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Die Schlüssel

Im Dokument Sozialistische Filmkunst (Seite 112-116)

Egon Günthers vierter Kinospielfilm entstand 1972. Er schrieb den literarischen Entwurf gemeinsam mit seiner Frau Helga Schütz. Wie er selbst sagt, existierte ein Drehbuch »nur in groben Zügen. Was mir eigentlich als Plan vorschwebte, war natürlich das Ausbrechen aus einer landläufigen und immer wieder neu pro-duzierten Art und Weise, Kino zu machen und mit einem Minimum an Verabre-dung auszukommen.« Das richtete sich expressis verbis gegen die Hollywood-Klischees, unausgesprochen aber auch gegen alle Muster und Konventionen der DEFA-Produktion und DDR-Leitungspraxis.

Die Einordnung des Films in die kulturpolitisch geforderte thematische Pla-nung erwies sich genauso schwierig wie eine klare Genre-Ankündigung. In Babels-berg artikulierte sich gerade eine neue Regie-Generation in einer stärker doku-mentaren contra fiktionalen Stilrichtung, wie sie Horst Seemann mit Zeit zu leben repräsentierte. Man wollte näher an das wirkliche Leben heran. Gewöhnliche Leute,so ein Filmtitel, und der ganz normale Alltag rückten ins Zentrum der Ge-staltung, weg vom Heldentypus der Vorbildfiguren, Absage auch an die Illustra-tion von Bewährungs- und Entwicklungsgeschichten. Laien und noch unbekannte Darsteller agierten vor der Kamera, so als kämen sie direkt von der Straße. Der Ori-ginalschauplatz wurde der Atelierdekoration vorgezogen. Vorreiter dieser Orientie-rung kündigten das Genre des Porträtfilms bereits im Titel an: Lothar Warneke mit Dr. med. Sommer II, Leben mit Uwe, Die unverbesserliche Barbara,und Ro-land Gräf mit Mein lieber Robinsonoder Bankett für Achilles.

Trotz mancher dokumentarer, ja reportagehafter Sequenzen entziehen sich Die Schlüssselsolcher Zuordnung. Egon Günther berief sich gern auf ein Apercu von Slatan Dudow: »Wenn ich das Atelier eines Kollegen betrete, weiß ich, daß er es falsch macht«. Das war nicht ignorant gemeint, vielmehr als Selbstermunterung zum eigenen, unverwechselbaren Anliegen und Stil. Der Film, den wir heute se-hen, ist – mindestens im Gegenwartssujet – das konsequenteste und zugleich um-strittenste Beispiel für Günthers Experimentierfreude.

Zwei locker liierte junge Leute, Klausund Ric, der Maschinenbaustudent, sie eine sogenannte einfache Arbeiterin, brechen zu einer Reise nach Polen auf.

Schon die Exposition weist gleichnishaft über das Alltägliche des weiteren Vor-gangs hinaus. Die Zufallsbekanntschaft mit einem nach Paris reisenden polni-schen Ehepaar polni-schenkt den beiden die Schlüssel ihrer Krakauer Wohnung und da-mit ein unerwartetes Urlaubsdomizil. Dieser außergewöhnliche Vertrauensbeweis gewinnt vor dem Hintergrund deutsch-polnischer Geschichte besonderes Gewicht.

Vielfältige, überraschende Eindrücke und Begegnungen begleiten und kontrastie-ren die fragile Beziehung des jungen Paares und ihre Selbstbefragung.

Diese Prüfung und die latente Frage nach der Perspektive ihres künftigen Zusam-menlebens wird abrupt beendet durch den schicksalhaft zufälligen Unfalltod des

Mädchens. Die tragische Wendung der Geschichte geschieht ohne kunstvolle Vor-bereitung. Der Schock des jungen Mannes, seine seelische Betroffenheit wird gegen alle dramaturgischen Regeln szenisch weniger ausgebreitet als die trivialen Schwie-rigkeiten und Umstände, die tote Freundin auf den Weg nach Hause zu bringen.

Die Autoren verzichten bewußt auf eine Fabelführung im klassischen Sinne in Form einer logisch aufgebauten kausalen Folgehandlung. Obwohl viele Bilder und Szenen lange im Gedächtnis bleiben, fiele es schwer, den Film nachzuer-zählen. Doch auch die DEFA-übliche thematische Eindeutigkeit in der Entfaltung des Sujets ist hier vermieden. Die unterschiedliche Mentalität der Partner, die auch sozial determinierte untergründige Spannung zwischen ihnen entlädt sich nicht in dramatischen Kollisionen.

