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minderung

Trotz eindrucksvoller Fortschritte in der Armutsmin-derung bleibt Armut weltweit weit verbreitet. Sie zeigt sich in immer neuen Formen und anhand immer weitreichenderer Folgen für Mensch und Natur, zum Beispiel steigender Ungleichheit innerhalb von Län-dern, schlechter werdender sozialer Beziehungen und abnehmender biologischer Vielfalt. Ihre vielen Di-mensionen und Ursachen und deren Verknüpfungen zueinander können am besten in tiefen Beschreibun-gen des vielschichtiBeschreibun-gen Phänomens verstanden wer-den. Wissenschaftlich gestützte Ansätze der Armuts-minderung haben sich seit jeher auf Teilaspekte, meist ökonomische Ursachen und damit verbundene, mög-liche Lösungsansätze konzentriert. Im zunehmenden Dickicht der Ideologien und Politikansätze zur Ar-mutsminderung bleibt unabhängige Armutsfor-schung ein wichtiger Kompass. Dieses einleitende Ka-pitel versucht einen Überblick über die Geschichte von Armutsforschung und Armutsminderung zu ge-ben, und mit ihnen einhergehende philosophische Fragestellungen aufzugreifen, insbesondere, dass Ar-mut oft nicht nur als Phänomen betrachtet und unter-sucht wird, sondern die mit ihr verbundenen sozialen Konstrukte den von Armut betroffenen Menschen nicht immer dienlich sein müssen.

7.1 Das Phänomen Armut

Armut hat die menschliche Geschichte seit jeher ge-prägt. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts war das Leben einer Mehrheit der Weltbevölkerung von materieller Armut und Mangel bestimmt, die sie von der Natur abhängig machten. Öffentliche Armenfürsorge exis-tierte bis dahin nicht und Ungleichheit war selbstver-ständlich. Wohlstand, wie wir ihn heute kennen, gab es damals nur für wenige. Mit Aufkommen des Indus-triekapitalismus wurde die ›soziale Frage‹ so drän-gend, dass Institutionen zur Armutsverwaltung ent-standen. Lohnarbeit galt seither als Wertmaßstab für kapitalarme Personen; ihre Abwesenheit als Angriffs-punkt für die Armenfürsorge.

Diese kurze Darstellung zeigt bereits, dass Armut seit jeher weitgehend als materielle Not und Geld-mangel verstanden wurde. In Ländern mit Sozialleis-tungen und für den internationalen Vergleich des Ent-wicklungsstands verschiedener Länder, wird Armut

bis heute anhand von Einkommen und Wohlstands-lage gemessen. Dies erfolgt entweder durch relative Armutsgrenzen, bei denen Armut als Prozentsatz des Medianeinkommens definiert ist, oder durch absolute Konzepte, wie etwa dem Durchschnittseinkommen pro Tag. So liegt die Armutsgefährdungsschwelle in der Europäischen Union bei 60 % des nationalen ver-fügbaren Median-Äquivalenzeinkommens (nach So-zialleistungen), und misst damit nicht den Wohlstand oder absolute Armut, sondern ein – im Vergleich zu anderen Personen im gleichen Land – niedriges Ein-kommen. Diese Armutsschwelle unterscheidet sich deutlich unter den Mitgliedsstaaten. Dem gegenüber steht die von der Weltbank hauptsächlich für Länder geringen oder mittleren Einkommens festgelegte in-ternationale Armutsgrenze, die eine Verfügbarkeit von einem US-Dollar und weniger pro Tag festsetzte.

Seit 2015 liegt diese Grenze bei 1,90 US-Dollar zu Preisen aus dem Jahr 2011, mit einem Gegenwert im Jahr 2019 von 2,16 US-Dollar. Waren nach dieser De-finition 1990 noch 1,9 Milliarden Menschen extrem arm, also unter der damaligen Armutsgrenze anzusie-deln, traf dies 2015 nunmehr nur noch auf 734 Millio-nen oder 10 % der Weltbevölkerung zu.

Materielle Armut wird auch als Kehrseite des Phä-nomens Reichtum betrachtet, das in der Forschung je-doch kaum aufgegriffen wird. Armuts- und Reich-tumsberichten, die sich im deutschsprachigen Raum in den späten 1990er-Jahren etabliert hatten, mangelte es oft an genauen Daten zu den Vermögensverhältnis-sen und den Einkommen der reichen Bevölkerungs-gruppen. Forscher*innen haben jedoch damit begon-nen, aufzuzeigen, wie Reiche durch die Kontrolle von Besitz und Geld Abhängigkeitsverhältnisse der weni-ger Wohlhabenden und ihren eigenen politischen Einfluss stärken (Sayer 2015).

