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römischen antiken Philosophie

10.1 Zum historischen Hintergrund

Schon Herodot bemerkt, dass Armut Griechenlands ständige Begleiterin ist (Hdt. 7.102.1). Im 7.–5. Jahr-hundert lässt sich in Athen, Sizilien und Unteritalien eine erhöhte Konzentration staatlichen und aristokra-tischen Reichtums beobachten. Hinweise sind die Entwicklung urbaner Zentren mit hoher Bevölke-rungsdichte (z. B. Athen und Korinth), großzügige Grabbeigaben, monumentale Tempel und Straßen-netze (von Reden 2015, 52). Neuere Versuche, das antike Griechenland insgesamt als wohlhabend zu charakterisieren (Ober 2016, Kap. 4: »Hellas war reich«) werden dafür kritisiert, dass sie den Reichtum Athens als Indiz für den Wohlstand der anderen Re-gionen werten und dabei Athens Sonderstellung au-ßer Acht lassen (Ruffing 2019).

Für die gesamte griechisch-römische Antike sind hohe Vermögensunterschiede charakteristisch. Man nimmt an, dass die Mehrheit der Bevölkerung als Bauern/Bäuerinnen, Lohn- und Wanderarbeiter*in-nen sowie Sklav*inWanderarbeiter*in-nen ein hartes Leben führte und nur eine kleine Minderheit etwas Wohlstand genoss.

Vermögenswerte sind uns nur für die sogenannten Liturgisten überliefert. Dies sind vermögende Bürger, die durch Spenden einen Großteil der städtischen Ausgaben finanzierten (Davies 1971; Davies 1981).

Über die ökonomische Situation der Armen wissen wir wenig. Man nimmt an, dass der Lebensstandard insgesamt niedrig war (Ste. Croix 1981, 117; Des-mond 2006, 1; Morley 2006, 28). Knochenfunde

wei-tionskrankheiten und harte Arbeit im Kindesalter hin (von Reden 2015, 51). Die durchschnittliche Le-benserwartung ist auf der Basis der Knochenfunde schwer zu bemessen, vorsichtige Schätzungen lauten 34,8 Jahre für Frauen und 44,5 Jahre für Männer (An-gel 1972, 94 t. 28). Im Athen des 5. und 4. Jahrhun-derts scheint es weitgehend Nahrungssicherheit ge-geben zu haben (Ausnahme bildet die Belagerung Athens am Ende des Peloponnesischen Kriegs). Zu-dem gibt es Indizien für hohen Schweinefleischkon-sum, der allerdings ab dem 3. Jahrhundert in Rom wieder abnimmt. Bei allen Rekonstruktionen des Le-bensstandards gilt es zu beachten, dass die untersten Schichten kaum Spuren hinterlassen haben. Selbst Knochenfunde gehen auf diejenigen Bevölkerungs-anteile zurück, die sich eine Bestattung in den rele-vanten Begräbnisstätten leisten konnten (Morley 2006, 30–32).

Einer einflussreichen Einschätzung zufolge kannte die griechisch-römische Antike keine Hilfspflichten gegenüber Armen.

»Niemals wird es als wichtige Pflicht der Reichen dar-gestellt, die Hungernden zu speisen, die Dürstenden zu laben, die Nackten zu kleiden oder auch Witwen und Waisen zu helfen« (Bolkenstein 1939, 150; vgl.

Veyne 1990, 44–50; Knoch 2010, 305–306; van der Horst 2016, 116–119).

Verteilungsfragen werden nicht mit Hinblick auf Be-dürftigkeit oder Mindeststandards diskutiert. Auch Wohltätigkeit (euergesia) bezieht sich nicht auf Lin-derung von Not, sondern auf großzügige Zuwendun-gen an die Stadtöffentlichkeit. Staatliche Getreidever-teilung oder gemeinsame Mahlzeiten waren keine Maßnahmen von Umverteilung, da alle die gleichen Rationen erhielten. Besonders Bedürftige wurden in Sparta sogar von gemeinsamen Mahlzeiten ausge-schlossen, wenn sie zu arm waren, ihren Beitrag zu leisten (Arist. Pol. II.9, 1271a26–37; II.10, 1272a12–

