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III Armut in philosophischen Traditionen

20 Postkoloniale Theorie und Armut

Dieses Kapitel widmet sich der Frage, was postkolonia-le Theorien zu Armut zu sagen haben und mit welchen Annahmen Armut beschrieben und normativ kon-zipiert werden. Dafür wird das Forschungsfeld post-kolonialer Theorie kurz umrissen und auf zentrale Au-tor*innen und deren Analysemethoden eingegangen.

Neben postkolonialer Theorie wird als später hinzu ge-kommene Variante auch die Postdevelopment-Debat-te aufgegriffen, da hier eine weiPostdevelopment-Debat-tere konkrePostdevelopment-Debat-te Kritik an Entwicklungspolitik und ihrem zentralen Verständnis von Armut geübt wird. Dieses Kapitel endet mit Vor-schlägen für weitere Anschlussfragen.

20.1 Was zeichnet postkoloniale Theorie aus?

Mit postkolonialer Theorie wird ein Forschungsfeld bezeichnet, das sich durch transdiziplinäre Hetero-genität und Dynamik auszeichnet und sich besonders über seinen Referenzpunkt, den Kolonialismus, de-finiert. Trotz aller theoretischen und methodischen Verschiedenheiten stimmen Autorinnen und Auto-ren der postkolonialen Theorie darin überein, dass der Kolonialismus bis heute weltweit nachwirkt und Effekte zeitigt, die mit dem Beginn formaler Un-abhängigkeiten nicht aufhörten zu existieren. Das

›post‹ in Postkolonialismus kennzeichnet deshalb keinen abgeschlossenen Zeitraum, sondern schließt die fortgesetzten negativen Wirkungen explitzit ein, um die Gegenwart erklären zu können (Kerner 2012, 9). Räumlich erstrecken sich die Analysen zwar zum großen Teil auf die vormals kolonialisierten Länder.

Aber sie beschränken sich nicht auf diese, sondern umfassen mit der Analyse von z. B. Sklaverei, Migra-tion und Minderheiten auch die ehemaligen Metro-polen der Kolonialreiche und neuerer imperialer Mächte wie die USA.

Eng mit der Kritik am Kolonialismus verbunden ist die radikale Analyse von Modernität und der gewalt-samen Eroberung weiter Teile der Welt durch europäi-sche und andere Mächte. Die mit dieser Eroberung einhergehende Ideologie kultureller und technischer Überlegenheit sowie ihre verwendeten Dichotomien in der Beschreibung der Welt werden in der postkolo-nialen Theorie radikal infrage gestellt. Das bedeutet zum einen, dass die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des kolonialisierenden Europas nicht ohne Interaktion mit den kolonialisierten Gebieten

und Gesellschaften zu betrachten sei. Zum anderen werden Gegenüberstellungen wie modern/traditio-nell, Orient/Okzident oder Natur/Kultur hinterfragt und dekonstruiert, die oft zur Legitimation von Kolo-nialismus und gewaltsamen Interventionen heran-gezogen wurden. Das von Dipesh Chakrabarty (2000) verfolgte Projekt einer »Provinzialisierung Europas«

kann als einflussreiches Beispiel für diese Verflech-tungsgeschichte und die Zurückweisung europäischer Überlegenheitsdiskurse gelesen werden. Der Fokus auf die Idee einer singulären und linear immer weiter fortschreitenden Modernität und ihrer zugrundelie-genden Unterscheidungen bietet denn auch den Rah-men, das Entwicklungsparadigma als Kern moderner Selbstverständnisse zu kritisieren.

Mit der Analyse der Aufklärung und ihrem Para-digma des Fortschritts gerät auch die europäische Phi-losophie in den Fokus der Kritik. Autor*innen wie John Locke und Immanuel Kant erscheinen in dieser Lesart als Autor*innen, die der Kolonialisierung und dem Imperialismus intellektuell Vorschub leisteten bzw. Rechtfertigungen für die Unterdrückung und den systematischen Ausschluss kolonialisierter Bevöl-kerungen lieferten. Auch Vorstellungen einer hegel-schen weltgeschichtlichen Entfaltung und der damit einhergehende Anspruch einer Universalität ist aus postkolonialer Perspektive nicht länger gerechtfertigt.