Günther nutzt ein einsames langes Selbstgespräch des Mädchens in einer Straßenbahn, vielleicht an einer Endhaltestelle, um die geistige Dimension der Fi-gur zu entfalten. Das geschieht nicht wie üblich in Form der Gedankenstimme.

Wir sehen Jutta Hoffmann als Ricsprechen, so als rede sie – wie nie zuvor und nicht mehr danach – mit ihrem Klausendlich einmal schonungslos offen über ihre Gefühle und Befindlichkeiten. Doch schnell stellt sich heraus, daß Jaecki Schwarz als Klausin der Szene gar nicht präsent ist. Nur so ist vielleicht die unverblümte Selbstdarstellung der Figur erklärlich und nachvollziehbar.

»Dieser lange Monolog«, so der Regisseur, »stand nicht im Buch oder wurde erst in einer sehr späten Phase konzipiert, aus der Erfahrung des Drehens heraus.«

Vor allem diese Szene, aber nicht nur sie, charakterisiert Egon Günthers eigenwilli-ges Verständnis von der Rolle des Schauspielers nicht nur in diesem seiner Filme.

Es ging ihm gerade nicht darum, »daß sie vergessen machen, daß sie eigentlich Schauspieler sind, im Gegenteil.« Er lobt Jutta Hoffmann eben für »dieses Wech-selspiel – einzutauchen in die Rolle und wieder herauszukommen ... Sie hat das Spiel immer wieder gern gebrochen, indem sie mal in die Kamera lachte oder weiterspielte nach dem ›Aus‹. Sie wollte damit sagen: Ich bin aber ich, Jutta Hoff-mann.« Die damit verbundenen Momente der Spontaneität, ja der Improvisation, gehörten zum Regie-Konzept, »Schauspieler vollkommen in die Freiheit zu ent-lassen, das zu tun, was ihnen im Moment richtig erscheint.«

Rückblickend hat Jaecki Schwarz diese schöpferische Freiheit des Darstellers geradezu emphatisch gelobt: »Da wurde ich das erste und einzige Mal als Künst-ler gefordert. Aus Film wurde Filmkunst. Es wurde nicht nachgeplappert, was sich ein anderer ausgedacht hatte, oder was nachgespielt, was sich ein Regisseur vorstellte.« Egon Günther dürfte freilich seineRolle im Zusammenspiel aller Mit-wirkenden damit kaum getroffen sehen.

Sein Film war und blieb eine absolute Ausnahmeerscheinung in der DEFA-Ge-schichte. Frage also: Wie konnte er unter den Bedingungen staatlich finanzierter Spielfilmproduktion und zentralistischer Leitung überhaupt entstehen?

Mit dem Staffettenwechsel von Ulbricht zu Honecker, dem VIII. Parteitag und dem 6., dem sogenannten Kulturplenum des ZK der SED 1972, waren an der

Basis manche Hoffnungen auf eine weniger dogmatische Medienpolitik ver-bunden.

Von »Weite und Vielfalt« in der Kunst, vom »Reichtum der Handschriften und Ausdrucksweisen« war die Rede und dem Ende der Tabus. Konrad Wolfs einge-bunkerter Film Sonnensucheraus dem Jahr 1958 erlebte seine Fernsehpremiere und kam danach ins Kino, allerdings um Aktualität, Brisanz und entsprechende Wirkung betrogen.

Nicht nur Künstler, auch die Leiter aller Ebenen suchten auf ihre Weise, diese vorsichtigen Signale zu deuten und für die Praxis zu nutzen. Die freimütige, kriti-sche Atmosphäre auf dem II. Kongreß des Verbands der Film- und Fernsehschaf-fenden galt manchem als klare Ermutigung.

So entstanden 1972 gleich drei tatsächlich herausragende Gegenwartsfilme.

Neben Egon Günther inszenierte Heiner Carow Plenzdorfs Publikumshit Die Le-gende von Paul und Paula, Siegfried Kühn drehte nach Helmut Baierls Buch eine der wenigen echten Gegenwartskomödien Das zweite Leben des Georg Friedrich Wilhelm Platow.

Als Die Schlüsselabgedreht waren, hatte sich der Wind bereits wieder gedreht, um mit Frank Beyer zu sprechen. Nun erinnerte man sich an Kurt Hagers frühzei-tige Warnung vor jedem »bürgerlichen Modernismus«. Zunächst aber ging es um Einwände von polnischer Seite, so verlautete im Studio. Wessen Demarche und auf welchem Wege aus kritisch beobachtetem Freundesland nach Babelsberg kam, war unklar. Anstoß erregte etwa die Schilderung der körperlich schweren, schlecht bezahlten Arbeit einer älteren kleinen Frau am Hochofen von Nova Huta.

