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Negativer Summenutilitarismus Eine Variation des Summenutilitarismus ist der

III Armut in philosophischen Traditionen

21 Utilitarismus und Armut

21.4 Negativer Summenutilitarismus Eine Variation des Summenutilitarismus ist der

nega-tive Summenutilitarismus. Er besagt:

Handle stets so, dass die Summe des negativen Wohlergehens möglichst klein ausfällt.

Der aus der Sicht von negativen Summenutilitaris-ten beste Weltzustand ist folglich einer, der kein nega-tives Wohlergehen beinhaltet. Dies hat bereits bei der Formulierung der Position zum naheliegenden Ein-wand geführt, dass der negative Summenutilitarismus unter Umständen die Auslöschung allen Lebens be-grüßen würde (Smart 1958). In der starken Form, wie

er hier skizziert wird, ist der Negative Summenutilita-rismus u. a. aus diesem Grund selten vertreten worden (für einen Überblick über Formen des negativen Uti-litarismus, der Karl Popper als primäre Inspiration für diese Theorie ausmacht, vgl. Fricke 2002).

Auf die Armutsthematik angewandt zeichnet sich der Negative Summenutilitarismus u. a. dadurch aus, dass er die vierte Besonderheit des regulären Summe-nutilitarismus umgehen kann: Er kann der Verringe-rung von negativem Wohlergehen eine privilegierte Bedeutung gegenüber der Beförderung von positivem Wohlergehen beimessen. Die Verringerung des negati-ven Wohlergehens, wie sie die Bekämpfung der Armut anstrebt, muss daher nicht mit anderen Projekten wie der Verbesserung des Lebens ohnehin schon glück-licher Menschen konkurrieren. Gleichzeitig scheint der Negative Summenutilitarismus besonders anfällig dafür zu sein, bestimmte Formen besonders proble-matischer Implikationen auszugeben. Kann man ex-trem arme Menschen z. B. vor dem Tod bewahren, ihr Leben aber nicht so weit verbessern, dass es nicht mehr primär von negativem Wohlergehen geprägt ist, so wird der Negative Summenutilitarismus dafür plädie-ren, die Armen sterben zu lassen.

21.5 Durchschnittsutilitarismus

Eine ähnliche Problematik ist im Fall des Durch-schnittsutilitarismus einschlägig. Er besagt:

Handle stets so, dass der Wohlergehensdurch-schnitt möglichst hoch ausfällt.

Die Idee hinter dem Durchschnittsutilitarismus ist besonders einfach zu verstehen, wenn man ihn mit dem Summenutilitarismus kontrastiert. Letzterer wird eine Welt mit zwei Menschen, deren Leben jeweils eine Wohlergehensbilanz von + 10 aufweist, für doppelt so wertvoll halten, wie eine Welt, in der nur einer der bei-den Menschen existiert. Schließlich ist die Summe an Wohlergehen nun + 20. Der Durchschnittsutilitaris-mus hingegen hält beide Welten für gleich wertvoll: sie weisen beide den Wohlergehensdurchschnitt + 10 auf.

Eine Variante des Durchschnittsutilitarismus wird von Harsanyi (Harsanyi 1982) vertreten.

Eine Möglichkeit, den globalen Wohlergehens-durchschnitt zu verbessern, besteht darin, Menschen, denen es besonders schlecht geht, zu einem besseren Leben zu verhelfen. Hierin liegt das Potential des Durchschnittsutilitarismus, umfassende Maßnahmen zur Verbesserung des Lebens armer Menschen zu un-terstützen. Es ist jedoch leicht zu sehen, dass der III Armut in philosophischen Traditionen

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Durchschnittsutilitarismus auch andere Wege zur Er-reichung des gleichen Ziels prinzipiell unterstützen kann: Sterben arme Menschen, deren individueller Wohlergehensdurchschnitt dauerhaft unter dem glo-balen Durchschnitt liegt, so steigt der Wohlergehens-durchschnitt an. Ein Weltzustand mit einer Person bei + 1 und zwei Personen bei + 10 ist schlechter als einer mit nur den beiden Personen bei + 10. Es besteht da-her die Gefahr, dass der Durchschnittsutilitarismus (wie auch der Negative Summenutilitarismus) mörde-rische oder zumindest auf Hilfe verzichtende Reaktio-nen auf die Armutsproblematik fordern kann.

