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Günter Reisch – Biographie und Filmographie

Im Dokument Sozialistische Filmkunst (Seite 118-122)

Als Günter Julius Hermann Reisch wird er am 24. November 1927 in Berlin ge-boren, Sohn des Bäckermeisters Julius Reisch und seiner Frau, der kaufmänni-schen Angestellten Erna Reisch, geb. Queißer. Nach dem Tod des Vaters zieht die Familie 1934 nach Potsdam, wo Reisch die Oberrealschule bis zur 10. Klasse be-sucht. Als 16jähriger kurz vor Kriegsende eingezogen, gerät er mit der »Armee Wenck« bei Tangermünde in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Im Herbst 1945 übernimmt er Aufbau und Leitung des Theaterensembles im Antifa-Jugend-ausschuß und in der FDJ in Potsdam.

Nach dem Abitur Schauspielunterricht bei Werner Kepich. 1947 Aufnahme in den ersten Jahrgang am Nachwuchsstudio der DEFA; sein erster Lehrer ist Ilja Trauberg. Ab 1948 Regie-Assistent bei Gerhard Lamprecht, Georg Wildhagen (Vorbereitung für Figaros Hochzeit, 1949), Martin Hellberg und acht Jahre lang bei Kurt Maetzig (u. a. Thälmann). Seit 1955 ist er Regisseur beim DEFA-Studio für Spielfilme. 1958 inszeniert er am Volkstheater Rostock die Bühnenfassung von Lew Tolstojs Krieg und Frieden.

Reisch dreht – beginnend mit Junges Gemüse, das Motive von Gogols Revisor in die DDR-Gegenwart transponiert – eine Reihe von Lustspielen und Komödien, in denen er Opportunismus, Duckmäusertum, selbstgerechte Überheblichkeit und andere kleinbürgerliche Schwächen im DDR-Alltag mit Spott, Ironie, Humor und Phantasie behandelt. Maibowle(1959) und Silvesterpunsch(1960) verfolgen das Schicksal einer Familie Lehmann. In die Kriminalsatire Der Dieb von San Marengo (1962/63) und in die »freie Nacherzählung« (Buch: Jurek Becker) von Kleists Der zerbrochene Krug,Jungfer, sie gefällt mir(1968), versucht Reisch zudem Stilelemente des Musicals einzuflechten.

Ach, du fröhliche ... (1961/62) – Drehbuch Hermann Kant nach der Bühnen-komödie Und das am Heiligabendvon Vratislav Blazek – zeigt ironisch-heiter, welche Probleme dem Genossen Lorke, Direktor für Kader(Erwin Geschonneck) einen Weihnachtsabend zu verderben drohen, weil Ansichten und Lebensweise der heranwachsenden Kinder und der Nachbarn nicht unbedingt seinen Vorstel-lungen von sozialistischer Moral entsprechen. Fünfundzwanzig Jahre später – aus Anlaß von Geschonnecks 80. Geburtstag – nimmt Reisch Thema und Personen (überwiegend von denselben Schauspielern verkörpert) in Wie die Alten sungen … wieder auf und versucht – auch durch Konfrontation mit Szenen aus dem alten Film, die Entwicklung in der DDR humorig zu beleuchten.

Ein Lord am Alexanderplatz(1966/67) zeigt, wie ein auf den Traum von klein-bürgerlicher Familienidylle orientiertes Gaunerpaar – der Heiratsschwind-ler Ewald Honig (Geschonneck) und seine auf ältere Herren spezialisierte Toch-ter Ina (Angelica Domröse) – auch im Sozialismus Erfolg haben kann. Eben-falls satirisch akzentuiert ist Nelken in Aspik(1975/76) über die

freiwillig-unfrei-willige Karriere eines Werbezeichners (Armin Mueller-Stahl) zum Generaldi-rektor.

Zu den wenigen gelungenen Filmkomödien der DEFA zählt Anton der Zaube-rer(1977), nach einem Szenarium von Karl Georg Egel, in deren differenzierter Schilderung des genialen OrganisatorsAnton (Ulrich Thein) sich die frühen Jahre der DDR spiegeln. »Anton Grubske erhält 1945 den Auftrag, seinen Staat in die eigenen Hände zu nehmen – als Arbeiter. Er wirtschaftet aber in die eigene Tasche und schafft sich dafür Gründe, die komischerweise wieder gesellschaftlicher Na-tur sind. Er will die Ausbeuter – beispielsweise die Großbauern – ausbeuten. Aber die komischen Widersprüche, die hier sein Verhältnis zur Arbeit bestimmen, legen auch eine gewisse tragische Entwicklungsmöglichkeit des Charakters frei.«

(Reisch zu Haucke, 1979).

