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alterlichen Philosophie

16 Armut bei Hegel

Georg Wilhelm Friedrich Hegel gilt wahlweise als Phi-losoph der Freiheit und die Grundlinien der Philoso-phie des Rechts folgerichtig als »philosophische Lehre von der Verwirklichung der Freiheit zum aktualen Dasein aller als Freier« (Ritter 2003, 264) oder aber als

»ein Machtstaatstheoretiker und Antidemokrat par excellence« (Kiesewetter 1982, 104, Hervorh. i. O.) und sein Staatsverständnis als »antiindividualis-tisch[...] (ebd., 84), das damalige Preußen verehrend und so habe Hegel sogar dem Totalitarismus den Weg bereitet. Während sein Staatsverständnis seit der Zeit seines Wirkens eine ständige Kontroverse in der For-schung darstellt, ist kaum bekannt, dass sich der Phi-losoph auch der Frage der Armut widmet und diese eine entscheidende Rolle für seinen Entwurf des Staa-tes und damit für sein gesamStaa-tes System spielt. Tatsäch-lich beschäftigen sich nur wenige Wissenschaftler*in-nen mit der Sozialen Frage bei Hegel und weisen ihr zumeist auch eher einen untergeordneten Stellenwert zu (konträr hierzu vor allem Losurdo 1988 und Ruda 2011). Dieses Kapitel möchte dieses Bild ein stückweit korrigieren, indem Hegels Auffassungen zur Armut, ihr Stellenwert für die Verwirklichung des idealen Staates und damit die Bedeutung in seinem Gesamt-system sowie seine Lösungsmöglichkeiten skizziert werden.

16.1 (Mangelnde) Bedürfnisbefriedigung:

Sublimierung der Verwirklichung des Menschen

Sich die Natur gemäß zu machen und über die hierzu nötigen Mittel zu verfügen, stellt für Hegel ein Mo-ment gelungener Selbstverwirklichung dar:

»Das Tier ist ein Partikulares, es hat seinen Instinkt und die abgegrenzten, nicht zu übersteigenden Mittel der Befriedigung. [...]. Das Bedürfnis der Wohnung und Kleidung, die Notwendigkeit, die Nahrung nicht mehr roh zu lassen, sondern sie sich adäquat zu machen und ihre natürliche Unmittelbarkeit zu zerstören, macht, daß es der Mensch nicht so bequem hat wie das Tier und es als Geist auch nicht so bequem haben darf«

(Hegel, GPR, § 190 Zus.).

So Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts. Der Mensch vervielfältigt und kultiviert seine Bedürfnisse und die Mittel ihrer Befriedigung, worin

sich nicht eine unwürdige Bindung an Äußeres, son-dern umgekehrt seine Freiheit ausdrückt (vgl. hin-gegen die hin-gegensätzliche Deutung von Vieweg 2012, 292; zustimmend hingegen Schnädelbach 2000, 276).

Im Umkehrschluss kann materielle Armut als man-gelnde Fähigkeit definiert werden, die eigenen Bedürf-nisse befriedigen zu können. Ein depriviertes Leben heißt, dass diese nicht befriedigt oder auch gar nicht erst ausgebildet werden können, so dass das betroffene Individuum zwar der Potenz nach über dem Verhält-nis des animalischen OrgaVerhält-nismus zur Natur steht, die-se Anlagen jedoch aufgrund äußerer Einschränkungen nicht ausbilden kann. Wichtig ist hierbei der Wider-spruch zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, wo-durch die Armut besonders schmerzlich wird. Hierbei muss – wie dies auch in der heute gängigen Armuts-definition der Fall ist – der Lebensstandard des Men-schen ins Verhältnis zur Gesellschaft gesetzt werden, in der er lebt: Armut ist ein »Zustande, der ihnen die Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft läßt und der [...] dagegen sie aller Vorteile der Gesellschaft, Er-werbsfähigkeit von Geschicklichkeiten und Bildung überhaupt, auch der Rechtspflege, Gesundheitsvorsor-ge, selbst oft des Trostes der Religion usf. mehr oder weniger verlustig macht« (GPR, § 241).