Vor allem der systematische Ausschluss vieler (immer nicht-europäische) Philosophien und den ihnen eige-nen Gerechtigkeitstheorien bestätigt, dass die Phi-losophie selbst an den kolonialen Wissenshierarchien teilhat und durch Unterschlagungen vorhandener Ge-genpositionen förderte. Aber auch zeitgenössische Philosoph*innen wie Martha Nussbaum sehen sich mit postkolonialer Kritik konfrontiert, wenn sie in ih-rem Zugang zu einer globalen Ethik zentrale Konzepte wie Gender, Bildung oder Armut als global potentiell konsensuell darstellen, dabei aber lokale Positionen übergehen, die einem solchen angenommenen Kon-sens deutlich widersprechen (vgl. Nzegwu 2015).

Die behandelten zeitgenössischen Probleme post-kolonialer Theorie umfassen daher zum einen deskrip-tive Analysen zu Staatlichkeit in postkolonialen Räu-men, autoritäre Regierungen, NationalisRäu-men, globale und lokale soziale Ungerechtigkeit und kolonialisierte Geschlechterverhältnisse. Zum anderen betreffen die Probleme den konstatierten anhaltenden Eurozentris-mus und RassisEurozentris-mus in der Wissensproduktion. Armut ist damit aus der postkolonialen Theorieperspektive ebenso ein materielles Problem, das durch die Analyse des strukturellen und institutionellen Erbes des Kolo-III Armut in philosophischen Traditionen

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021

Schweiger/Sedmak (Hg.), Handbuch Philosophie und Armut, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05739-6_20

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nialismus näher erfasst werden kann. Es ist aber auch ein diskursiv erzeugtes Phänomen, mit dem Lebens-verhältnisse von zumeist Nicht-Europäer*innen und -Nordamerikaner*innen auf eine bestimmte Art und Weise dargestellt und verfestigt wird. Darüber hinaus verbinden postkoloniale Theorien und besonders der post-development-Ansatz einen normativ-ethischen Auftrag mit sich, die Lebensverhältnisse der bis dato Marginalisierten radikal zu verbessern und besonders den Raum für plurale Lebensformen jenseits einer westlichen, d. h. ökonomischen Monokultur offfen zu halten. An die Stelle universalistischer europäisch-nord-amerikanischer Vorstellungen vom guten Leben und Gerechtigkeit treten vielfältige Modelle, die oft auf kommunitaristischen Ansätzen basieren. Diese Ansät-ze Ansät-zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus ihrer Kritik imperialer und globaler ökonomischer Vereinnah-mungen den Schluss ziehen, lokale Lebensformen zu bevorzugen und sich im Extremfall – aus globalen Räumen- zurückzuziehen. Gleichzeitig erheben skep-tische Stimmen den Anspruch, aus einer Kritik euro-päischer Dominanz neue Formen solidarischen Zu-sammenlebens zu formulieren, ohne in essenzialisti-sche Fallstricke zu geraten (vgl. Dübgen 2010).

20.2 Quellen und Orte postkolonialer Theo­

riebildung

Postkolonial Forschende können sich in ihrer Analyse des Kolonialismus und dessen Folgewirkungen als ge-meinsamen Nenner heute auf eine Vielzahl von theo-retischen und empirischen Studien stützen, die auch als Vorläufer des Theorieansatzes gelten können. Au-torinnen und Autoren marxistischer, anti-imperialis-tischer und dependenztheoreanti-imperialis-tischer Ansätze werden ebenso zu Quellen gezählt, wie die dekonstruktivisti-schen (Jacques Derrida), diskursanalytidekonstruktivisti-schen (Michel Foucault) und psychoanalytischen (Gilles Deleuze) Inspirationen aus Frankreich (Reuter/Karentzos 2012, Mbembe 2008). Als einer der zentralen Referenz-autor*innen kann Frantz Fanon bezeichnet werden, der als Psychologe und Aktivist den Befreiungskrieg in Algerien (1954–1962) begleitet hat und dessen Schriften sowohl die eigene Position als koloniales Subjekt im rassistischen Paris (1980 [1952]) als auch die Rolle radikal neu gedachter unabhängiger Staaten und Gesellschaften (1981 [1961]) reflektieren. Heute erhält Fanon u. a. in südafrikanischen Studierenden-protesten neue praktische und theoretische Aktualität (Mbembe 2016). Aber auch Analysen von Aimé

Ce-saire (2000 [1955]) und Walter Rodney (1972) können den frühen umfassenden Kolonialismuskritiken und Begründungen anti-imperialistischer Kämpfe zuge-rechnet werden.

