles ganz anders, als wir dachten, daß man es machen muß: auffällig statische Bilder, be-merkbare Schnitte, lang stehende Einstellungen, gebaute, beinahe graphische Hintergründe. Seitdem denke ich, daß man sich der Wahrheit auf sehr verschie-dene Weise nähern kann«, so Wolfgang Kohlhaase zur Erklärung, wie es zu dieser einmaligen Zusammenarbeit mit Rücker kam.

Als wichtigster Mitgestalter wurde Jan Curik gewonnen, jener Kameramann aus Prag, der Die weiße Taubefotografiert, für das Szenenbild Gerhard Hellwig, der sich im Dekorationsbau profiliert hatte. Wer nun für das dokumentarische Sujet eine schein-dokumentare Stilistik erwartet hatte, mußte überrascht sein. Die nüchterne Do-kumentation, die minutiöse Vorgangsbeschreibung als »Anatomie eines Verbre-chens«, so Kritiker Fred Gehler, war bis ins Detail vorbedacht und strukturiert. Die Schwarz-weiß-Fotografie arbeitete mit scharfen Licht-Schatten-Effekten, mit graphi-schen, schattenrißartigen Wirkungen im Gegenlicht. Akzentuierende Großaufnahmen kontrastierten mit sorgfältig ausgewählten oder markant gebauten Totalen. Noch be-vor die szenische Dokumentation mit der Ermittlungvon Peter Weiss und Rolf Hoch-huths Stellvertreterdie Bühne eroberte, wurde das Genre für die Leinwand erprobt.

Die neue, zunächst befremdliche Form traf nicht nur auf ein unvorbereitetes Publikum, auch im Studio waren die Urteile kontrovers. Der sachliche Berichtstil, der sparsame Umgang mit dem erläuternden, kommentierenden Wort schien selbst unter Kollegen fragwürdig, war man doch gewöhnt, dem Zuschauer vieles verbal zu verdeutlichen, was ihm Fabel und Szene längst entdeckten. Vor allem aber der Verzicht auf einen aktiven »positiven Helden« schien manchem geradezu verdächtig. Eine negative Gestalt als Hauptfigur – da mußte man mit dem Vor-wurf des Objektivismus, mangelnder Parteilichkeit, rechnen.

Doch die Abnahme in der Hauptverwaltung Film im Frühsommer 1961 verlief anerkennend und achtungsvoll. Die Nominierung für das bevorstehende Interna-tionale Filmfestival in Moskau aber wurde Stunden später widerrufen. Die Film-leute sahen ihr Werk dort in der Informationsschau versteckt.

Die Berliner Premiere am 24. August ‘61 schien günstig terminiert. Schließlich wurde der Mauerbau gerade mit der Gefahr friedensgefährdender Grenzprovoka-tionen begründet. Da erschien eine vernichtende Kritik im Neuen Deutschland mit dem Vorwurf des Formalismus und führte sogleich zu einem gebremsten Kinoeinsatz. Doch es sollte noch schlimmer kommen.

Eine Aussprache in der Kulturkommission des Politbüros unter Leitung von Alfred Kurella beschreibt Günther Rücker so: » Man sagte uns, die

SS-Traditions-verbände würden uns Dankestelegramme senden, der Nazi-Regisseur Veit Harlan hätte diesen Film nicht besser drehen können. Man warf uns Affereien vor, die drehende Kamera im Augenblick des Todes scheußlicher Naturalismus.«

Aus dieser Debatte stammt wohl das Kurella zugeschriebene Diktum, die Au-genhöhe sei die einzig menschliche Perspektive der sozialistisch-realistischen Ka-mera. Wolfgang Kohlhaase reflektierte es so: »Kurella fehlte das Positive. Wo ist der Widerstand? Das war der alte Hut. Völlig unvermutet traf uns der Verdacht, wir könnten den Faschismus ästhetisiert haben. Der Riefenstahl-Vorwurf. Ich meine aber, daß der Film eine Gegenposition aufbaut und daß er die kalte Mecha-nik nicht verklärt, sondern darstellt.«

Über diese Problematik des Films lohnt die Diskussion auch heute noch.Die Wogen dieser aufgeregten Debatte verebbten glücklicherweise rascher als manche politischen Entrüstungsstürme danach. Der Film fand im Ausland große Beach-tung und erwies über das Fernsehen, selbst später noch einmal im Kino, seine Qualität. Rücker spricht gar von einer Million Besucher im Laufe der Jahre. Ein strenger Kritiker und Kulturpolitiker wie Hilmar Hoffmann würdigt den Fall Gleiwitzin seinem Buch »100 Jahre Film« im Kapitel »DEFA-Regisseure retten das Ansehen des deutschen Films 1958-1965«.