Reischs langjähriges und unermüdliches Bemühen um Unterhaltung im DEFA-Film charakterisiert sein Freund und Kollege Günther Rücker: »Er versucht sich immer und immer wieder an Komödien und Lustspielen und Schwänken, er trieb das Spiel hoch bis zur Farce, und er hat seine schönsten Leistungen, sein Bleiben-des (denke ich), in tiefernsten, tragischen Sujets abgeliefert. Wie oft versuchten seine Freunde, ihn vor Illusionen zu bewahren. Er lächelte: Trotz alledem!«

(Rücker, 1987).

Der 1958 gemeinsam mit Kurt Maetzig realisierte Film Das Lied der Matrosen bestimmt thematisch den bedeutendsten Teil von Reischs Werken: die Darstellung wichtiger Abschnitte aus der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung.

Bei der Schilderung des Matrosenaufstands 1918 in Kiel »ist ein liedhafter, balla-denhafter Ton gewählt und die damit verbundene poetische Überhöhung des Ganzen, weil man den politischen Gesamtzusammenhang in aller Differenziert-heit in einem einzigen Film anders wohl nicht in den Griff bekam.« (K. Maetzig, Filmarbeit, 1987). Mit zwei Figuren der ideologisch gefächerten revolutionären Matrosengruppe schlagen die Autoren Karl-Georg Egel und Paul Wiens einen Traditionsbogen bis in die DDR: der anarchistisch eingestellte Matrose Jupp Kö-nig (Stefan Lisewski) – Reischs Lieblingsgestalt – taucht in Konrad Wolfs Son-nensucher(1957/58) wieder auf, Bartuschek (Hilmar Thate) in Wolfs Leute mit Flügeln(1960), beide von Erwin Geschonneck dargestellt.

Reisch gibt in seinen nächsten historischen Filmen das Konzept des »kollekti-ven Helden« wieder auf und behandelt in Zusammenarbeit mit dem Autor Michael Tschesno-Hell eine Zentralfigur der Arbeiterbewegung: Solange Leben in mir ist (1964/65) schildert Karl Liebknechts (Horst Schulze) pazifistischen Kampf als Reichstagsabgeordneter im Ersten Weltkrieg; Trotz alledem!(1971) umfaßt die Zeit der Novemberrevolution 1918 bis zu Liebknechts Ermordung am 15.1.1919.

»Die historisch-biografischen Filme Reischs (...) verraten eine gewisse Unsicher-heit bei der Behandlung des Zusammenwirkens gesellschaftlich-politischer und privater Momente im Leben der Helden. Das uralte, viel diskutierte Problem der Ästhetik, das Bild des historischen Helden, blieb meist ungelöst: Die Scheu vor

seiner Verniedlichung durch ‚allgemeinmenschliche’ Zugaben auf der einen Seite und die Furcht vor einer zu starken Heroisierung auf der anderen prägten es.«

(Hanisch, 1972).

1970 entsteht in Co-Produktion mit dem Mosfilm-Studio Unterwegs zu Lenin nach den Erinnerungen Alfred Kurellas, »ein Film des großen Abschieds von der schwärmerischen Begeisterung und Verklärung der proletarischen Revolution zu-gunsten nüchterner Alltagsarbeit.« (Haucke, 1981).

Mit Günther Rücker als Autor dreht Reisch 1974 Wolz – Leben und Verklärung eines deutschen Anarchisten, angelehnt an die Kämpfe des Anarchisten Holz in der Weimarer Republik. Der Film verwendet neben realistischen Mitteln auch die der Poetisierung, der Metapher und der symbolischen Verfremdung zu einer ge-lungenen, differenzierten künstlerischen Darstellung, bei der – wie wiederholt in seinen Filmen – Reischs anarchisches Träumen deutlich wird, das sich allerdings dann immer wieder der Partei-Disziplin unterwirft. »Wie da einer die Revolution als Abenteuer nimmt, welchen Spaß er daran hat, verkehrte Verhältnisse sofort und aus dem Handgelenk zu berichtigen, das teilt sich dem Betrachter als eine große romantische Sehnsucht mit. Gerade weil aber schmerzlich deutlich wird, daß diese Sehnsucht keine Erfüllung finden kann, bleibt das Leuchten über Wolz, gewinnt er Größe.« (Funke, 1984).

Zu Reischs größten Erfolgen zählen zwei Werke, in denen er sich mit dem Fa-schismus auseinandersetzt. 1961 inszeniert er mit Hans-Joachim Kasprzik den fünfteiligen Fernsehroman Gewissen in Aufruhr. Basierend auf dem autobiografi-schen Bericht von Rudolf Petershagen, schildert die Serie das Schicksal eines Obersten der Nazi-Wehrmacht, den »Retter von Greifswald«, der sich gegen die Befehle und für die Menschen entscheidet, sowie seinen Kampf gegen die Wie-deraufrüstung in der BRD.