Die heute bekannte und sichtbare akademische postkoloniale Theoriegemeinschaft nahm ihren Aus-gang zunächst in anglophonen kulturwissenschaftli-chen Fakultäten, wo es in den 1970ern Proteste gegen die einseitige Verwendung anglophoner Literatur gab, sowohl an Universitäten in Großbritannien als auch in den ehemaligen Kolonien (z. B. Ngugi wa Thiong’o 1972 für Kenya). Aufgrund des zeitgleichen Aufkom-mens des Poststrukturalismus, des Dekonstruktivis-mus und der Attraktivität psychoanalytischer Theo-rien haben sich eine Vielzahl von Autorinnen und Autoren zunächst auf Fragen der Textproduktion und der innewohnenden postkolonialen Erfahrung und Identität postkolonialer Subjekte fokussiert. Edward Said (2009 [1978]), Gyartri Chakrovorty Spivak (2008 [1988]) und Homo K. Bhabba (2000 [1994]) werden deshalb oft als Schlüsselautoren und -autorinnen die-ser ersten Generation angeführt.

In den Geschichtswissenschaften kam es zu einer ähnlichen Entwicklung an anglophonen Universitäten mit der Ausweitung der Lehre und Forschung auf his-torisch Ereignisse und Analysen aus der Perspektive vormals kolonialisierter Gesellschaften und ihre oft mit hohem Blutzoll bezahlten anti-kolonialen und an-ti-imperialen Kämpfe. Disziplinen wie die Soziologie oder die Politikwissenschaften haben dagegen erst spä-ter postkoloniale Theorien in ihre Erklärungsversuche zeitgenössischer Phänomene aufgenommen (vgl. Reu-ter/Karentzos 2012; Ziai 2016). An der Schnittstelle von Wirtschafts- und Sozialwissenschaften lassen sich aber auch bereits die dependenztheoretischen und weltsystemtheoretischen Ansätze als postkoloniale Theoriebildung verstehen, die zugleich von Marx Ka-pitalismusanalyse ausgingen (u. a. Wallerstein 1983).

Wie bereits angedeutet, erstrecken sich postkolo-nial inspirierte Analysen über eine Vielzahl von Ge-sellschaften und Staaten, die heute dem sogenannten Globalen Süden zugerechnet werden. Während Ed-ward Said besonders die Differenzbildung zwischen Orient und Okzident untersuchte, Homi Bhabha die hybriden Kulturbildungenprozesse im postkolonia-len Großbritannien in den Blick nahm und Gyartri C.

Spivak für den Subkontinent Indien schrieb, erwei-terte sich der geographische Radius im Verlauf der Theorieentwicklung. Einflussreich ist u. a. der Litera-turtheoretiker Walter Mignolo (2000), der die formal früher beendete Kolonialzeit Lateinamerikas als

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lass nimmt, um mit dem Konzept der coloniality die fortgesetzten externen Einflüsse in lateinamerika-nischen Ländern zu untersuchen. Mit dem Begriff versucht Mignolo die direkten und indirekten Inter-ventionen neuer Großmächte wie die USA einzube-ziehen, die nach dem Abzug der portugiesischen und spanischen Kolonialmächte im späten 18. Jahrhun-dert dominant wurde.

20.3 Postkoloniale Theoriezugänge zum Thema Armut

Mit postkolonialen Theorien werden neben dem zeit-lichen und räumzeit-lichen Fokus verschiedene Analyse-strategien verbunden, die zugleich die Heterogenität des Feldes versuchen abzubilden (Ziai 2012). Diese Analysestrategien haben das Potenzial, u. a. im Rah-men der Kritik von Entwicklungspolitik auch konkret auf das Thema Armut angewandt zu werden. Als Othering bezeichnet Edward Said (2009) die diskur-sive Operation, mit der sich europäische Orientalisten als Okzident von einem imaginierten Orient abgrenz-ten. Die Beschreibungen über Texte und Malereien er-zeugten im europäischen Selbstverständnis das Bild eines ontologisch anderen Seins, das dem europäi-schen – modernen – Sein konträr gegenüber stand.