Armut ist vielschichtig. Man kann zumindest zwi-schen den folgenden Dimensionen unterscheiden (Böhler/Sedmak 2004): der materiellen Dimension (Mangel an materieller Ausstattung), der praktischen Dimension (Verhaltensmuster), der sozialen Dimen-sion (Zugang zu Netzwerken, Institutionen und Infra-struktur), der politischen Dimension (Zugang zu Macht), der Umweltdimension (Zusammenhang von Armut und Umwelt), der physischen Dimension (z. B.

Aspekte der Gesundheit), der kulturellen Dimension (die Frage nach Identität und Diskriminierung), der psychologischen Dimension (die Frage nach Gefüh-len und Selbstbewusstsein) und der ideologischen Di-mension (die ideologischen Faktoren bei der Wahr-nehmung und Analyse von Armut). Diese

Gesichts-7 Armutsforschung und Armuts minderung

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021

Schweiger/Sedmak (Hg.), Handbuch Philosophie und Armut, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05739-6_7

punkte geben mögliche Denkrichtungen für einen ganzheitlichen Armutsansatz vor.

Eine allgemeine Definition des Begriffs ›Armut‹

existiert nicht. Sie wird normalerweise durch den Ge-brauch von Standards definiert, etwa durch die Stan-dardausstattung mit Ressourcen, Fähigkeiten oder Vollmachten. Die meisten Definitionen gehen von ei-nem Mindeststandard für ein annehmbares Leben und für soziale Integration aus. Armut bedeutet dann, unter diese Standards zu sinken. Man kann zwei De-finitionsansätze von Armut unterscheiden: Definitio-nen, welche materielle Faktoren und Mittel hervor-heben (Ressourcenansatz) und andere, welche kul-turelle Faktoren betonen (Lebenslagenansatz, Leß-mann 2007). Das Konzept von Armut hängt von kulturellen und historischen Neuauslegungen ab (De Chamborant 1984; Fischer 1982).

Armut hat demnach auch vielschichtige Ursachen (Böhler/Sedmak 2004). Einige Definitionen unter-streichen harte oder weiche, andere interne oder ex-terne Faktoren: als harte Faktoren gelten absolute, messbare Indikatoren, wie der Mangel an Nahrung, sauberem Wasser, Behausung oder Infrastruktur. Da-zu gelten aber auch noch weitgreifendere, ursächliche Armutsfaktoren wie mangelnde Grundfreiheiten oder der Mangel an Rechten in einer Gesellschaft, so-fern diese messbar sind. Weiche Faktoren betreffen eher individuelle Lebensumstände, und die damit verbundene Macht- und Stimmlosigkeit, Abhängig-keit, Scham und Pein, die zu einem Mangel an Selbst-bewusstsein, Lethargie oder Wut der von Armut be-troffenen Menschen führen kann. Zu den externen Faktoren können etwa Migration, politische Struktu-ren, Arbeitslosigkeit, Gesundheitsprobleme und Fa-milientragödien gezählt werden. Interne Faktoren umfassen etwa mentale Erkrankungen, Depressio-nen, negative Gefühle, persönliche Schwierigkeiten.

Mit diesen Faktoren kann eine dichte Beschreibung des »Arm-Seins« skizziert werden. Diese Unterschei-dungen weisen auch darauf hin, dass ein Verständnis von Armut kulturabhängig ist.

Das Phänomen Armut ist oft nicht sichtbar oder of-fensichtlich, meist weil Betroffene ihre Armut aus psy-chologischen oder sozialen Gründen zu verstecken versuchen. Dies erschwert die Feststellung und Mes-sung der verschiedenen Dimensionen, und eine Er-gründung ihrer Ursachen.

7.2 Ein geschichtlicher Überblick zu Armutsforschung und Armutsmin­

derung

Ziel von Armutsforschung ist seit jeher die Identifika-tion von Gruppen, die in besonderem Maße von Ar-mut betroffen oder bedroht sind. Sie erforscht Ursa-chen und versucht Beiträge zu einer wissenschaftlich fundierten Politik zur Armutsminderung zu liefern.