Als Gesellschaftsmitglied kennt der von Armut be-troffene Mensch das Niveau der Bedürfnisbefriedi-gung seiner Zeit und damit alle Möglichkeiten zur Kultivierung der Subjektivität, die es der Potenz nach gibt. Sein Ausschluss erscheint ihm also nicht nur als ein solcher von den elementaren Reproduktions-bedingungen, sondern er kann diesen geistig zugleich auf elaboriertere Mittel beziehen, die ihm vorenthal-ten bleiben. Insofern haben betroffene Individuen also dieselben Bedürfnisse wie andere durchschnittliche Gesellschaftsmitglieder, die bei ihnen nicht zu einer Entwicklung der Subjektivität führen, sondern ihnen rein als Mangel erscheinen. Wie heute durch zahlrei-che Studien belegt, betrifft dieser Zustand sämtlizahlrei-che Bereiche des Lebens: So werden Berufsqualifikationen gar nicht erst ausgebildet oder verkümmern und der Zugang zu Bildung und zur medizinischen Versor-gung ist im Allgemeinen schlechter, was sich unter an-derem in einer geringeren Lebenserwartung der sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten ausdrückt.

Weil dieser Zustand also den Menschen um eine umfassende Entwicklung seiner selbst bringt, sieht sich Hegel zu dem Schluss berechtigt, dass Armut im Zustande der Gesellschaft »sogleich die Form eines Unrechts, was dieser oder jener Klasse angetan wird«

(Hegel, GPR, § 244 Zus., Hervorh. I. S.), annimmt.

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021

Schweiger/Sedmak (Hg.), Handbuch Philosophie und Armut, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05739-6_16

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Armut aufgrund von natürlichem Mangel ist nicht kritikabel, da niemand hierfür verantwortlich ge-macht werden kann; in einer Gesellschaft jedoch stellt sich die Frage der Verursachung: Weswegen gibt es sie – auch nach wie vor in so reichen Gesellschaften wie heute?

16.2 Die Ursachen der Armut: die im Eigentumsrecht begründete Konkur­

renzgesellschaft

Um sich der Beantwortung dieser Frage anzunähern, analysiert Hegel zunächst die Weise, wie sich die ge-sellschaftliche Reproduktion vermittelt: Wie gelangen Menschen im Normalfall an die Mittel ihrer Bedürf-nisbefriedigung? Zunächst charakterisiert es heutige Gesellschaften, dass eine »unmittelbare Besitzergrei-fung« (Hegel, Enz. III, § 524) kaum mehr stattfindet, denn

»die Gegenstände sind Eigentum. Deren Erwerb ist ei-nerseits durch den Willen der Besitzer, der als besonde-rer die Befriedigung der mannigfaltig bestimmten Be-dürfnisse zum Zwecke hat, bedingt und vermittelt, so-wie andererseits durch die immer sich erneuernde Hervorbringung austauschbarer Mittel durch eigene Arbeit; diese Vermittlung der Befriedigung durch die Arbeit aller macht das allgemeine Vermögen aus« (He-gel, Enz. III, § 524).

Um sich also Dinge anzueignen, muss man sich mit dem/der jeweiligen Eigentümer*in einer Sache in Be-ziehung setzen und ihm/ihr dabei gemäß des »do ut des« etwas für den Austausch anbieten: Nur, wenn man sich wechselseitig etwas gibt, kommt es zu einem Tauschakt. Denn, so Hegel an anderer Stelle, Eigentü-mer*in einer Sache zu sein, ist gleichbedeutend mit einem »absolute[n] Zueignungsrecht des Menschen«

(Hegel, GPR, § 44). Damit ist diese »für jede andere Person ein Unantastbares« (Hegel, Enz. III, § 385, Zus.). Möchte jemand anderes sich also mein Eigen-tum aneignen, so Hegels Folgerung im Zitat, muss dieser über austauschbare Waren verfügen, die man – in der Regel – durch eigene Arbeit produziert. Allein auf dieser Basis kann ein Wille zur rechtmäßigen Hergabe der eigenen Dinge entstehen.