21). Diskussionen über die Verpflichtung von Reiche-ren, an Bedürftige zu spenden, gelangten dieser Sicht-weise zufolge erst in der Spätantike durch den Einfluss des Judentums in den europäischen Kulturraum (van der Horst 2016, 120–133; Finley 1973, 38; de Ste. Croix J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021

Schweiger/Sedmak (Hg.), Handbuch Philosophie und Armut, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05739-6_10

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1981, bes. 431–433). Kaiser Julian ordnet im 4. Jahr-hundert brieflich an, dass man Getreide und Wein an die Bevölkerung Galatiens verteilen solle, darunter ein Fünftel an die Armen (penêtas), Fremden und Bettler (tois xenois kai tois metaitousin); es sei eine Schande, dass bei den Juden und Christen keiner bet-teln müsse, während die Römer ihre Armen im Stich ließen (epist. 22, 430c–d).

Viele Interpret*innen sind der Ansicht, dass die ge-sellschaftliche Bewertung von Armut in der Antike weitgehend negativ war. Reiche galten als moralisch überlegen, Arme als schlecht (Taylor 2018; Armitage 2016, 60–63 und 67–68; Finley 1973, 35–38; de Ste.

Croix 1981, 425–426). Tatsächlich assoziiert Hesiod Armut mit Faulheit, Missgunst seitens der Götter und moralischen Defiziten (Erg. 302–4), während Wohl-stand als Zeichen von göttlicher Gunst, Fleiß und Tu-gend gilt (Erg. 126; 312; 317–19; vgl. Balot 2001, 71).

Eine ähnliche Verbindung von Reichtum und Tugend, Armut und Schlechtigkeit findet sich noch im 5. Jahr-hundert (Balot 2001, 12), beispielsweise bei Euripides (El. 362–3; 371–6; 380–3). In der Komödie werden Arme häufig als dreist und unersättlich porträtiert, und in Xen. Athen. Pol. 1.19 und 2.9 heißt es, die auf-wändigen rituellen Opferfeste der Stadt beruhten auf der Gier der Armen, die bei dieser Gelegenheit auf Kosten der Reichen schlemmten. Reichtum und Lu-xus wird aber ebenfalls häufig kritisiert (vgl. Dover 1974, 110–112; Schriefl 2013, 266–271).

Etwas unklar ist, wer als ›arm‹ zählte. Bisweilen wird betont, dass sich die zentralen griechischen Be-griffe für Armut und Reichtum, penia und ploutos, nicht auf zwei ökonomische Extreme beziehen. Als

›reich‹ (plousios) habe vielmehr gegolten, wer auf-grund seines Vermögens ein mußevolles Leben führ-te, als arm, wer körperlich arbeitete. Zu den Armen (penêtes) hätten folglich auch Menschen gezählt, die ein bescheidenes Vermögen und sogar Sklav*innen besaßen. Völlig mittellose Menschen, etwa Bettler*in-nen, sind diesem Verständnis zufolge eine Untergrup-pe der Armen und werden bisweilen sUntergrup-pezifisch als aporoi (mittellos) und ptochoi (elend) bezeichnet (Cecchet 2015, 25–31; Austin/Vidal-Naquet 1980, 16;

Hemelrijk 1925, 140–141). Ähnliches gilt für das La-teinische. Wer ›pauper‹ ist, habe so wenig, dass er selbst arbeiten müsse; wer dagegen ›inops‹, ›egens‹,

›indigens‹ oder ›mendicus‹ sei, leide Mangel (Knoch 2010, 307). Dieser Sprachgebrauch lässt sich aller-dings nicht immer an den Texten belegen. Bei Platon bedeutet ›penia‹ in der Regel materielle Not (Schriefl 2013, 12–14). Beispielsweise bezeichnet er im

Sym-posion den Liebesgott Eros als Sohn der Armut (pe-nia), der selbst stets arm (penês) sei; er beschreibt ihn aber nicht als hart arbeitenden Bauern oder Handwer-ker, sondern als obdachlosen Bettler (Symp. 203b–d;

Knoch 2010, 312). Auch bei Aristoteles sind die Be-griffe unscharf (Winterling 1993, 188).