Die Definition von Armut, die Ursachenforschung, die Messung von Armut und die Bestimmung möglicher Lösungsansätze basiert auf normativen Festsetzungen.

Armutsforscher*innen sind dafür verantwortlich, ethi-sche Fragen im Zusammenhang mit ihrer Arbeit – und den verschiedenen Forschungszweigen, derer sie sich bedienen – in ihrer Forschung zu berücksichtigen.

Armutsforschung ist aufgrund der Vielschichtig-keit des Phänomens in ihrer Natur interdisziplinär und daher am besten als eine Art Dachdisziplin zu verstehen, die Forschung zu verschiedenen Armuts-dimensionen, ihren Ursachen und Lösungsansätzen zu fördern und vereinen versucht.

Armutsforschung ist außerdem relativ jung. Sie entwickelte sich zeitgleich mit der Entstehung, der Expansion und des Wandels westlicher Wohlfahrts-ökonomien Mitte des 20. Jahrhunderts, anfänglich hauptsächlich im angelsächsischen Raum. Auch ohne Identität als Wissenschaft, hat sich der Großteil ar-mutsspezifischer Forschung von Anfang an als ange-wandte Forschung, also dem Versuch Lösungen zu entwickeln, verstanden. Geopolitische Faktoren – wie das Ende der Kolonialzeit oder der Kalte Krieg – so-wie regional bedeutsame Entwicklungen, so-wie etwa der war on poverty in den Vereinigten Staaten in den 1960er-Jahren – haben die Anfänge der Armutsfor-schung nachhaltig geprägt.

Ein reichhaltiges Theoriegebäude zur Erklärung von Armutsminderung entstand, und hat verschiede-ne Erklärungsmodelle, insbesondere (nachholende) Entwicklung, Wirtschaftswachstum und die trickle-down-These, sowie die Strategie der Bedürfnis-befriedigung, etabliert. Die Weltbank erhob ländliche Armut in Entwicklungsländern in ihrer Hauptver-sammlung in Nairobi 1973 zum Hauptanliegen ihrer Arbeit (Weltbank 2016). Damit war auch die Absicht stärkeren außenpolitischen Einflusses der Vereinig-ten StaaVereinig-ten in ZeiVereinig-ten des Ost-West-Konflikts ver-knüpft.

Die großen Theorien zur Armutsminderung wur-den zusehends von großen Diskursen abgelöst. Die neoliberale Wirtschaftspolitik im globalen Kontext

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wurde immer wieder mit internationalen Absichts-erklärungen zur sogenannten »Armutsbekämpfung«

(poverty eradication) begleitet. Die von den Vereinten Nationen geförderte Idee, Armut als multidimensio-nales Phänomen und in ihrer Gesamtheit zu verste-hen, setzte sich im Konzept der menschlichen Ent-wicklung und dem »Human Development Index«

(HDI) und den damit verbundenen, seit 1990 von den Vereinten Nationen publizierten, jährlichen HDI- Berichten durch, die großen Anklang bei Mitglieds-staaten und Zivilgesellschaft fanden und die Millen-nium-Entwicklungsziele mitprägten. Das erste Jahr-zehnt der Vereinten Nationen zur Armutsbekämp-fung (1997–2006) hat der Armutsforschung selbst schließlich international ein Gesicht gegeben. Die in-ternationale Gemeinschaft hatte sich zum Ziel ge-setzt, Armut bis Ende des 21. Jahrhunderts gänzlich zu beseitigen. In diesen Jahren begann die internatio-nale Gemeinschaft auch die Finanzierung der Ent-wicklungsprogramme durch offizielle Entwicklungs-zusammenarbeit (Official Development Assistance, ODA) verstärkt zu dokumentieren und mit der Ab-sicht zu verknüpfen, alle verwendeten öffentlichen Gelder besser zu verwenden (aid effectiveness).

Armutsforschung ist zeitgleich auch im deutsch-sprachigen Raum zu einem integralen Bestandteil so-zial-, wirtschafts- und entwicklungspolitischer For-schung avanciert, und erhielt international durch Auszeichnungen wie Amartya Sens Wirtschaftsnobel-preis 1998 (z. B. Sen 1975 und 1990), und zuletzt Mi-chael Kremer, Abhijit Banerjee und Esther Duflo 2019 (z. B. Banerjee/Duflo 2011) für ihre experimentellen Ansätze der Armutsminderung weiterhin verstärkt Anerkennung.