Aus dieser vermeintlichen Banalität ergeben sich mehrere Konsequenzen, die in ihrer Relevanz bislang kaum beachtet wurden. Erstens ist mit dem »do ut des« ein bestimmtes Verhältnis zwischen den

Men-schen etabliert: Die TauMen-schenden haben »beide nur als Eigentümer füreinander Dasein« (GPR, § 40). Der/

Die andere wird also nur als potentielle*r Tauschpart-ner*in in den Blick genommen; alle anderen Merkma-le interessieren nicht:

»Im Rechte kommt es nicht darauf an, ob der Wille der anderen etwas möchte in Beziehung auf meinen Wil-len, der sich Dasein im Eigentum gibt. Im Moralischen dagegen handelt es sich um das Wohl auch anderer, und diese positive Beziehung kann erst hier eintreten«

(Hegel, GPR, § 113 Zus.).

Ob dem Wohl des Gegenübers also Rechnung getra-gen wird, ist vom Standpunkt dieser Ökonomie völlig gleichgültig; erst durch eine außer-wirtschaftliche Reflexion in der Sphäre der Moral spielt dieser Ge-sichtspunkt eine Rolle. Resultat des Rechtsprinzips Eigentum ist die Etablierung eines Systems »der frei-en Konkurrfrei-enz« (Bloch 1972, 265): »[D]er Mfrei-ensch ist auf den Standpunkt des Kampfes gestellt« (Hegel, GSGPR § 195, 495). Jedes Individuum hat ausschließ-lich sich zum Zweck, darüber konstituiert sich anar-chisch-ungeplant der Konnex zwischen den Einzel-nen: »Die Allgemeinheit hat hier zum Ausgangs-punkt die Selbstständigkeit der Besonderheit, und die Sittlichkeit scheint somit auf diesem Standpunkte verloren« (GPR, § 181, Zus.).

In diesem Sinne konstatiert John Rawls,

»daß Hegel es völlig unterläßt, sich auf die Vorteile des Privateigentums – sei’s für die einzelne Person oder für die Gesellschaft insgesamt [...] zu berufen. Er gibt kei-nen Hinweis auf die erwünschten Folgen, die das Ei-gentum langfristig für die Gesellschaft mit sich bringt.

Und er beruft sich auch nicht auf das, was die Leute womöglich mit ihrem Eigentum anfangen wollen«

(Rawls 2002, 441).

Wichtig ist für Hegel vielmehr, dass der Mensch überhaupt als Rechtsperson und damit Eigentü-mer*in am gesellschaftlichen Zusammenhang teil-nehmen kann – unabhängig davon, wie sich seine materielle Freiheit konkret ausgestaltet bzw. über wie viel Eigentum er verfügt (vgl. GPR, § 49). Die zweite Konsequenz liegt also darin, dass mit diesem all-gemeinen Prinzip der Reproduktion von den konkre-ten Mitteln der verschiedenen Gesellschaftsmitglie-der abstrahiert wird.

Dabei sind die – rechtlich gesehen – freien und glei-chen Eigentümer*innen hinsichtlich dieser höchst un-II Armut in der Geschichte der Philosophie

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terschiedlich ausgestattet. Während einige über eine

»unmittelbare eigene Grundlage (Kapital)« (Hegel, GPR, § 200, Anm. im Original) verfügen, sind andere auf ihre »Geschicklichkeit« verwiesen, »welche ihrer-seits wieder selbst durch jenes, dann aber durch die zu-fälligen Umstände bedingt ist, deren Mannigfaltigkeit die Verschiedenheit in der Entwicklung der schon für sich ungleichen natürlichen körperlichen und geistigen Anlagen hervorbringt« (ebd.). Wer nicht über genü-gend Kapital verfügt, das über Investitionen immer wieder reproduziert und vermutlich auch vergrößert wird, muss also seine eigene Arbeitskraft zu Markte tra-gen, um dort eine*n Tauschpartner*in zu finden, der/

die ihm für den Einsatz seiner/ihrer Arbeitspotenz ei-nen Lohn zahlt. Nur dadurch wird der/die an sich Mit-tellose zu einem/einer auf dem Warenmarkt nachfra-gekräftigen Eigentümer*in.