Historiker*innen arbeiten vermehrt zur Armut in der Antike, etwa zu Nahrungssicherheit, Almosen oder der Darstellung Armer in Literatur und Kunst sowie im öffentlichen Diskurs (z. B. Garnsey 1988 und 2007; Atkins/Osborne 2006; Finn 2006; Cecchet 2015;

Taylor 2017 und 2018). In der Literatur zur Antiken Philosophie ist das Thema dagegen noch unterbelich-tet. Relevante Beiträge sind Helmer [im Erscheinen];

Helmer 2016; Knoch 2010; Desmond 2006; Winter-ling 1993. Zudem gibt es Arbeiten zu Platons und Aristoteles’ ökonomischen Modellen, die Reichtums-konzentration und Armut vermeiden sollen (z. B.

Gottlieb 2018; Föllinger 2016; Helmer 2010).

10.2 Sokrates (469–399 v. Chr.), Demokrit (c.460­c.370 v. Chr.)

Die zentrale Figur für die philosophische Thematisie-rung von Armut ist Sokrates. Die Position des histori-schen Sokrates lässt sich schwer rekonstruieren, da er nichts Schriftliches hinterlassen hat. Selbst in Platons Frühdialogen, die bisweilen als verlässliche Quellen für seine Philosophie gewertet werden, ist Sokrates keine einheitliche Figur (Wolfsdorf 2004). Die wich-tigsten Quellen stimmen jedoch darin überein, dass Sokrates sich selbst als arm bezeichnete und gegen-über Reichtum und Profitstreben kritisch eingestellt war. Bei Xenophon heißt es, Sokrates’ Lebensumstän-de seien so arm, dass nicht einmal ein Sklave sie ak-zeptieren würde. Er ernähre sich schlecht, wechsle sei-nen Mantel nie und trage keine Schuhe (Xen. Mem.

1.6.2,10; Xen. Oec. 2.3; Oec. 2.11; Oec. 11.3; vgl. Platon, Symp. 174a). In den Komödien wird Sokrates für seine Armut lächerlich gemacht (Aristophanes, Nub. 103, 175, 362; Av. 1282). In einer Komödie des Eupolis sagt eine Figur: »Ich hasse Sokrates, den geschwätzigen Bettler, der über alles mögliche sinniert, aber nicht da-rüber, wovon er sich ernähren soll« (fr. 386).

Die Übereinstimmung dieser Quellen legt nahe, dass Sokrates tatsächlich in Armut lebte und die ver-breitete Hochschätzung von materiellem Wohlstand kritisierte (Schaps 2003, 133; Wolfsdorf 2020; Indizien dafür, dass Sokrates aus wohlhabenden Verhältnissen stammte, finden sich bei Brickhouse/Smith 1989, 15–

II Armut in der Geschichte der Philosophie

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17). Platon und viele andere verstanden sich als Sokra-tes’ Nachfolger und griffen dabei auch seine Reich-tumskritik und selbstgewählte Armut auf. Insbeson-dere die Kyniker stellen freiwillige Armut ins Zentrum der philosophischen Lebensweise. Auch die stoische Güterlehre, der zufolge Armut und Reichtum indiffe-rent sind, ist eng verwandt mit der Position, die Sokra-tes in Platons Dialogen vertritt.

Sokrates’ Zeitgenosse Demokrit, bekannt für seine atomistische Position, befasste sich ebenfalls mit dem Thema Armut (Bruseker 2012). Die erhaltenen Frag-mente legen nahe, dass er Armut als Zustand der Be-dürftigkeit definierte, den man durch Selbstbeschrän-kung überwinden kann. In einem Fragment heißt es, Armut (penia) und Reichtum (ploutos) seien nur Na-men für Bedürfnis und Zufriedenheit (DK 68B83).