Ein Anstieg von Forschungsmitteln für Programme in Disziplinen, die sich mit Armut zu beschäftigen be-gannen, hat zu verbesserten Forschungsmethoden und größerer Tiefe, Breite und Schärfe in der Forschung ge-führt. Während Forscher*innen anfänglich die Auf-gabe zukam, ein Regelwerk für Armutsforschung zu erschaffen, Theorien und Methoden zu entwickeln und Mythen zu Armut aufzudecken und zu berichtigen, ist Armutsforschung der Gegenwart verstärkt mit der Aufgabe beschäftigt, zu den vielschichtigen Armuts-dimensionen qualitativ hochwertigere Ursachenfor-schung zu betreiben und Lösungsansätze zu ent-wickeln. Je nach Disziplin werden öffentliche Träger der Sozial- und Entwicklungspolitik – Regierungsein-richtungen, Regionen, Städte – aber auch zunehmend Nichtregierungsorganisationen und private Leistungs-anbieter in die Erarbeitung der Aufgabenstellungen

und die Forschung selbst eingebunden. Sie sollen hel-fen, Datensets und gute Praktiken bereitzustellen und notwendige Fragen und Probleme zu erörtern, die dazu beitragen können, die praktische Anwendbarkeit von Forschungsergebnissen zu erhöhen.

Die Interdisziplinarität prägt die Ansätze von Ar-mutsforschung und ihren Charakter als Dachdisziplin bis heute. Ihre Aufgabe ist es, als Hybrid und loses Bindewerk, diese verschiedenen Ansätze zueinander in Beziehung zu setzen und die Ursachenforschung ganzheitlicher zu gestalten. Aufgrund der damit ver-bundenen Weitläufigkeit hat Armutsforschung an Universitäten, mit wenigen Ausnahmen, keine klare institutionelle Heimat.

Die Notwendigkeit der Armutsforschung und Armutsminderung wurde – und wird bis heute – von verschiedenen Interessensgruppen immer wieder hinterfragt. Der Rechtfertigungsdruck nimmt ins-besondere dann zu, wenn Programme und Projekte nicht finanziert sind und die unabhängige inhaltliche Arbeit gefährdet ist. Ob es Armut überhaupt noch gab, war etwa im Vereinigten Königreich der 1950er Jahre nicht unum stritten und die Notwendigkeit von sozialen Transferleistungen an bestimmte gesell-schaftliche Gruppen in Wohlfahrtsstaaten und von Entwicklungszusammenarbeit wird auch heute an-gezweifelt, wie Politik, Medien und Meinungsumfra-gen zeiMeinungsumfra-gen. Ein Schwerpunkt der Forschung muss da-her bleiben, Armutsinzidenzen und deren Ursachen aufzuzeigen, um so einen faktischen Beitrag zur öf-fentlichen Debatte zur Armutspolitik zu leisten.

7.3 Philosophische Aspekte der Theorie und Erforschung von Armut

Es gilt hier mindestens fünf Aspekte zu betrachten:

• Die Akteur*innen, die sich mit Armut, und von Armut betroffenen Menschen, befassen und ihre Fähigkeiten Armut als Phänomen zu verstehen und Lösungen anzubieten.

• Ethische Problemstellungen erkenntnistheoreti-scher Natur im Zusammenhang mit dem Phäno-men Armut, wie etwa die Schwierigkeiten Armut zu definieren und zu messen.

• Die Befangenheiten und Voreingenommenheiten (›biases‹), die den Umgang mit Armut und den von ihr betroffenen Menschen erschweren.

• Die Armutspolitik und die schwierige Frage, wa-rum Armut trotz des Fortschritts weiterhin so weit verbreitet ist und

7 Armutsforschung und Armuts minderung

• Die Gemeinschaft der mit Armut Befassten. Wer sind die Akteur*innen, die Problemlagen definie-ren und Lösungen bestimmen?

In Zeiten eines gestärkten Bewusstseins über die Be-deutung von Herkunft und Sozialisation von For-schenden wird zunehmend deutlich, wie sich fehlende Diversität auf Forschungsmethodik, Herangehenswei-sen und entstehende Lösungs- und Politikansätze aus-wirkt. Gegenwärtige Diskussionen rund um Macht- und Identitätspolitik und die Ausgrenzung von Frauen und ethnischen Minderheiten hat auch in der Armuts-forschung und -politik die Einseitigkeit der Sichtwei-sen und HerangehensweiSichtwei-sen aufzuzeigen begonnen.