Diese Gefahr besteht für unterschiedliche Formen des Utilitarismus unterschiedlich stark, kann jedoch für keine Form komplett geleugnet werden. Sie ergibt sich aus der Tatsache, dass der Utilitarismus insgesamt menschliche Leben nur dahingehend betrachtet, wel-che Auswirkungen ihre (Fort-)Existenz auf die Wohl-ergehensbilanz hat. Neomalthusianistische Antwor-ten auf die Frage nach dem Umgang mit Armut, wie sie z. B. von Hardin (1996) gegeben werden, und die Hilfsleistungen gegenüber armen Menschen ableh-nen, können folglich auf utilitaristische Begründungs-muster zurückgreifen. Singer selbst hat versucht zu zeigen, warum der Utilitarismus nicht in solche Hand-lungsanweisungen mündet (Singer 1994, 299–307).

Armutsminderung führe faktisch nicht zu den von Neo-Malthusianer*innen antizipierten Katastrophen der Überbevölkerung. Ein höherer Lebensstandard der ehemals Armen führe zumindest mittel- bis lang-fristig zu stark sinkenden Geburtenraten, was wiede-rum eine »Bevölkerungsexplosion« verhindert, die vermutlich die Wohlergehensbilanz massiv ver-schlechtern würde. Utilitarist*innen können also un-ter den Bedingungen der realen Welt sehr wohl for-dern, dass die Wohlhabenden die Armen nicht ihrem Schicksal überlassen, sondern ihnen zu einem bes-seren Leben verhelfen sollen.

21.6 Regelutilitarismus

Eine weitere bedeutende Variante des Utilitarismus ist der Regelutilitarismus:

Handle stets im Einklang mit einem bestimmten Kanon allgemeiner Regeln. Diese Regeln wurden wiederum dahingehend ausgesucht, dass ihre all-gemeine Befolgung die globale Wohlergehensbilanz optimieren würde.

Der Regelutilitarismus kann im Gegensatz zu den bisher besprochenen Formen des Utilitarismus die

Idee, dass moralisch richtiges Handeln etwas mit Ver-allgemeinerbarkeit zu tun hat, inkorporieren. Er weißt daher größere Überschneidungen z. B. mit Formen der kantischen Ethik auf, als dies andere Formen des Utilitarismus tun. Es ist wiederum mehr als nur eine Form des Regelutilitarismus denkbar. So können die Regeln mit Blick auf den Summen- oder den Durch-schnittsutilitarismus gewählt werden.

Regelutilitarist*innen können argumentieren, dass die allgemeine Regel »Verhelfe armen Menschen zu einem besseren Leben« eher zur Optimierung der Wohlergehensbilanz beiträgt als die Regel »Lasse ar-me Menschen sterben« oder gar die Regel »Töte arar-me Menschen«. Einige der problematischsten potentiel-len Handlungsanweisungen des Utilitarismus könn-ten daher ausgeschlossen werden, wenn man einen Regelutilitarismus anwendet. Ob Probleme dieser Art jedoch wirklich durch den Wechsel hin zu einem Re-gelutilitarismus behoben werden können, ist umstrit-ten. So besteht die Gefahr, dass ein Aussuchen der Re-geln auf Basis des Durchschnittsutilitarismus oder des Negativen Summenutilitarismus abstrakte Regeln produziert, die wiederum das massenhafte Töten oder Sterbenlassen von Menschen in Armut gutheißen.

Mit größerer Sicherheit lässt sich sagen, dass der Regelutilitarismus in manchen Fällen weniger belas-tende Pflichten zur Armutsbekämpfung ausgibt, da das Nicht-Befolgen einer Pflicht durch einige Ak-teur*innen nicht dazu führt, dass andere mehr tun müssen. Wir müssen stets nur nach den Regeln han-deln, die bei allgemeiner Befolgung die besten Kon-sequenzen haben würden. Dies ist für die Armutspro-blematik, bezüglich der wir uns nahezu sicher sein können, dass einige Akteur*innen nicht ihren Pflich-ten zur Armutsbekämpfung nachkommen werden, von großer Bedeutung und wird von Brad Hooker (1998), einem der Vertreter des Regelutilitarismus, auch in dieser Form als Vorzug der Theorie angeführt.

Literatur

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Lukas Tank III Armut in philosophischen Traditionen

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