Wem nichts fehle, der sei auch nicht arm (DK 68B284, 286 und 219). Ähnliche Umdeutungen von ›Armut‹

und ›Reichtum‹ finden sich auch bei späteren Autoren, beispielsweise bei Xenophon (Oec. 2.1–9), Epikur (Kyr.

Doxai 25) und Seneca (s. u.). Prominenterweise meint Platon, die besitzlosen Philosophinnen und Philoso-phen des Idealstaats seien die ›wahrhaft Reichen‹ (Rep.

VII 521a3), während der im Überfluss lebende Tyrann bedürftig sei (penichros; Rep. IX 578a1).

10.3 Platon (428/7–348/7 v. Chr.)

Platon charakterisiert in seinen Dialogen Sokrates konsistent als arm und stellt ihn reichen Zeitgenossen gegenüber. Dazu gehören reiche Athener Bürger wie Kallias, der Unmengen an Geld für Tugend-Unter-richt bei den Sophisten ausgibt, aber einen zweifelhaf-ten Lebensstil pflegt (Apol. 19d8–20c3; Men. 73c11;

Men. 78c8; vgl. Heitsch 2002, 68); der reiche Metöke Kephalos, der in der Eröffnungsszene der Politeia auf-tritt (Rep. I 328b–331d; vgl. Gifford 2001); schließlich Sophisten wie Gorgias, Hippias oder Protagoras, die enorme Summen von ihren Schülern fordern und ihre hohen Einnahmen als Beweis für ihre Kompetenz deuten (Hipp. mai. 282c–e; Men. 91d; Prot. 311d; Tht.

167c–d; vgl. Tell 2009). Platon wendet sich damit ge-gen die gängige Vorstellung, dass Tuge-gend sich wesent-lich in Wohlstand zeigt (Finley 1973, 35–36; Balot 2001, 12). Platons Sokrates verkörpert das Gegenteil des verbreiteten Ideals. Platon lässt ihn in der Apolo-gie dreimal betonen, wie arm er ist. Er stellt Sokrates’

Armut dabei in direkten Zusammenhang mit seiner konsequenten Bemühung um die richtig verstandene Tugend (Apol. 23b–c; 31a–c; 36d–e).

In der Politeia fundiert Platon seine Reichtumskri-tik psychologisch. Er entwirft eine vollkommen ge-rechte Stadt, die Kallipolis, in der für die Regierenden, die Philosophenköniginnen und -könige, strenge sitzregeln gelten. Ihnen ist jegliche ökonomische Be-tätigung verboten; sie dürfen nur das Nötigste besit-zen (Rep. III 416b3–417b8). Platons psychologische Begründung hierfür liegt darin, dass alle Menschen einen appetitiven Seelenteil (epithymêtikon) haben, der »von Natur aus überaus unersättlich nach Geld ist« (Rep. IV 442a5–7; vgl. Rep. IX 580e1–581a7). Es ist nicht möglich, die angeborene Geldgier durch Erzie-hung vollständig zu überwinden. Daher sind strenge Besitzregeln nötig, die den Regierenden den Umgang mit Geld und Privatbesitz, der über das Nötigste hi-nausgeht, verbieten (Schofield 2006; Schriefl 2018).

In Platons Kallipolis sollen Reichtum und Armut insgesamt vermieden werden. Reichtum führe zu Faul-heit und Verweichlichung, Armut mache unfrei und kriminell (Rep. IV 421d–422a). Beide Extreme unter-minieren zudem den sozialen Zusammenhalt und ge-fährden damit die militärische Geschlossenheit (Rep.

IV 422a4–423b3). Mit diesem Argument richtet Platon sich gegen die verbreitete Ansicht, dass militärischer Erfolg Reichtum voraussetzt, wie dies insbesondere Thukydides annimmt (dazu Kallet-Marx 1993, 6–7 und 11–12). Platon wendet dagegen ein, dass eine Stadt mit Reichen und Armen notwendig gespalten ist, weil diese verfeindete Gruppen darstellten. Aufgrund ihrer strengen Besitzregeln und der Vermeidung öko-nomischer Extreme bilde nur die Kallipolis eine Ein-heit (Rep. IV 422d1–423a5; V 465c; VIII 551a–d).