Denn in der Regel setzen die Menschen in der bür-gerlichen Gesellschaft ihre Fähigkeiten nicht mehr so ein, dass sie autonom Produkte herstellen, die sie an-schließend auf dem Markt tauschen. Vielmehr gibt es eine zunehmende Mechanisierung und damit »Tei-lung der Arbeit« (Hegel, GPR, § 198), wodurch sich

»die Abhängigkeit und die Wechselbeziehung der Menschen für die Befriedigung der übrigen Bedürf-nisse zur gänzlichen Notwendigkeit« (Hegel, GPR,

§ 198) vervollständigt. Sie sind darauf angewiesen, ei-nen Arbeitsplatz zu finden, wobei sie hierbei in Kon-kurrenz zu anderen und deren Qualifikationen ste-hen: Die unterschiedlichen natürlichen und erworbe-nen Charakteristika der Individuen hinsichtlich Phy-sis und Geist werden vom/von der Arbeitgeber*in nach seinen/ihren Interessen verglichen, wodurch manche nicht oder nur zu schlechteren Bedingungen beschäftigt werden.

Durch diese Funktionsweise einer auf dem Prinzip Eigentum basierenden Ökonomie geht – in heutigen Worten formuliert – die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander:

»Durch die Verallgemeinerung des Zusammenhangs der Menschen durch ihre Bedürfnisse und der Weisen, die Mittel für diese zu bereiten und herbeizubringen, vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer – denn aus dieser gedoppelten Allgemeinheit wird der größte Gewinn gezogen – auf der einen Seite, wie auf der an-deren Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundene Klasse, womit die Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses der weiteren Freiheiten und besonders der geistigen

Vor-teile der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängt«

(Hegel, GPR, § 243).

Während Eigentümer*innen mit Kapital ihren Reich-tum vermehren können, indem sie mittellose Eigentü-mer*innen für sich arbeiten lassen, werden die Per-sonen, die allein über ihre Geschicklichkeit bzw. Ar-beitsfähigkeit verfügen, tendenziell immer ärmer.

Diese Klasse ist auf eine*n Arbeitgeber*in angewiesen und dies umso mehr, als jegliche autonome Repro-duktion und Subsistenz unmöglich werden.

Ob der Tauschakt auf dem Arbeitsmarkt gelingt, ist rein kontingent:

»[D]ie Möglichkeit der Teilnahme an dem allgemeinen Vermögen für die Individuen [bleibt, I. S.] noch von der objektiven Seite den Zufälligkeiten unterworfen, und um so mehr, je mehr sie Bedingungen der Geschick-lichkeit, Gesundheit, Kapital usw. voraussetzt« (Hegel, GPR, § 237).

Wie brauchbar ist die eigene Physis für bestimmte Arbeiten? Benötigen die Unternehmer*innen die ei-gene Qualifikation? Wie viele Arbeiter*innen werden mit dieser Ausstattung gebraucht? Wie ist die Kon-kurrenzlage zwischen den Arbeiter*innen und wie zwischen den Unternehmer*innen? Herrscht eine Phase des Wachstums oder der Krise? All diese Punk-te beeinflussen den Konkurrenzerfolg des/der einzel-nen Eigentümer*in auf dem Arbeitsmarkt, wobei er/

sie selbst nur seine/ihre Qualifikationen in der Hand hat – nicht jedoch, ob dieser Versuch, sich für ande-re Subjekte brauchbar zu machen, auch tatsächlich gelingt.

Wie dargelegt, ist die Emergenz der Armut nicht erst hier, bei dem Einsatz der Maschinen, der Über-flüssigmachung der Arbeiter*innen bzw. der spezifi-schen Konkurrenzverhältnisse zu verorten (vgl. für ei-ne solche Deutung bspw. Ruda 2011, 34). Ihre Not-wendigkeit ist vielmehr bereits in der Eigentumslosig-keit begründet: Allein deswegen wird es materiell überhaupt nur zum Problem, dass jemandes Ge-schicklichkeit an einer bestimmten Stelle aufgrund des Einsatzes von Maschinen nicht mehr benötigt wird. Umso frappierender scheint es, dass der hier skizzierte Zusammenhang – ebenso wie der Themen-komplex »Eigentum« an sich (vgl. auch Ritter 2003, 257) – in der Forschung kaum diskutiert wird. Tat-sächlich »durchherrscht« Hegels Eigentumstheorie

»den objektiven Geist und darin alle geltenden Rechts-prinzipien« (Eichenseer 1986, 120).

