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alterlichen Philosophie

13 Armut in der Philosophie der Neuzeit I (Rationalismus)

13.3 Armut bei Baruch de Spinoza

Die Grundzüge und Hauptargumente der Philosophie von Spinoza wurden Zeit seines Lebens hauptsächlich durch die Korrespondenz zwischen ihm und seinen

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Freund*innen und weiteren mit ihm in Kontakt getre-tenen Denker*innen bekannt. Wesentlich beeinflusst von der Lehre Descartes’ verteidigte Spinoza in seinen postum erschienenen, am Anfang kaum beachteten Hauptwerken, d. h. in der Ethica, ordine geometrico de-monstrata und in dem Tractatus theologico-politicus, philosophische Ansichten, die ihm den Ruf des Athe-isten einbrachten und schlechtes Licht auf sein Werk warfen. Ähnlich wie Hobbes, und in diesem Fall auch gegen Descartes, beabsichtigte Spinoza zu zeigen, dass das menschliche Leben vollständig im Rahmen des Systems der Natur und der natürlichen Ordnung ent-halten und erklärbar sei. Diese Grundeinstellung, die auch seine politischen Einsichten beeinflusste, ist dem Grundgedanken geschuldet, dass alle Teile eines Gan-zen – sei es ein natürliches oder ein gemeinschaftlich-politisches System – miteinander verwoben sind, so dass auch die gemeinhin als individuell wahrgenom-menen Entitäten doch nur durch ihre gegenseitige Verbindung miteinander und somit zu einer einzigen Substanz (Gott oder Natur) zu erklären sind. Im Rah-men dieser holistischen Betrachtungen sind Spinozas Ausführungen zum Armutsbegriff zu lesen. Abseits der kritischen Anmerkungen, die manche Einstellun-gen der Armen kritisieren (»auch der Arme, der gern reich sein möchte, redet unaufhörlich vom Missbrauch des Geldes und den Lastern der Reichen, womit er [...]

zeigt, dass er nicht bloß über die eigene Armut, son-dern auch über den Reichtum anderer Groll hegt«, Spi-noza 1677, Teil V, 10. Lehrsatz, Anmerkung), bemerkt Spinoza, dass man die Pflicht hat, die Armen zu achten und sie gerecht zu behandeln. Diese Pflicht wird aus dem Gerechtigkeitsprinzip abgeleitet (das die Über-legungen Leibniz’ und Wolffs in Erinnerung ruft):

»Gerechtigkeit ist die beharrliche Gesinnung, jedem das zukommen zu lassen, was ihm nach dem bürger-lichen Rechte zukommt; Ungerechtigkeit dagegen, ihm unter dem Schein des Rechtes etwas zu entziehen, was ihm nach der richtigen Auslegung des Gesetzes gebührt. Man nennt es auch Gleichheit und Ungleich-heit, weil diejenigen, die eingesetzt sind, die Streitig-keiten zu schlichten, kein Ansehen der Person kennen dürfen, sondern alle gleich behandeln sollen und die Pflicht haben, das Recht eines jeden in gleicher Weise zu schützen und weder die Reichen zu beneiden noch die Armen gering zu achten« (Spinoza 1670, Kap. 16).

Für Spinoza ist die Gesellschaft für die Armen zustän-dig, was mit dem Streben nach dem Gemeinwohl ver-bunden ist:

»Die Menschen werden durch Freigebigkeit gewon-nen, diejenigen besonders, welche nicht in der Lage sind, das zum Lebensunterhalt Notwendige sich zu verschaffen. Doch übersteigt es weit die Kräfte und den Nutzen eines Privatmannes, jedem Bedürftigen Hilfe gewähren zu können, da der Reichtum eines Pri-vatmannes lange nicht hinreicht, dies zu leisten. Zu-dem ist auch die geistige Fähigkeit eines Einzelnen viel zu beschränkt, um sich alle in Freundschaft verbinden zu können. Darum liegt die Sorge für die Armen der ganzen Gesellschaft ob und gehört nur zum Gemein-wohl« (Spinoza 1677, Teil IV, Anhang, § 17).

Ein gut funktionierender Staat sorgt dafür, dass das Gemeinwohl erreicht wird. Die Armut spielt im Rah-men dieser Überlegungen zur Regierung und zum Gemeinwohl sogar eine Schlüsselrolle:

»Vernunft und Erfahrung lehren so klar wie möglich, dass der Bestand einer Regierung in erster Linie abhän-gig ist von der Treue der Untertanen, von ihrer Tüchtig-keit und ihrer ZuverlässigTüchtig-keit bei der Ausführung von Befehlen. Wie sie aber geleitet werden müssen, damit sie ständig Treue und Tüchtigkeit bewahren, ist nicht so leicht einzusehen. Denn alle, Regierende wie Regier-te, sind Menschen, und der Genuss ist ihnen lieber als die Arbeit. [...] Jedermann weiß, zu welchen Verbre-chen der Widerwille gegen das Bestehende und die Sucht nach Neuerungen, wozu der Jähzorn, wozu die Verachtung der Armut die Menschen verführen kann, wie sehr dies alles ihre Geister einnimmt und beschäf-tigt. Dem allen vorzubeugen und die Regierung so ein-zurichten, dass dem Verbrechen kein Raum bleibt, ja alles derart einzurichten, dass alle, wie auch ihre Sin-nesart sei, das öffentliche Recht höherstellen als den eigenen Nutzen, das ist die Aufgabe, das ist die Kunst«

(Spinoza 1670, Kap. 17).