Auch in den Nomoi identifiziert Platon Reichtum und Armut als die wichtigsten Ursachen für soziale Spaltungen und Umstürze (Leg. III 678e–679e; V 744d). Hier ist er vermutlich nah am Commonsense seiner Zeit. Berichte über Konflikte zwischen Armen und Reichen finden sich beispielsweise bei Isokrates.

Er berichtet, die Reichen hassten die Armen so sehr, dass sie eher bereit sind, ihren Besitz ins Meer zu wer-fen, als ihn zu teilen (Archid. 67; Areop. 67; Antid. 159–

600; vgl. Vegetti 1998, 153). Während Platon in der Po-liteia keine quantitativen Angaben macht, führt er in den Nomoi Vermögensgrenzen ein (Leg. V 744c–745a).

Die komplexen wirtschaftlichen Regelungen sollen aber nicht nur ökonomische Extreme verhindern, sondern tragen auch zu einer effizienten, hochfunk-tionalen Wirtschaft bei (Föllinger 2016; Bösherz 2019). Platon nimmt zwar Reichtum in die Liste der Güter auf, die für das Glück eines Staates konstitutiv sind, der glückskonstitutive Reichtum ist allerdings

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›scharfblickend‹, d. h. nicht blind für den Charakter seiner Besitzer (Leg. I 631c5; Schöpsdau 1994, 181). Es handelt sich zudem nicht um luxuriösen Wohlstand, sondern um ein bescheidenes materielles Wohlerge-hen, das in der Mitte zwischen extremem Reichtum und Armut steht (Leg. V 728e–729c). Anders als in der Hebräischen Bibel gibt es bei Platon nirgendwo Auf-forderungen an die Reichen, den Armen zu helfen (Otto 2019).

10.4 Aristoteles (384/3–322/1 v. Chr.) In der Nikomachischen Ethik erwähnt Aristoteles zwei Tugenden, die an Wohltätigkeit gegenüber Armen denken lassen, nämlich Freigiebigkeit (eleutheriotês) und Großzügigkeit (megaloprepeia). Doch beide Tu-genden haben nichts mit der Bedürftigkeit der Emp-fänger zu tun, entscheidend ist vielmehr die eigene Vermögensgröße. Freigiebigkeit ist die Bereitschaft, sein Geld und seinen Reichtum mit Freunden zu tei-len (EN IV.1), Großzügigkeit bezieht sich auf außer-gewöhnlich hohe Beiträge an die Öffentlichkeit (EN IV.2, 1122b20–23).

Aristoteles’ Position zur Freigiebigkeit ist auch für seine Kritik an Platons Besitzregeln relevant, die er in der Politik vorträgt. Aristoteles gesteht Platon zu, dass die Vermeidung von Armut das Risiko für politische Konflikte senkt (Pol. II.3, 1265b12; vgl. II.4, 1267a37–

9), doch Besitzlosigkeit sei nicht erstrebenswert, weil dies die Tugend der Freigiebigkeit verhindere (Pol.

II.2, 1263a30–b14; Irwin 1987, 41–43). Ein weiterer Einwand gegen Platon lautet, dass die Vermeidung von Reichtum und Armut nicht ausreicht, um Spal-tungen zu vermeiden. Gegen Platons Feststellung, dass Oligarchien immer in zwei Gruppen zerfallen – die Reichen und die Armen (Rep. VIII 551d) – wendet Aristoteles ein, dass Gemeinschaften nicht nur auf-grund ökonomischer Kriterien entzweit sind, sondern auch mit Blick auf Tugend und Schlechtigkeit. Dies ist eine Anspielung auf Platons Kallipolis, in der nur die Regierenden die vollendete Form von Tugend erwer-ben (Pol. V.12, 1316b6–10; Segev 2018, 391–392).

Aristoteles bezeichnet Armut explizit als Übel (EN III.6, 1115a10; 1115a17 f.). Doch obwohl Ar-mut ein negativer Zustand ist, hält er sie für unver-meidbar (Pol. IV.11, 1295b1–3). In jeder politischen Gemeinschaft gibt es seiner Meinung nach Reiche (plousioi, euporoi) und Arme (penêtes, aporoi; vgl. Pol.