Zu den Einladungen ins Ausland zählte man 1963 auch eine solche nach Ham-burg. Hier der Text der Einladungskarte: »Der Filmclub Hamburg e. V. zeigt in seiner turnusmäßigen Septemberveranstaltung am Montag, dem 16., 20 Uhr in der Handelsschule Schlankreye 1 in Hamburger Erstaufführung einen zeitgeschicht-lich überaus wichtigen und ungewöhnzeitgeschicht-lichen Film, der ein politisch und historisch bedeutsames Ereignis schildert: ›Der Fall Gleiwitz‹. Der Leiter dieses Sonder-kommandos, Herr Alfred Helmut Naujocks, lebt in Hamburg und hat sich freund-licherweise bereit erklärt, eine kurze Einführung zu geben und in der anschließen-den Aussprache über anschließen-den historischen Ablauf der Aktion zu berichten.«

Und so erinnert sich Günther Rücker: »Der Leiter des Filmclubs freute sich, uns mitteilen zu können, daß die Veranstaltung ausverkauft sei. Er erklärte das da-mit, daß die Einladungskarte, die er uns mit einem gewissen Stolz vorlegte, ihre Wirkung nicht verfehlt habe. Der Herr Naujocks wohne gleich hinter der Reeper-bahn und verdiene sein Geld als Vertreter einer Großfirma für Fleischgerät, das seit der Neueinrichtung der Kasernenküchen der Bundeswehr gut verkaufbar sei, denn Herr Naujocks hätte ja gute Beziehungen. Der Saal war überfüllt, SS-Tradi-tionsverbände und Fallschirmjäger, kaum Frauen, kaum Jugendliche. Vor dem Film stieg ein Vertreter der Hamburger Staatsanwaltschaft auf die Bühne und gab bekannt, daß er den Leiter des Gleiwitzer Sonderkommandos festnehmen werde, falls er das Wort ergriffe. Als sich nach dem Film Herr Alfred Helmut Naujocks nicht zu Wort meldete, verließen SS und Fallschirmjäger den Saal.«

So weit Günther Rücker. Andere Gelegenheiten zu Naujocks’ Festnahme muß es offensichtlich weder vorher noch nachher gegeben haben ...

Der Fall Gleiwitz

Produktionsland Deutsche Demokratische Republik Premierendatum 24. August 1961

Produzent DEFA-Studio für Spielfilme Potsdam-Babelsberg Verleih PROGRESS Film-Verleih

Regie Gerhard Klein

Regie-Assistenz: Erwin Stranka, Ilse Goydke Drehbuch Günther Rücker, Wolfgang Kohlhaase Dramaturgie Klaus Wischnewski

Kamera Jan Cˇurˇik

Kameraführung: Jan Nemecek

Kameraassistenz: Milosˇ Sauer, Roland Dressel Standfotos: Kurt Schütt

Szenenbild/Bauten Gerhard Helwig

Bauausführung: Hermann Asmus Requisite Herbert Rother

Kostüme Gerhard Kaddatz

Maske Klaus Becker, Eva Nendel Schnitt Evelyn Carow

Ton Peter Sonntag, Karl Tramburg Licht Hans-Herbert Ikker

Produktionsleitung Erich Albrecht Musik Kurt Schwaen

Darstellende Helmut Naujocks: Hannjo Hasse Gestapochef Müller: Herwart Grosse KZ-Häftling: Hilmar Thate

Volksdeutscher Wyczorek: Georg Leopold Volksdeutscher Kraweit: Wolfgang Kalweit Volksdeutscher Bieratzki: Rolf Ripperger Volksdeutscher Sitte: Christoph Beyertt Volksdeutscher Tutzauer: Rudolf Woschik Volksdeutscher Kühnel: Manfred Günther SS-Arzt: Rolf Ludwig

Jüdischer Professor: Friedrich Richter SS-Mann in Uniform: Günter Naumann SD-Chef Gleiwitz: Paul-Dolf Neis SD-Chef Oppeln: Heinz Schröder

Darstellende Schloßbesitzerin: Margarete Taudte Schloßbesitzer: Georg Gudzent Sendeingenieur: Heinz Isterheil Leiter der Fechtschule: Heinz Kögel Bunkerscharführer Z: Martin Angermann 1. SS-Mann in Zivil: Dieter Wallrabe 2. SS-Mann in Zivil: Siegfried Göhler in weiteren Rollen: Achim Wolff, Jochen Diestelmann,

Fritz-Ernst Fechner, Werner Dissel, Hans Bussenius, Axel Triebel; Kurt Mühlhardt, Horst Giesen Wolfgang Borkenhagen, Marianne Christina Schilling, Harry Küster, Horst Friedrich, Harry Neumann Theresia Wider, Horst Gill, Herbert Manz, Heinz Behrens, Hubert Hoelzke, Rudolf Seiß, Johannes Martin, Helga Kühnert, Rotraut Conrad, Ingrid Barkmann, Karl-Helge Hofstadt,