Armutsforschung findet bis heute hauptsächlich in Universitäten und Forschungseinrichtungen in Eu-ropa und Nordamerika statt. Einige Entwicklungs-agenturen versuchen zwar Forschungspartnerschaften mit Ländern des Südens zu initiieren, jedoch mit mä-ßigem Erfolg. Die Institutionen der Armutsverwal-tung – von Sozialämtern bis hin zu internationalen Or-ganisationen – sind immer noch meist von weißen Männern dominiert, die auch, wie hier, über Armut schreiben. Armutsforschung wurde von Anfang an, wie der gesamte Wissenschaftapparat zu dieser Zeit, von Männern dominiert, die als Spezialisten zu be-stimmten Themen damit begannen, Armut zu erklä-ren, zu kartographieerklä-ren, zu definieren und damit ein einseitiges Verständnis zu konstruieren, das sich als Paradigma verfestigte und den Rahmen für zukünftige Forschungstätigkeit nachhaltig beeinflusste. Es wurde auch vermehrt damit begonnen von »uns« und »den Anderen« zu sprechen. »Die Armen« wurden als For-schungsobjekte definiert, und damit für viele Jahr-zehnte aus dem Diskurs über sie selbst ausgeschlossen.

In der Armutsforschung und -politik wurde dies breitenwirksam erstmals in den 1990er-Jahren thema-tisiert: Die Weltbank erkannte an, dass Armutsmin-derung ohne Einbeziehung von Betroffenen nur be-dingt funktionieren kann. Sie führte participatory po-verty assessments ein. Mit voices of the poor (Narayan/

Petesch 2002) kamen im Rahmen des Weltentwick-lungsberichts 2000/2001 über 60.000 arme Männer und Frauen aus 60 Ländern zu Wort. Der Ansatz par-tizipativer und qualitativer Forschung, bei der Studien die Realitäten der von Armut betroffenen Menschen durch ihre eigenen Stimmen zu Wort kommen lassen, war damals neu. Der Bericht verdeutlichte die Viel-schichtigkeit der Armutsproblematik und gab macht-losen Menschen die Möglichkeit, sich gegenüber den Institutionen, die ihre Armut zu bekämpfen versuch-ten, verwalteten und analysierversuch-ten, zu äußern, was nicht

nur für formelle Institutionen sondern auch für Nicht-regierungsorganisationen oft eine Gratwanderung ge-genüber den Institutionen, von denen sie oft abhingen, darstellte.

Armut wurde vermehrt als soziales Konstrukt an-gesehen und wichtige Fragen wurden gestellt: Warum Armut überhaupt erforschen (Frohmann 1991)? Wie entstehen Armutstheorien? Wie werden Forschungs-schwerpunkte festgelegt, mit oder ohne von Armut betroffenen Menschen? Wer forscht, im Namen von wem und mit welcher Legitimierung und Absicht?

Was sind die Interessen und Befangenheiten der For-schenden? Und welchen Verantwortungen unterlie-gen sie mit ihrer Arbeit?

Die Fortsetzung bestehender Dominanzverhältnis-se wurde in der Armutsforschung vermehrt auf-gezeigt, etwa von Ilan Kapoor und anderen For-scher*innen, die aus postkolonialer Perspektive Kritik übten, etwa im Kontext der Grundbedürfnisstrategie:

»Grundbedürfnisse sind eine fragwürdige kulturelle Fiktion. Sie bergen stark paternalistische Tendenzen und sind ein ideologischer Versuch, Ungleichheit zu rechtfertigen« (Kapoor 2008, 22).

Trotz der weitläufigen Themen ist die epistemische Gemeinschaft in der Armutsforschung ein in sich re-lativ geschlossenes, selbst-referentielles System. Um eine Stimme darin zu erhalten, bedarf es meist lang-jähriger Forschungsarbeit an einem Aspekt von Ar-mut in einer Teildisziplin. In dieser Zeit werden die Forscher*innen sozialisiert, arbeiten sich in das vor-herrschende Theoriegebäude ein, und werden von Auftraggeber*innen mit unterschiedlichen Motivatio-nen unterstützt – von RegierungsorganisatioMotivatio-nen und Forschungseinrichtungen, aber auch privaten Unter-nehmen, Konsulentenfirmen und internationalen Or-ganisationen. Diese Interessensgruppen haben alle Vorstellungen von Armutsforschung und erwarten klar definierte Forschungszielsetzungen, und meist auch nachvollziehbare Methoden und fun dierte Em-pirie. Die Motivationen, die hinter den Zielsetzungen der Auftraggeber stehen, sollten dabei im Design der Projekte und von etwaigen Meta-Evaluationen, die begrüßenswert sind, mitgedacht werden.