IV.3, 1289b28–1290a2; IV.4, 1290b38–1291b13; V.4, 1304a39–b2; V.11, 1315a31–33). Aristoteles spricht

bisweilen auch von einer mittleren Gruppe und nennt weitere Abstufungen, so dass es »nicht nur arme Ar-me und reiche Reiche, sondern auch arAr-me Reiche und reiche Arme« gibt (Winterling 1993, 188). Ein wichti-ger Grund dafür, dass es in jeder Polis Arme gibt, liegt darin, dass Städte über Lohnarbeiter verfügen müs-sen. Diese sind notwendigerweise arm (Pol. II.5, 1278a21–3; vgl. Segev [im Erscheinen]). Aristoteles betont allerdings, dass in seinem Idealstaat kein Bür-ger Mangel leiden soll (Pol. VII.9, 1330a3). Er warnt zwar davor, ärmeren Schichten der Bevölkerung per-manent Geld zu geben – diese Art von Hilfe sei wie ein löchriges Fass – empfiehlt aber Maßnahmen, die zu ökonomischer Selbständigkeit verhelfen (Pol. VI.3, 1320a29–1320b1).

Martha Nussbaum hat eine einflussreiche Deutung entwickelt, der zufolge Aristoteles einen Grundgedan-ken der Sozialdemokratie vertritt: Eine politische Ge-meinschaft müsse die materiellen Ressourcen so ver-teilen, dass jedes Mitglied seine menschlichen Grund-fähigkeiten entwickeln und ein gutes Leben führen könne (Nussbaum 1988 und 1990). Ein zentraler Ein-wand gegen Nussbaums Deutung lautet, dass Aristo-teles dabei ausschließlich die Bürger einer Polis im Blick hat, zu denen Frauen und Sklaven ausdrücklich nicht gehören (Charles 1990).

10.5 Hellenismus: Kyniker, Epi kureer, Stoiker (4.–1. Jahrhundert v. Chr.) Für die hellenistischen Schulen ist unsere Quellenlage denkbar schlecht. Die damals veröffentlichten Bücher sind ausnahmslos verloren. Ihre Inhalte müssen auf der Basis von Zitaten und Berichten späterer Au-tor*innen rekonstruiert werden, die den hellenis-tischen Schulen häufig kritisch gegenüberstanden.

Für viele Philosophen und Strömungen ist uns vor al-lem Anekdotisches überliefert. Dies gilt insbesondere für die Kyniker, die wie keine andere antike Philoso-phenschule für ein Leben in Armut stehen. Diogenes von Sinope (412/404–323 v. Chr.), der als Gründer-vater der Kyniker gilt, soll nur einen Mantel besessen, in einem Fass gewohnt und vom Betteln gelebt haben (Diog. Laert. 6.49; 6.59). Dass Kyniker keiner Lohn-arbeit nachgingen, besitzlos lebten und Almosen empfingen, lässt sich auch für die anderen Vertreter der Schule belegen (Husson 2016, 127–131; Simon der Schuhmacher wird als Ausnahme erwähnt). Anders als beim Platonischen Sokrates ist die Armut der Ky-niker keine unbeabsichtigte Folge des philosophi-II Armut in der Geschichte der Philosophie

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schen Lebens. Etienne Helmer vertritt die These, dass Armut bei den Kynikern sogar als notwendige Vorsetzung dafür gilt, die Wahrheit zu suchen und aus-zusprechen (Diog. Laert. 6.27–28; vgl. Helmer [im Er-scheinen]). Armut hilft zudem dabei, die eigenen Be-dürfnisse zu beschränken und ein naturnahes, ein-faches Leben zu führen (Diog. Laert. 6.21; 6.105). Kra-tes wollte mit seinem Lebensstil beweisen, dass die menschlichen Bedürfnisse so gering sind, dass sie sich von Tag zu Tag, ohne Reserven oder Ersparnisse, be-friedigen lassen. Ein weiterer Grund dafür, in Armut zu leben, lag für die Kyniker im exemplarischen Cha-rakter ihres Lebens in der Öffentlichkeit: Wer über Be-sitz verfügt, suggeriert anderen, dies sei erstrebens-wert (Husson 2016, 146).