Mithilfe solcher Darstellungen wurde nicht nur das Bild eines fortschrittlicheren Westeuropas gefestigt, sondern auch die Gesellschaften in den Regionen des Nahen und Mittleren Ostens als rückständig gezeich-net. Laut Saids Analyse hatte diese in den Archiven weit verbreitete Beschreibung keine empirische Ent-sprechung, sondern verblieb ein Element des europäi-schen Diskurses. Jedoch zeigte sich dieser Diskurs als wirkmächtig, insofern europäische Mächte die ver-mutete Unterlegenheit als Rechtfertigung für Inter-ventionen feststellten. So diagnostizierte Armut und sozio-ökonomische Stagnation konnten ebenso als Ergebnis einer diskursiven ontologischen Unterschei-dung festgemacht werden, wie die Unterdrückung der Frau in patriarchalischen Gesellschaftsformen. Diese Art der Beschreibung führte dazu, dass der Anteil europäischer Interventionen unsichtbar und zugleich legitimiert wurde. Unsichtbar wurde die sozio-his-torische Genese von strukturellen Bedingungen von Verelendung, an der westliche Mächte durch ihre Ko-lonialpolitik einen entscheidenden Anteil hatten. Als Legitimation diente die Differenz für Herrschaft und Erziehung zu den als modern gezählten Werten Eu-ropas und der USA. Diese Differenzbildung des

Wes-tens durchzieht zum Teil bis heute die Art und Weise des Umgangs mit ehemaligen Kolonialterritorien und deren Bevölkerungen.

Die Bezeichnung und Beschreibung der Subalterni-tät von Bevölkerungsgruppen und das damit verbun-dene Problem der Repräsentation kann ebenso zur Analyse von Armut aus postkolonialer Perspektive he-rangezogen werden. Als Subalterne wird laut Spivak (2008 [1988]) im südost-asiatischen Raum eine Grup-pe von Menschen bezeichnet, für die es keine Chancen sozialer Mobilität gibt. Spivak arbeitete als Literatur-wissenschaftlerin im Rahmen der Subalternen Studi-en, einem Forschungsprogramm in Indien und Ban-gladesh. Den Forschenden ging es besonders um eine alternative Historiographie der Region, die sich so-wohl von den Überlieferungen der Kolonialmächte als auch von nationalistischen Regierungen absetzte, während der Begriff der Subalternen vom italienischen Kommunisten und Theoretiker Antonio Gramsci in-spiriert war. Mit einer subalternen Gruppe kommt für die feministische Theoretikerin Spivak die Frage auf, wer diese repräsentieren könne. Denn das zentrale Merkmal für Spivak war, dass diese Gruppen sich zwar äußern können (uttering), aber im Sinne der Sprech-akttheorie nicht als sprechende Personen wahrgenom-men, d. h. gehört werden. Sie brauchen deshalb Für-sprecher*innen; eine Rolle, die Spivak für Intellektuel-le reservierte, u. a. in Bildungsprogrammen, in denen über fundamentale Rechte aufgeklärt wird und sub-alterne Gruppen zur Teilhabe am politischen Diskurs ermächtigt werden. Analytisch muss dann auch die Frage nach der Struktur von Armut und den Möglich-keiten subjektiver Beschreibungen und (gehörter) For-derung gestellt werden. Die ForFor-derung nach Möglich-keit von Repräsentation ergänzt auf diese Weise die Analyse der Darstellungen, wie sie Said vorgelegt hat.

Eine dritte Analysestrategie besteht darin, den Fo-kus auf die Hybridität von Kulturen zu richten und weniger von den ontologischen Differenzen auszuge-hen, die von Vertreter*innen im Westen postuliert werden. Bhabha (2000) verortet diese Hybridität be-reits im Kolonialismus und arbeitet heraus, wie unter-drückte Bevölkerungen sich Teile des Kolonialdiskur-ses aneigneten und dadurch herausforderten und des-sen Instabilität sichtbar machten. Ein Beispiel für die-se Herausforderung ist die Aneignung der Bibel und die Einführung des Vegetarismus in Indien als gott-gefällig, während er von den englischen Kolonial-mächten unterdrückt wurde. Bhabhas Analysen ma-chen aufmerksam auf die Möglichkeiten der Aneig-nung durch Mimikrie und Hybridisierung. Mit diesen III Armut in philosophischen Traditionen

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Strategien geht die Möglichkeit einher, die Ambiva-lenzen des Kolonialdiskurses und die Effekte der Stra-tegien auf Identitätsbildungen hin zu untersuchen.

Ein großer Vorteil liegt darin, analytisch das Hand-lungsrepertoire von als arm bezeichneten Individuen oder Kollektiven zu erfassen.