Die Vermeidung der Armut scheint ein besonders mächtiges Prinzip des Zusammenhalts der bürger-lichen Gesellschaft zu sein – sowie ein Prinzip, das ei-ne Gruppe stärker zusammenbringen kann, auch ge-gen die bestehende Regierung. Die Armut ist ein kraftstiftendes Prinzip sowohl für das Bestehen wie auch für das Versagen politischer Mächte, wie Spinoza es auch in Anbetracht der Geschichte des hebräischen Staates hervorhebt:

»Es gab bei diesem Staate noch ein besonderes, sehr starkes Motiv, das die Bürger davon zurückhalten musste, an Abfall zu denken und Lust zu bekommen, II Armut in der Geschichte der Philosophie

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ihr Vaterland zu verlassen, ich meine die Rücksicht auf den Nutzen, die den Nerv und die Seele aller mensch-lichen Handlungen bildet. Jene Rücksicht bestand in diesem Staate in ganz besonderem Maße. Denn nir-gends besaßen die Bürger ihre Güter mit größerem Rechte, als die Untertanen dieses Staates, die den glei-chen Land- und Feldbesitz hatten wie das Oberhaupt, und wo jeder für alle Zeiten Herr seines Anteils war.

Denn wenn jemand, durch Armut gezwungen, sein Grundstück oder seinen Acker verkauft hatte, so muss-te er seinen Besitz bei Eintritt des Jubeljahres wieder vollständig zurückerhalten, und in dieser Art waren noch andere Maßregeln getroffen, dass niemand sei-nes bestimmten Vermögens verlustig gehen könne.

Auch konnte die Armut nirgends erträglicher sein als hier, wo man die Liebe gegen den Nächsten, d. h. gegen den Mitbürger mit aller Hingabe üben musste, um sich Gott, den König geneigt zu machen. Den hebräischen Bürgern konnte es also nur in ihrem Vaterlande Wohl-ergehen, außerhalb seiner war alles Unglück und Schande. Ferner trug noch in erster Linie dazu bei, nicht nur um sie in der Heimat zurückzuhalten, sondern auch um Bürgerkriege zu verhüten und die Ursachen von Streitigkeiten zu entfernen, dass niemand seinesglei-chen, sondern jedermann nur Gott diente und dass Wohlwollen gegen den Mitbürger und Liebe, die durch den allgemeinen Hass gegen die anderen Völker und der anderen gegen sie nicht wenig begünstigt wurden, als höchste Frömmigkeit galten« (ebd., Kap. 17).

Es ist äußerst bemerkenswert, dass Spinozas Ausfüh-rungen als Einzige von den erwähnten (früh-)neuzeit-lichen Autor*innen einen wichtigen Einfluss in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion zum Ar-mutsbegriff spielen. Spinoza wird als der Philosoph wahrgenommen, der (so wie früher Machiavelli) die Armut und die Armen nicht als »Rest« erscheinen las-sen, den

»die gewaltsame Aneignung durch das entstehende Kapital hinterlassen hat, und auch nicht bloß als Ge-fangene der neuen Produktions- und Reproduktions-bedingungen, sondern als eine widerständige Kraft, die imstande ist, sich selbst als Ausgebeutete zu erken-nen, und zwar in einem Regime, das noch Merkmale des Gemeinsamen trägt, eines gemeinsamen gesell-schaftlichen Lebens und gemeinsamen gesellschaftli-chen Reichtums. Die Armen nehmen, sozial gleicher-maßen aus- und eingeschlossen, eine paradoxe Stel-lung ein, die eine Reihe gesellschaftlicher Widersprü-che hervorhebt« (Hardt/Negri 2009, 67).

In diesen gesellschaftlichen Widersprüchen wird eine Dynamik sichtbar, denn sie sind erfüllt von Antagonis-men und Widerstand. Die unvermeidbare Konsequenz dieser von Antagonismen erfüllten Dynamik ist die Rebellion der Armen, die vom Reichtum ausgeschlos-sen, aber zugleich in der Produktion eingeschlossen sind: Diese Fähigkeit zum Rebellieren sowie ihr Pro-duktionsvermögen sind Aspekte einer körperlichen Kraft, die im Werk Spinozas deutlich charakterisiert wird. Spinoza stellt fest, dass »der Körper der Ort ist, an dem Armut und Bedürfnisse ihren Ausdruck fin-den, [...] und dem eine Potenzialität innewohnt, deren Grenzen immer noch unbekannt sind« (Spinoza 1677, Teil III, 2. Lehrsatz, Scholium; Hardt/Negri 2009, 68).

Spinoza verbindet Armut und Potenzial in einer Dyna-mik, die Gemeinschaft produziert. Für ihn ist

»ein Zustand der Armut der Ausgangspunkt für eine Lo-gik der Veränderung, die durch die Konstruktion von Gesellschaftlichkeit und Liebe aus der Einsamkeit und Hilfslosigkeit führt. Das Vermögen, das Spinoza in den verschiedenen Formen identifiziert, lässt sich als eine Suche nach dem Gemeinsamen beschreiben: [...] Das gemeinsame Vermögen zum Handeln, mit dem die Menge gegen die Armut kämpft und gemeinsam Wohl-stand schafft, ist für Spinoza die wichtigste Kraft, auf der die Möglichkeit der Demokratie beruht« (Hardt/

Negri 2009, 68).

Wie die Beispiele von Leibniz, Wolff und Spinoza zei-gen, und im Gegensatz zum geringen Interesse in der Forschung, war der Begriff der Armut auch im Rah-men der moralphilosophischen Betrachtungen der Hauptvertreter des neuzeitlichen Rationalismus von Interesse. Diese neuzeitlichen Reflexionen können zum Teil auch dabei helfen, die gegenwärtige Diskus-sion um die Philosophie der Armut weiterzubringen.

Literatur

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Antonino Falduto II Armut in der Geschichte der Philosophie

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