Die Epikureer kritisieren weder Besitz an sich, noch empfehlen sie Armut als ideale Voraussetzung für die Philosophie. Epikur hebt zwar seinen ein-fachen Lebensstil hervor und betont, dass ihm Wasser und Brot genügen (Diog. Laert. 10.11), doch das epi-kureische Lebensideal der Autarkie ist nicht als selbst-gewählte Armut zu verstehen (Morel 2016, 113), son-dern als Genügsamkeit, die auch dem Lustgewinn dient. Zentral hierfür ist eine Passage aus dem Brief an Menoikeus, wo es heißt, man solle sich von äuße-ren Dingen möglichst unabhängig machen. Dadurch lerne man, mit Wenigem zufrieden zu sein, könne aber auch etwaigen Überfluss am meisten genießen (Men. 130–132).

Die Stoiker behandeln Armut im Rahmen ihrer Gü-terlehre. Sie unterscheiden zwischen drei Klassen von Dingen: den guten, den schlechten und den indifferen-ten (adiaphora). Gut ist nur die Tugend (ein perfekter Charakter, der vollkommen von Wissen bestimmt ist).

Schlecht ist nur das Gegenteil (ein schlechter Charak-ter, der von Unwissen, unbegründeten Meinungen und irrationalen Emotionen bestimmter ist). Alle an-deren Dinge sind weder gut noch schlecht, sondern in-different. Dazu gehören Gesundheit, Ansehen, das Wohl der Kinder, sogar das eigene Leben, und promi-nenterweise auch Armut und Reichtum. Armut wird dabei vermutlich als Knappheit der Ressourcen ver-standen (laut Seneca definiert Antipater Armut als parvi possessio, vgl. Ep. 87.40). Die Stoiker argumen-tieren für diese Güterlehre ähnlich wie Sokrates in Pla-tons Dialogen (Diog. Laert. 7.101–103; vgl. Euthyd.

278e–282d; 288c–292e; Men. 87d–89c). Sie weisen da-rauf hin, dass Dinge wie Reichtum und Armut an sich weder nutzen noch schaden, sondern unser Umgang mit ihnen entscheidend ist. Daraus ergibt sich für sie, dass diese Dinge weder gut noch schlecht und somit

für das glückliche Leben nicht entscheidend sind (Sext.

Emp. M 11.59).

Die Stoiker ergänzen ihre Güterlehre mit einer Werttheorie, der zufolge indifferente Dinge einen po-sitiven oder negativen Wert besitzen. Dinge, die na-turgemäß sind, haben einen positiven Wert (axia) und sind unter normalen Umständen vorzuziehen.

Dazu gehört neben Gesundheit und Schönheit auch der Reichtum. Dinge, die naturwidrig sind, haben ei-nen negativen Wert (apaxia) und sind daher in der Regel zu vermeiden. Zu ihnen gehört neben Krank-heit und niederer Herkunft auch die Armut (Diog.

Laert. 7.104–6). Die stoische Weise wählt Armut also nicht freiwillig, sondern vermeidet sie normalerwei-se; doch wenn sie in Armut gerät, geht sie mit ihrer Situation tugendhaft um, d. h. auf der Basis von Wis-sen und ohne irrationale Emotionen. Im tugendhaf-ten Umgang mit allen Lebenslagen und Umständen liegt den Stoiker*innen zufolge die einzige Bedingung für ein glückliches Leben liegt.

10.6 Rom: Cicero (106–43 v. Chr.), Seneca (4 v. Chr.­65 n. Chr.)

Cicero ist zwar kein Vertreter, aber Sympathisant der hellenistischen Stoa, für die er eine unserer wichtigsten

Cicero ist zwar kein Vertreter, aber Sympathisant der hellenistischen Stoa, für die er eine unserer wichtigsten