20.4 Postkoloniale Theorien und ›Entwick­

lung‹

Sehr deutlich wird der Bezug zu Armut in der post-kolonialen Theoriebildung, wo ihre analytischen Stra-tegien und Fragestellungen auf den Begriff und die Politik der ›Entwicklung‹ angewendet werden. Mit

›Entwicklung‹ wird dabei nicht nur der zentrale Be-griff der Moderne hervorgehoben, sondern auch die noch zu leistende ›Entwicklung‹ im Vergleich zu Län-dern des Globalen Nordens. Mit der postkolonialen Kritik der Moderne tritt auf diese Weise auch die Kri-tik am Entwicklungsbegriff in den Vordergrund. Der Anfang des globalen Entwicklungsdiskurses wird da-bei auf die Politik des US-amerikanischen Präsidenten Harry Truman zurückgeführt, der 1949 technische und wissenschaftliche Hilfe für Länder und Gesell-schaften einführte, die im Gegensatz zu den USA und Europa als ›unterentwickelt‹ galten. Diese Hilfe sollte aus ›Hunger, Elend und Verzweiflung‹ herausführen und ein selbstbestimmtes und freies Leben auf der Ba-sis von Industrialisierung und Wirtschaftswachstum ermöglichen. Seitdem wurden internationale Organi-sationen und nationale Entwicklungsministerien ge-gründet, die auf der Basis dieser Beschreibung von Unterentwicklung hauptsächlich in Ländern des glo-balen Südens arbeiten.

Der ebenfalls heterogene Postdevelopment-Ansatz sucht seit den frühen 1990ern seinerseits nach einer Antwort auf das anhaltende Scheitern der technischen Hilfe zur Selbsthilfe, wie sie seit 1949 postuliert wird.

Unter seinem Schirm versammeln sich kritische An-sätze, die vom Versagen der globalen Entwicklungs-politik ausgehen und nach den Bedingungen fragen, weshalb trotz aller Versprechen und Programment-wicklungen die internationale Politik seit den 1950ern den Anstieg von Armut seit den 1960ern nicht verhin-dern, also ›Entwicklung‹ nach dem westlichen Modell nicht ausreichend fördern konnten (vgl. Rahnema/

Bawtree 1997). Eine Antwort darauf war, dass der ge-samte Entwicklungsdiskurs und die ihm inhärenten Beschreibungen das Problem selbst ist und deshalb überwunden werden muss.

Die geteilte Kritik an den bestehenden Beziehungen zwischen dem als solchen diskursiv und nicht geogra-phisch markierten Globalen Norden und Süden rückt den Postdevelopment-Ansatz in die Nähe der post-kolonialen Theoriebildung und ist in vielen Fällen im-plizit oder exim-plizit von Letzterer inspiriert. Ein präg-nantes Beispiel stellt die Kritik an den Armuts-Defini-tionen als eurozentrisch dar: Die vorwiegend statisti-schen Armutsdefinitionen auf der Basis von Kaufkraft erfasse einen Teil von Menschen und ihre Praktiken et-wa der Subsistenzwirtschaft, die jedoch aufgrund einer anderen Einstellung zu materiellen Gütern sich selbst weder wirtschaftlich noch sozial als arm bezeichnen würden. Die Messung von Armut anhand von ge-schätztem Einkommen oder Kaufkraftparitäten ope-riere dagegen entlang eines europäischen Verständnis-ses von Armut, was einer kulturellen und ökonomi-schen Engführung und Paternalisierung von lokalen Lebensweisen gleichkommt. Darüber hinaus kann diese Armutsdefinition weiterhin in einem Rahmen bestehen, der die strukturellen Ursachen weiter zuneh-mender ökonomischer Kolonialisierung von Lebens-welten unangetastet lässt (vgl. Dübgen 2010).

Vertreterinnen und Vertreter der postdevelopment-Theorie haben zu diesem Problem der kontextsensi-blen Definition von Armut und sozio-ökonomischen Ausschluss eine Reihe an Studien und Konzepten vor-gelegt, die helfen, den globalen Entwicklungsdiskurs zu dekonstruieren und zu kritisieren. Exemplarisch ist die Studie des kolumbianischen Anthropologen Artu-ro Escobar (1995), in der er inspiriert von der Fou-caultschen Analysemethode den Entwicklungsdiskurs als historisches Produkt mit ganz spezifischen Arten der Repräsentation untersucht. In seiner Lesart ist die westliche, globalisierte Entwicklungspolitik und die ihr inhärenten Dichotomien in arm/reich, entwickelt/

