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2.7 Diskussion

Wie zu Beginn angeführt, stellt monetäre Armut nur eine von vielen Möglichkeiten der Abbildung von Ar-mut dar. Zur empirischen Quantifizierung bedarf es zweier Schritte: der Identifikation der Armen auf indi-vidueller Ebene und der Aufsummierung aller Armen zur Berechnung der Armutsquote in Relation zur Ge-samtbevölkerung. Beides lässt sich, wie beschrieben wurde, durch das Vorhandensein entsprechender Da-tenquellen und durch die Verwendung relativ simpler methodischer Verfahren gut erfüllen. Es sind nicht zu-letzt diese günstigen Voraussetzungen – Datenverfüg-barkeit, einfache Methodik – die dieser Form der Ar-mutsmessung vor allem auch in Europa zu großer Po-pularität verholfen haben. Wie oben angeführt, ist das Konzept der monetären Armut eines, das Armut nur indirekt und eindimensional abbildet. Vor allem auch um dieser Eindimensionalität entgegenzuwirken, wer-den Informationen zur Armutsgefährdung vielfach mit weiteren Informationen publiziert, nicht zuletzt auch, um die Mehrdimensionalität einer Armutslage darzustellen. Ein Beispiel ist etwa der auf EU-Ebene gebräuchliche Indikator »Armuts- oder Ausgren-zungsgefährdung«, der neben der Armutsgefährdung noch zwei weitere Indikatoren (Vorliegen von Depri-vation bzw. Vorliegen von keiner oder nur einer gerin-gen Erwerbsintensität) mitberücksichtigt.

Trotz der Bemühungen, neben der Armutsgefähr-dung noch weitere Indikatoren zur Beschreibung ei-ner benachteiligten Lebenslage zu erheben und zu pu-blizieren, scheint die Debatte zur Armut aber durch den singulären Indikator der Einkommensarmut do-miniert zu sein. Das liegt wohl auch daran, dass mo-netäre Größen, und insb. das Einkommen, in einer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft nicht nur für die »Armutsgefährdeten« eine besondere Art der Ressource darstellt, sondern auch für die Nicht-Armutsgefährdeten. So wird etwa auch das Phänomen des Reichtums in erster Linie monetär betrachtet, ge-nauso wie das Wirtschaftswachstum durch einen sin-gulären Indikator letztlich lediglich monetär (als Bruttoinlandsprodukt) ausgewiesen wird.

Dieses Kapitel hat allerdings auch gezeigt, dass im Zuge der Messung von monetärer Armut eine Reihe von methodischen Entscheidungen getroffen werden müssen, die letztlich werturteilsbehaftet sind. Für Da-tenproduzent*innen gibt es auf internationaler Ebene sehr detaillierte Standards, die Haushaltseinkommen umfangreich beschreiben (z. B. UNECE 2011) und vor allem in der europäischen

Armutsberichterstat-tung verwendet werden. Die Entscheidung darüber, welche Indikatoren verwendet werden sollen, wird größtenteils von Expert*innengremien getroffen, in denen sowohl Mitlieder aus der akademischen For-schung, transnationalen Organisationen (UNO) als auch Vertreter*innen der nationalen Statistikämter repräsentiert sind (UNECE 2011).

Zu den verschiedenen messtechnischen und statis-tischen Fachfragen existiert auch eine umfangreiche Forschungsliteratur. Es gibt eine Vielzahl an alternati-ven Vorschlägen, wie man einzelnen der oben be-schriebenen Herausforderungen entgegentreten kann.

Dennoch werden in der offiziellen Armutsbericht-erstattung (z. B. im EU-Raum) zumeist einfache Kon-zepte und Indikatoren verwendet. Zum Teil kann das sicherlich durch die bessere Verständlichkeit und da-mit einhergehend Kommunizierbarkeit sowie Akzep-tanz außerhalb des Expert*innenkreises erklärt wer-den. Aber auch die langjährige Verfügbarkeit und Ex-pertise bei der Produktion von Einkommensdaten sprechen für die Verwendung von Einkommensarmut als dominanten Indikator der Darstellung von mone-tärer Armut. Konsumdaten oder subjektive Armuts-indikatoren bedeuten einen weitaus größeren und kos-tenintensiveren Aufwand in der Datenerhebung. Der-zeit deutet auch nichts daraufhin, dass es trotz neuer technischer Möglichkeiten im Rahmen von Big Data, prozessgenerierten Daten, sowie technologiegestütz-ten Erhebungstechniken (z. B. Smartphones) zu einer stärkeren Fokussierung auf konsumbasierte Armuts-indikatoren in der amtlichen Armutsstatistik kommen wird. Für langfristige Betrachtungen ergibt sich zudem eine gewisse Pfadabhängigkeit. Zumindest in Europa wurden die ersten über Länder hinweg vergleichbaren Armutszahlen (seit Mitte der 1990er Jahre) auf Basis von Haushaltseinkommen berechnet. Allein die Fort-führung dieser Zeitreihen verlangt weiterhin – zumin-dest auch – nach monetären Armutsindikatoren.