Die Armutsforscher*innen haben den Spannungs-bogen zwischen der Finanzierung ihrer Forschung und einer Auswahl von Themen zu meistern. Ein gu-tes Beispiel dafür, wie die Auswahl der Forschungs-schwerpunkte Armut reproduzieren kann, ist die feh-lende Datengrundlage zur Beschreibung der Armuts-lagen indigener Bevölkerungen (Freiring 2003): ihre fehlende Lobby in der Wissenschaft zieht einen

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gel an Mitsprachemöglichkeit und Selbstbestimmung nach sich.

Die Zukunft der Armutsforschung wird auch von der Frage gekennzeichnet sein, inwieweit es die epi-demische Gemeinschaft schafft, sich mit ihren eige-nen Vorurteilen und Grundannahmen auseinander zu setzen, und von Armut betroffene Menschen im Rahmen des Forschungsauftrags in den Mittelpunkt ihrer Forschungsinteressen zu stellen und ihnen so di-rekt oder indidi-rekt vermehrt zu Handlungsfähigkeit zu verhelfen.

7.4 Welche ethischen Probleme gibt es im Zusammenhang mit dem Phänomen Armut?

Zusätzlich zu Herkunft und Selbstverständnis der Forscher*innen und der Gemeinschaft der mit Armut Befassten, stellen sich erkenntnistheoretische Heraus-forderungen und Fragen zum Forschungsanspruch und hinsichtlich der Definition und Messung von Ar-mut (Böhler/Sedmak 2004, 50–51):

Die erkenntnistheoretischen Herausforderungen sind vielschichtig. Zunächst kann Armut nur in ihren Auswirkungen beobachtet werden. Dies macht es schwierig, das Phänomen selbst zu erschließen, und sich nicht auf die Interpretation ihrer Auswirkungen zu verlassen. Versteckte Armut ist ein besonders wichtiger Aspekt in der Feldforschung. Zudem können alle Ebe-nen menschlichen Lebens Relevanz für Armutsfor-schung und -politik haben: wirtschaftliche, soziale, psychologische und viele andere Faktoren liefern An-satzpunkte für ein besseres Verständnis und mögliche Lösungen. Die Vielfalt der Quellen macht es zumal je-doch schwierig, alle Bereiche zu berücksichtigen und nötig, Methoden der Eingrenzung zu entwickeln. For-scher*innen sind auch Teil der Wirklichkeit, die sie be-obachten; ein Problem der erkenntnistheoretischen Neutralität, das zeigt, dass Forscher*innen nur schwer unparteiisch sein können, und mit ihrer Arbeit eine Rolle einnehmen, die soziale Auswirkungen auf Betrof-fene haben kann, indem sie Erwartungshaltungen er-zeugt und die soziale Struktur des Untersuchungs-raums beeinflusst. Die Forschung ist also mit mehreren Dilemmata verbunden, die es sich bewusst vor Augen zu führen gilt: das Dilemma zwischen Forschung und Umsetzung, zwischen Insider- und Outsidersicht, schen qualitativer und quantitativer Forschung, zwi-schen gründlicher Forschung und schnellen Ergebnis-sen, zwischen unterschiedlichen Sichtweisen und

kla-ren Urteilen. Diese Spannbreite ist durch politische und wirtschaftliche Einflüsse entstanden, in der sich jede*r Forscher*in einen Standpunkt suchen muss, von wo aus sie/er Armutsforschung mit gutem Gewissen be-treiben kann.

Damit geht auch die Frage des Forschungsan-spruchs einher. Ein kontinuierlicher Reflexionspro-zess ist notwendig, um alle relevanten Armutsursa-chen und Konsequenzen eines Forschungsprojekts abzuwägen, und die Forschung in die Frage nach einer guten, gerechten und anständigen Gesellschaft

Damit geht auch die Frage des Forschungsan-spruchs einher. Ein kontinuierlicher Reflexionspro-zess ist notwendig, um alle relevanten Armutsursa-chen und Konsequenzen eines Forschungsprojekts abzuwägen, und die Forschung in die Frage nach einer guten, gerechten und anständigen Gesellschaft