unterentwickelt, modern/traditionell ein Resultat von institutionellen und professionellen Praktiken, die vor allem von Organisationen der Entwicklungspolitik ausgehen, um Wissen zu erzeugen und dadurch Prak-tiken der Interventionen zu steuern. Beispielhaft führt Escobar seine Kritik anhand der ländlichen Entwick-lungsprogramme, nachhaltiger Entwicklung und der Rolle von Frauen in Entwicklung aus. Dabei beschreibt Escobar die entwicklungspolitische Einordnung der Welt in einen »fortgeschrittenen« und einen Teil, der noch »aufzuholen« hat, als eine Repräsentation, die ei-nem eurozentrischen Maßstab folgt und stark von Pa-ternalismus geprägt ist. Im Sinne von Foucaults Über-legungen zur Hervorbringung von Subjekten sieht Es-cobar im Entwicklungsdiskurs die Produktion von zu

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entwickelnden Subjekten am Werk, die auch von be-troffenen Individuen und Kollektiven übernommen wird. In Escobars Analyse dienen die Praktiken der Organisationen allerdings vor allem einer globalen Eli-te, die eine volle ökonomische und kulturelle Kontrolle über die Bevölkerungen im Globalen Süden anstreben (ebd., 167). Hier kommt es jedoch zu einer Überlap-pung mit dem anti-imperialistischen Narrativ, die der Foucaultschen Analyse jedoch nicht mehr gerecht wird, weil sie die vielzähligen Orte von Macht außen vor lässt (Ziai 2012). Das Bild eines monolitischen Ent-wicklungsblocks teilen auch andere Studien des post-development-Ansatzes, die deshalb sowohl für die mangelnde Erfassung von Veränderung und beson-ders von Wibeson-derstand und Aneignungspraktiken der Subjekte im Sinne von Bhabha kritisiert werden.

20.5 Materialität, Lokalität und plurale Wissensordnungen

Das Feld postkolonialer Theorie wächst weiterhin und eröffnet sich verschiedenen neueren Problematiken, aber auch Kritiken. Drei seien hier als mögliche weite-re Anschlussfragen skizziert. Zum einen hat sich aus den oben genannten Themen und methodischen Zu-gängen ergeben, dass die postkoloniale Theoriebil-dung vor allem auf die Repräsentation – auch der von Armut und Verelendung betroffenen Individuen und Kollektive – abzielt. Das kann mit ihrem Ursprung in den Geistes- und Kulturwissenschaften erklärt wer-den. Daraus ergeben sich zunächst zwei Probleme:

Das erste Problem betrifft die Behandlung materieller Praktiken in der postkolonialen Theoriebildung, die sich mit eurozentrischer Entwicklungspolitik befasst.

Ein zentraler marxistischer Kritikpunkt an postkolo-nialen Theorien ist es, materielle Praktiken, etwa die konkrete ökonomische Organisation internationaler Entwicklungspolitik, nationale bürokratische Verfah-ren, städtebauliche Entscheidungen oder lokale poli-zeiliche Anordnungen im Umgang mit als arm gelten-den Gruppen, zugunsten von Repräsentationen in Diskursen zu vernachlässigen. Aram Ziai (2012) ver-weist jedoch darauf, dass materielle Praktiken durch-aus eine Rolle in postkolonial inspirierten Studien spielen. Analysen von Praktiken der Entwicklungs-organisationen wie von Escobar und anderen widmen sich den konkreten Effekten der machtvollen Be-schreibung von ›unterentwickelten‹ Ländern. Jedoch seien diese Studien oft nicht ausreichend differenziert, akkurat oder blieben unvollständig. Besonders im

Ein zentraler marxistischer Kritikpunkt an postkolo-nialen Theorien ist es, materielle Praktiken, etwa die konkrete ökonomische Organisation internationaler Entwicklungspolitik, nationale bürokratische Verfah-ren, städtebauliche Entscheidungen oder lokale poli-zeiliche Anordnungen im Umgang mit als arm gelten-den Gruppen, zugunsten von Repräsentationen in Diskursen zu vernachlässigen. Aram Ziai (2012) ver-weist jedoch darauf, dass materielle Praktiken durch-aus eine Rolle in postkolonial inspirierten Studien spielen. Analysen von Praktiken der Entwicklungs-organisationen wie von Escobar und anderen widmen sich den konkreten Effekten der machtvollen Be-schreibung von ›unterentwickelten‹ Ländern. Jedoch seien diese Studien oft nicht ausreichend differenziert, akkurat oder blieben unvollständig. Besonders im