Welche philosophischen Fragen lassen sich ab-schließend in Bezug auf Geld als Indikator für die Messung von Armut stellen?

Ein Vorteil der monetären Armut ist die direkte Messung und Vergleichbarkeit über Länder und Zeit-räume. Bereits Georg Simmel weist in seiner »Philoso-phie des Geldes« (1900) darauf hin, dass Geld, weil es auf quantitative Maßstäbe reduziert ist, dazu beiträgt, die Beziehungen zwischen den Menschen zu verobjek-tivieren und individuelle Unterschiede zu verschleiern.

Wenn wir die Wohlfahrt von Personen im Fokus ha-ben, geht es aber fast immer um die Frage, welche Ziele und Bedürfnisse mit Geld erreicht werden können.

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Nicht jedes Bedürfnis eines Individuums kann durch den Einsatz von eigenem Geld erfüllt werden. Entwe-der es gibt keinen Zugang zu Gütern (z. B. Ernteausfall) oder keinen Markt für das Bedürfnis (z. B. Freund-schaft), oder die Erfüllung des Bedürfnisses hängt auch von anderen Personen oder Institutionen, wie etwa dem Wohlfahrtsstaat, ab (z. B. saubere Atemluft, Si-cherheitsgefühl bei Pandemien, Zugang zu Naherho-lungsräumen und Bildungsinstitutionen). All diese Faktoren bestimmen im Vergleich von Gesellschaften und Zeiträumen, wie sehr ein zusätzlicher Geldtransfer Armut vermindern kann. So macht es eben einen Un-terschied, ob ein Transfer von 1000 Geldeinheiten in Gesellschaft A gegeben wird, mit schwachen Bildungs-institutionen, hoher Kriminalität, zerstörter Umwelt oder in Gesellschaft B, mit exzellenten Bildungsinstitu-tionen, niedriger Kriminalität, intakter Umwelt, ob-wohl dieser Transfer möglicherweise jeweils die selbe Zahl von Personen über die Armutsschwelle hebt und die Statistik gleichermaßen verbessert.

Aus sozialphilosophischer Sicht ergibt sich also im-mer auch die Frage, wer bei Umverteilung zum Be-zugspunkt gemacht werden soll bzw. wie der Kompro-miss zwischen Ungleichheit und Armut entschieden werden soll. Nehmen wir zwei Gesellschaften (A und B) mit einer existenten Verteilung zwischen jeweils drei Personen an: A: (1,1,1) und B: (2,3,10). In B herrscht einerseits eine ungleichere Verteilung als in A, andererseits ist das Einkommen jeder Person in B größer als in A. Wenn wir ausschließlich den Wohl-stand der Ärmsten zum Bezugspunkt machen (Diffe-renzprinzip nach John Rawls), würde B demnach A vorgezogen werden. Dadurch wird aber gleichzeitig mehr Ungleichheit in Kauf genommen. Noch all-gemeiner ergibt sich für die öffentliche Berichterstat-tung in den Medien aber auch für die Zielfunktion der Politiker*innen immer die Frage, welches Armuts-konzept (Einkommensarmut oder andere) in den Mittelpunkt gerückt werden soll.

Schließlich weisen einige Autor*innen auch darauf hin, dass Geld neben seinen klassischen ökonomi-schen Funktionen (Recheneinheitsfunktion, Wert-speicherfunktion, Tauschfunktion) auch ein kulturel-les Symbol mit unterschiedlichen Bedeutungen für Individuen ist. Wird z. B. ein niedrigeres Einkommen der Frau im Partner*innenhaushalt als zusätzliches Geld (»Zusatzverdienst«) oder als qualitativ gleich-wertiger Bestandteil des Haushaltseinkommens be-trachtet? Ein Haushaltseinkommen mag zwar über

der Armutsschwelle liegen, aber einzelne Personen können unterschiedlich viel dazu beigetragen haben und dadurch in Abhängigkeitsverhältnisse kommen.

Darüber hinaus hat derselbe Geldfluss nachweislich unterschiedliche Bedeutungen, je nachdem ob er ge-erbt, gestohlen, am Arbeitsmarkt verdient, oder im Casino gewonnen wurde. Wer »Almosen« erhält mag sich dadurch erst recht arm fühlen.

Literatur

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UNECE United Nations Economic Commission for Europe:

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Karin Heitzmann und Stefan Angel 2 Monetäre Armut