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16.3 Lösungsmöglichkeiten in der Dis­

kussion: der Sozialstaat als zentrale Antwort

Wie Hegel ausführt, sind die Konsequenzen der Exklu-sion verheerend: Die materielle Deprivation wirkt sich auch auf die Genussfähigkeit und die geistigen Poten-zen der betroffenen Individuen aus. Sie verlieren ihre Qualifikationen oder bilden sie durch die fehlende Be-rufspraxis zumindest nicht weiter aus, sie haben einen schlechteren bis keinen Zugang zum Gesundheits- und Rechtssystem und sind insofern von sämtlichen Frei-heiten der bürgerlichen Gesellschaft ausge schlossen (Hegel, GPR, § 241; GSGPR, 606 zu § 241). Folgerichtig konstatiert Hegel in den Grundlinien: »Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die moderne Gesellschaft bewegende und quälende«

(Hegel, GPR, § 244, Zus.) – stellt jedoch auch fest: »Die Frage wie der Armuth zu helfen ist, ist sehr schwer zu beantworten« (Hegel, GSGPR, 611 zu § 245).

In diesem Sinne diskutiert der Philosoph mehrere mögliche Maßnahmen, die er alle aus unterschiedli-chen Gründen verwirft (ausführlich hierzu vgl. Ruda 2011 oder Schildbach 2018, 161–168): Weder die künstliche, also nicht den Marktgesetzen folgende Schaffung von Arbeitsplätzen, noch Gemeineigen-tum, die (stärkere) Besteuerung von Vermögenden, die Kolonisation oder die Mildtätigkeit der Privatsub-jekte stellen für ihn adäquate Antworten dar. Letzteres lehnt er deswegen ab, da die Abhilfe dann allein dem Zufall bzw. dem guten Willen der Individuen überlas-sen wird (vgl. Hegel, GPR, § 242; GSGPR, 527 zu

§ 207). Dies kann jedoch angesichts der Systematik der Armutserzeugung keine ausreichende Lösung darstellen.

Nach einigen Paragraphen, in denen potentielle Strategien diskutiert werden, kommt er zu dem Schluss, dass der Staat sich als sozialer betätigen muss, indem er für eine Art Existenzminium und elementa-re Infrastruktur garantiert:

»Die polizeiliche Aufsicht und Vorsorge hat den Zweck, das Individuum mit der allgemeinen Möglichkeit zu vermitteln, die zur Erreichung der individuellen Zwe-cke vorhanden ist. Sie hat für Straßenbau, BrüZwe-ckenbau, Taxation der täglichen Bedürfnisse sowie für die Ge-sundheit Sorge zu tragen« (Hegel, GPR, § 236, Zus.; vgl.

auch Hegel, GPR, § 249).

Es handelt sich hierbei um Bedingungen für die Be-tätigung der Eigentümer*innen, die jedoch die

Wirt-schaft selbst nicht hervorzubringen vermag. An meh-reren Beispielen macht Hegel deutlich, dass es einer übergeordneten Instanz bedarf, die regulierend in das Marktgeschehen eingreift und dadurch langfristig die ökonomische Ordnung und die Möglichkeit der Teil-nahme aller Personen als freie Eigentümer*innen ga-rantiert. Neben der Bereitstellung der materiellen Be-dingungen hat diese Lösungsmöglichkeit noch eine weitere Funktion, die sie von allen anderen abhebt

»Hegels Analyse [muss, I. S.], richtig verstanden, zur Konzeption eines Sozialstaates führen [...] – nur er lässt einerseits die Gesellschaft frei und gesteht ihr das mo-derne Recht der Besonderheit zu, ohne jedoch anderer-seits tatenlos den Verwicklungen zuzusehen, in die die bürgerliche Gesellschaft ohne staatliche Lenkung und Kontrolle notwendig stürzt« (Hösle 1988, 556; vgl. auch Vieweg 2012, 309 sowie Schnädelbach 2000, 289).

Die Individuen sind und bleiben durch das wohl-fahrtsstaatliche Wirken freie Rechtspersonen, die le-diglich ihr eigenes Wohl zum Zweck haben dürfen.

Gerade hierfür ist es jedoch notwendig, das Exis-tenzminimum der von Armut Betroffenen staatlicher-seits zu gewährleisten, denn nur dadurch diese weiter-hin als Personen bzw. rechtsfähige Subjekte erhalten, die auf dem Warenmarkt Verträge schließen und auf dem Arbeitsmarkt als arbeitssuchend auftreten kön-nen. Insofern besteht für Hegel die Antwort darin, – modern gesprochen –, die absolute Form der Armut durch das Eingreifen des Staates als Sozialstaat zu ver-hindern und sie auf ihre relative Form zu begrenzen.