Entfernt wurde eine Szene, in der drei Polen den Deutschen vor eine Gedenktafel für die Nazi-Opfer ziehen und Partisanenlieder singen. Einer per Zufall dokumen-tierten katholischen Prozession mußte die kirchliche Spitze genommen werden – nämlich der ihr voranschreitende Kardinal Wischinsky. Warum dem DDR-Zu-schauer das Bild des politisch recht eindeutig beleumundeten Kirchenführers erspart werden sollte, ist schwer erklärlich. Nachdem Studiochef Albert Wilkening Ende 1973 die Schnitte ins Filmfleisch nach Berlin gemeldet hatte, verfügte der HV-Leiter Günter Klein die Staatliche Zulassung, aber auch ein Export-Verbot.

Mit der Premiere im Februar 1974 aber waren die Auseinandersetzungen um den Film keineswegs beendet. Der in jeder Hinsicht unkonventionelle Streifen irritierte nicht nur die Kritiker, auch das Publikum, das mit der ungewöhnlichen Formensprache wenig anzufangen wußte. Das veranlaßte die Spielplangestalter der Bezirksfilmdirektionen, den Film recht schnell aus dem Programm zu nehmen und in Filmclubveranstaltungen zu verstecken.

Die Schlüssel

Produktionsland Deutsche Demokratische Republik Premierendatum 21. Februar 1974

Produzent DEFA-Studio für Spielfilme, Potsdam-Babelsberg Verleih PROGRESS Film-Verleih

Regie Egon Günther

Regie-Assistenz: Elke Niebelschütz Drehbuch Egon Günther und Helga Schütz Dramaturgie Werner Beck

Kamera Erich Gusko

Kamera-Assistenz: Norbert Kuhröber Standfotos Klaus Goldmann

Licht Werner Baatz Bauten Harald Horn

Bauausführung: Franz F. Fürst Kostüm Christiane Dorst

Maske Horst Schulze; Margot Friedrichs Schnitt Rita Hiller

Außenrequisite Kurt Dombrowski Musik Czesl~aw Niemen Produktionsleitung Hans Mahlich

Aufnahmeleitung Heinz Fröhlich, Wolfgang Lange Ton Edgar Nitzsche

Mischung: Gerhard Ribbeck Darstellende Ric: Jutta Hoffmann

Klaus: Jaecki Schwarz Helena: Magda Zawadzka Frantisek: Jerzy Jogalla Großmutter: Jadwiga Chojnacka Pawlik: Leon Niemczyk Hanka: Anna Dziadyk

DDR-Botschaftsvertreter: Wolfgang Greese

Die Aufnahmen in Kraków entstanden mit Unterstützung der Filmgruppe »Illuzjon«, Warschau.

Zum Inhalt

Ric und Klaus, sie ist Arbeiterin, er Student, reisen im Urlaub nach Kraków. Auf dem Flug-platz gibt ihnen ein freundlicher Pole den Schlüssel zu seiner Wohnung. Beide sind

erwar-tungsvoll, erleben unbeschwerte Tage. Ric gibt sich in ihrer unkomplizierten Weise den Entdeckungen hin, dem Leben im Nachbarland, den Begegnungen. Geschichte wird für sie fühlbar. In dieser fremden Umgebung sieht sie plötzlich ihre Beziehung zu Klaus in einem neuen Licht, sie spürt, wie anders er auf alles reagiert, fühlt sich verletzt und durch seine Maßregelungen, seine überlegene Art. Die Kompliziertheit ihrer Beziehung wird ihr deut-lich. Intellektuell wird sie ihm nie gewachsen sein. Er wird seinen Weg machen, während sie immer Arbeiterin bleiben wird, wozu sie sich bekennt. Dieses Bekenntnis aber läßt sie um den Bestand ihrer Liebe fürchten. Sie gerät in Panik, als sie Klaus nicht findet, stürzt blindlings auf die Straße, um ihn zu suchen, und dabei in eine Straßenbahn. Ihr Tod ist für Klaus ein Schock. Die Größe des Verlusts empfindet er langsam – während der Begegnung mit Anteil nehmenden Menschen und bei der Abwicklung der Überführungsformalitäten.

(aus: Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg – DEFA-Spielfilme 1946 – 1992 Hrsg.: Filmmuseum Potsdam - Berlin: Henschel, 1994, S. 457 f.)

Im Dokument Sozialistische Filmkunst (Seite 112-116)