1979 entsteht – nach einem autobiografischen Roman von Eva Lippold – ge-meinsam mit Günther Rücker Die Verlobteüber das Schicksal einer klassenwußten Kommunistin (Jutta Wachowiak) in den Gefängnissen der Nazis. »Der be-sondere Stellenwert dieses Films liegt darin, daß er seine Heldin in menschliche Grund- und Grenzsituationen führt, in denen die physische und psychische Kraft eines Menschen dem eigentlich nicht mehr Ertragbaren, Sagbaren, Darstellbaren ausgesetzt werden. (...) Selten wurde so genau erfaßt, wie die ›normale‹, bürgerli-che Lebensform von einer faschistisbürgerli-chen Diktatur umfunktioniert und verein-nahmt, wie normale Lebensansprüche barbarisiert werden können. Und da führt der Film aus dem historisch und national Konkreten wiederum hinaus, assoziiert die faschistoiden Tendenzen unserer Zeit.« (K. Wischnewski, Film und Fernse-hen, Nr. 10,1980). Während der Dreharbeiten an Die Verlobteerkrankt Reisch schwer und muß sich mehreren Operationen unterziehen; Günther Rücker führt den Film zu Ende.

Günter Reisch ist 1967 – 88 Vizepräsident des Verbandes der Film- und Fern-sehschaffenden der DDR. 1983 wird er als ordentliches Mitglied in die Akademie

der Künste der DDR gewählt Er ist Mitglied des Künstlerischen Rats der DEFA und Mentor an der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg.

Nach der Wende nimmt er zusätzlich noch Lehraufträge an der Münchener Filmhochschule sowie der Deutschen Film- und Fernseh-Akademie und der Aka-demie der Künste in Berlin an. Von 1997 bis 2002 unterrichtet er als Lehrbeauf-tragter an der Fakultät Film der Bauhaus-Universität Weimar, Anfang 2003 wird er dort zum Honorarprofessor für »Filmgestaltung in den neuen Medien« er-nannt.

Günter Reisch lebt in Berlin.

(nach: CineGraph Lexikon zum deutschsprachigen Film, © 1984 ff. edition text+kritik im RICHARD BOORBERG VERLAG, München)

Filmographie

2004/2005 Mozartbrot – ein zu kurzes Märchen (Dramaturgie) 1994 – 1996 Land am Rand (Beratung)

1991 – 1993 Der olympische Sommer (Beratung) 1991/1992 Stilles Land (Künstlerische Oberleitung) 1985/1986 Wie die Alten sungen ... (Regie, Szenarium) 1979/1980 Die Verlobte (Drehbuch, Regie, Szenarium) 1977/1978 Addio, piccola mia (Darsteller)

1977/1978 Anton der Zauberer (Darsteller, Drehbuch, Regie)

1975/1976 Nelken in Aspik (Darsteller, Szenarium, Drehbuch, Regie) 1973 Wolz. Leben und Verklärung eines

deutschen Anarchisten (Regie) 1971 Trotz alledem! (Regie)

1969/1970 Unterwegs zu Lenin (Drehbuch-Mitarbeit, Regie) 1968 Jungfer, Sie gefällt mir (Drehbuch, Regie) 1966/1967 Ein Lord am Alexanderplatz (Drehbuch, Regie) 1964/1965 Solange Leben in mir ist (Drehbuch, Regie) 1962/1963 Der Dieb von San Marengo (Drehbuch, Regie) 1961/1962 Ach, du fröhliche ... (Regie)

1961 Gewissen in Aufruhr (Drehbuch, Regie) 1960 Silvesterpunsch (Regie)

1959/1960 Der schweigende Stern (Drehbuch)

1959 Maibowle (Drehbuch, Regie)

1958 Das Lied der Matrosen (Regie) 1957 Spur in die Nacht (Drehbuch, Regie) 1955/1956 Junges Gemüse (Regie)

1954/1955 Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse (Regie-Assistenz)

1953/1954 Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse (Regie-Assistenz) 1951/1952 Freundschaft siegt (Regie)

1951/1952 Roman einer jungen Ehe (Regie-Assistenz) 1950/1951 Blaue Fahnen nach Berlin (Regie)

1950 Familie Benthin (Regie-Assistenz) 1950 Immer bereit (Regie-Assistenz) 1949/1950 Der Rat der Götter (Regie-Assistenz) 1948/1949 Quartett zu fünft (Regie-Assistenz)

Im Dokument Sozialistische Filmkunst (Seite 118-122)