Walter E. Fuss, Heinz Dhein, Dieter Schindelbauer Zum Inhalt

Im oberschlesischen Gleiwitz nahe der polnischen Grenze wird von den Nazis in der Nacht vom 31. August zum 1. September 1939 der Überfall auf den deutschen Rundfunksender inszeniert, um vor der Weltöffentlichkeit den Überfall auf Polen zu rechtfertigen. Beauf-tragt damit ist SS-Hauptsturmführer Naujocks. Polnisch sprechende Volksdeutsche aus der SS-Fechtschule spielen die polnischen Angreifer. Ein deutscher KZ-Häftling, in polnische Uniform gekleidet, wird erschossen am Sender zurückgelassen.

»Der Fall Gleiwitz« – ein faszinierender DEFA-Film Rosemarie Rehahn, Wochenpost, Berlin/DDR, 16. 9. 1961

Anderthalb Stunden, 2 500 Filmmeter lang, hätte man eine Stecknadel zu Boden fallen hören können. So still war es. Eine angespannte Stille, wie man sie selten im Kino erlebt.

Das spricht für den Film, natürlich. Doch in diesem Falle im gleichen Maße fürs Publikum. »Der Fall Gleiwitz« verlangt den denkenden, den mitdenkenden Zuschauer. Daß er ihn findet, mag nicht zuletzt am Zeitpunkt liegen. Mancher hat in den letzten Wochen angefangen nachzudenken über Wahrheit und Lüge, über Schein und Sein – über Krieg und Frieden. Ein Film, der nachweist, wie der Welt-krieg Nr. 2 provoziert wurde, findet heute, wo wir an den Grenzen der DDR die Provokation für Nr. 3 in Schach halten, ein in besonderer Weise aufgeschlossenes Publikum.

Im Herbst 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Programmgemäß. Polnische Freischärler hatten angeblich den damaligen »Reichssender« Gleiwitz überfallen.

(…)Die Autoren des Films, Wolfgang Kohlhaase und Günther Rücker, der Regis-seur Gerhard Klein entschieden sich dafür, das Ganze um einer höchstmöglichen Wahrhaftigkeit willen dokumentarisch streng zu erzählen. Der Film legt den Me-chanismus bloß, vom ersten Druck auf den Klingelknopf bis zu jenem Toten am Eingang des Gleiwitzer Senders, der der erste Tote des Zweiten Weltkrieges ist – der erste von 43 000 000. Eine Anatomie des Völkermordes gewissermaßen. (…) Der Film ist von selten erlebter künstlerischer Dichte, von einer inneren Gespanntheit vom ersten bis zum letzten Bild. Wobei man das Wort Bild oder, genauer, den Namen des tschechoslowakischen Kameramannes – Jan Curik ge-sperrt drucken muß. Ein Höhepunkt filmischer Gestaltung ist der singende Mi-litärzug, dessen frenetisches »Jowijowidihahaha« in ein unheilvolles Keuchen der Räder übergeht und schließlich wie Todesröcheln verklingt. Und vor der Bahn-schranke das andere Deutschland: Gefesselt, die Augen verbunden, der unbe-kannte Antifaschist, dessen Name schon auf der Lagerliste in Sachsenhausen aus-gelöscht ist, noch, bevor sie sein Leben in Gleiwitz auslöschen werden. Ein Wittern des Kopfes, die gefesselten Hände ballen sich. Hinter der schwarzen Augenbinde sieht der Mann, was die Sorglosigkeit, die Bequemlichkeit, die Feig-heit im Land ringsumher nicht sehen will: Krieg. Eine erschütternde, kraftvolle Darstellung von Hilmar Thate, stumm durch den ganzen Film und dennoch ein Alarmschrei, ähnlich der stummen Kathrin bei Brecht.

Eine schauspielerische Spitzenleistung Hannjo Hasses Naujocks: genau jene beklemmende Mischung aus blonder Bestie und geltungsbedürftigem Kleinbür-ger, wie sie z. B. wieder vor den Berliner Sektorengrenzen randaliert. Daneben Herwart Grosse, ein SS-Oberbonze vom Glitzern des Machtrausches im Auge bis zur unvollkommen einstudierten Feldherrngeste – Präzisionsarbeit. Geniale Präzi-sionsarbeit, Energieleistung sondergleichen die Regie Gerhard Kleins, vom win-zigen filmischen Detail bis zum Spannungsbogen des Ganzen.

Gemeinsam mit »Professor Mamlock« wurde »Der Fall Gleiwitz« beim Mos-kauer Festival zu einem glänzenden Sieg unserer Filmkunst. Beide Filmwerke errangen jetzt bei den Festspielen in Edinburgh einen neuen überragenden Erfolg.

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Im Dokument Sozialistische Filmkunst (Seite 63-69)