Letztere, deren Existenz schließlich unterstellt ist, wenn es einen sozialen Staat in einem Gemeinwesen gibt, stellt für ihn keinen Analyse- und Sorgegegen-stand mehr dar. Doch weswegen ist (absolute) Armut einerseits eine »quälende« Frage, die andererseits je-doch ihre Brisanz verliert, sobald sie beschränkt wird durch die Staatsaufgabe der »die durch Befähigung be-dingte Sicherung der Subsistenz« (Hegel, GPR, § 253)?

Hier soll dafür argumentiert werden, dass dies in Hegels staatsapologetischen Perspektive begründet liegt, die Armut nicht an sich als zu beseitigenden Missstand auffasst, sondern dies nur in Relation zur potentiellen Gefahr, die die materielle Deprivation für die Eigentumsordnung und den Staat bedeutet. Aus mehreren Gründen stellt absolute Armut eine Heraus-forderung für den Staat dar. Ganz unmittelbar bedeu-tet sie einen Selbstwiderspruch zu den Rechtsprinzi-pien Person und Eigentum, die sie zugleich hervor-bringt: Menschen, die in ihrer Existenz bedroht sind, II Armut in der Geschichte der Philosophie

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verlieren ihre Fähigkeit, an der bürgerlichen Gesell-schaft teilzunehmen. Ohne rechtsfähigen Willen sind sie schließlich kein vertragsfähiges Subjekt mehr.

Außerdem bedeutet Armut Hegel zufolge zugleich die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, dass ein so-genannter »Pöbel« entsteht. Dieser ist nicht einfach durch die materielle Lage charakterisiert, sondern durch eine unsittliche Einstellung: Die Armut an sich macht keinen zum Pöbel: dieser wird erst bestimmt durch die mit der Armut sich verknüpfende Gesin-nung, durch die innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung usw. Ferner ist damit verbunden, dass der Mensch, der auf die Zufäl-ligkeit angewiesen ist, leichtsinnig und arbeitsscheu wird (Hegel, GPR, § 244 Zus.). Dies gilt es zu verhin-dern, unter anderem aufgrund der unmittelbaren Be-drohung, die eine solche Einstellung für das Bestehen der Gesellschaftsordnung bzw. für den inneren Frie-den bedeutet: »Die bürgerliche Gesellschaft muß Frie-denn alle die dürftigen, ruinierten Familienväter und so eine Menge von Poebel versorgen, oder sie kommt von ih-nen in Gefahr« (Hegel, GSGPR, 630 zu § 255). Hinzu stellt die Existenz eines Pöbels mit einer staatsfernen Gesinnung aus hier nur kurz anzureißenden Gründen eine Bedrohung der Hegelschen Staatskonzeption dar.

Hegel bestimmt den Staat als »substantielle« (He-gel, Enz. III, § 534) und »gewusste« (He(He-gel, Enz. III,

§ 535) Allgemeinheit, also als ein Gemeinwesen, das vom Bürger*innen willen getragen wird; »die Cito-yen-Gemeinschaft als freie, gebildete Bürgerschaft muss als das Kernstück von Hegels Staatsorganisation angesehen werden« (Vieweg 2012, 439, Hervorh.

i. O.). Insofern handelt es sich um eine sehr anspruchs-volle Staatskonzeption, was jedoch in der Forschungs-literatur überwiegend konträr aufgefasst wird. Hier dominiert die Annahme, Hegel habe einen Obrig-keitsstaat entworfen, der die Bürger*innen zu bloßen Untertan*innen degradiert (vgl. als Beispiel für zahl-reiche andere Auslegungen Popper 2003). Hegel führt jedoch aus, dass Zweck und Begriff des Staates von

i. O.). Insofern handelt es sich um eine sehr anspruchs-volle Staatskonzeption, was jedoch in der Forschungs-literatur überwiegend konträr aufgefasst wird. Hier dominiert die Annahme, Hegel habe einen Obrig-keitsstaat entworfen, der die Bürger*innen zu bloßen Untertan*innen degradiert (vgl. als Beispiel für zahl-reiche andere Auslegungen Popper 2003). Hegel führt jedoch aus, dass Zweck und Begriff des Staates von