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III Armut in philosophischen Traditionen

25 Armut und afrikanische Phi

25.1 Henry Odera Oruka

Ein afrikanischer Philosoph, der die Bedeutung phi-losophischer Reflexion auf das Armutsproblem be-reits 1981 zu einem Hauptthema seiner Arbeiten ge-macht hat, ist Henry Odera Oruka (1944–1995), einer der bis heute einflussreichsten und am meisten rezi-pierten Philosophen Afrikas. Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Armut spielt insbesondere in seinen Abhandlungen zu Prinzipien globaler Gerech-tigkeit eine wesentliche Rolle (1997 [1981]; 1989). In seiner Suche nach einem Prinzip, auf dem eine unbe-dingte, kategorisch gültige, genuine Verbindlichkeit für das Konzept globaler Gerechtigkeit begründet III Armut in philosophischen Traditionen

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021

Schweiger/Sedmak (Hg.), Handbuch Philosophie und Armut, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05739-6_25

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werden kann, stößt er auf das Recht auf Selbsterhal-tung: »Selbsterhaltung ist eine grundlegende Notwen-digkeit für ein Individuum, um in den Genuss jedes anderen Rechts zu gelangen« (Odera Oruka 2000, 10).

Das Recht auf Selbsterhaltung ist ein jedem Menschen innewohnendes Recht und die erste und fundamen-tale Notwendigkeit, um von allen anderen Rechten Gebrauch zu machen.

Armut, insbesondere absolute Armut, stellt eine Gefahr für die Selbsterhaltung und damit den Ge-brauch aller anderen Rechte dar. Odera Oruka er-örtert Armut nun in enger Verbindung mit dem phi-losophischen Konzept der Person, ein Konzept, das in der Geschichte der europäischen Philosophie bis in die Gegenwart eine zentrale Rolle einnimmt. In der breiten Debatte um den Begriff der Person lassen sich zwei Hauptrichtungen unterscheiden:

1) Der Status einer Person wird allen Menschen zu-geschrieben und als ein Merkmal des Menschseins verstanden. Ein solches Verständnis finden wir vor al-lem in der christlichen Philosophie.

2) Der Status der Person wird an bestimmte Eigen-schaften und Fähigkeiten gebunden, wie zum Beispiel das Verfügen über Selbstbewusstsein, Vernunft und freien Willen oder die Fähigkeit zur Kommunikation und zum Handeln. Personen zeichnen sich demnach durch eine freie und vernünftige Selbstbestimmung und Selbstgestaltung ihres Lebens aus, durch die sie ih-rer individuellen Geschichte, ihrem Leben eine Einheit geben. Ein solches Konzept der Person vertrat unter anderem Kant. Person in diesem Sinne ist ein Subjekt, dessen Handeln sich auf drei Dimensionen erstreckt:

auf sich selbst, auf andere und auf die umgebende Welt (Selbst-, Fremd- und Weltbezug). Wird das Personsein so verstanden und an bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten gebunden, kann bestimmten Mitgliedern der Spezies des Menschen (homo sapiens) der Per-sonenstatus abgesprochen werden, zum Beispiel Babys oder Kleinkinder (die weder über freie Selbstbestim-mung noch über die Fähigkeit der Kommunikation verfügen), schwer geistig Behinderten oder Patient*in-nen im Koma.

Odera Orukas Ansatz ist in der zweiten Richtung zu verorten. Für ihn bedeutet Personsein mehr als die rei-ne Zugehörigkeit zur Spezies des homo sapiens. Es umfasst darüber hinausgehende Charakteristika, ins-besondere eine moralische Handlungsfähigkeit, das heißt eine freie und vernünftige Selbstbestimmung und Selbstgestaltung des eigenen Lebens. Dem vom Hungertod bedrohten Menschen fehlen die Fähigkeit der freien und vernünftigen Selbstbestimmung und

damit die moralische Handlungsfähigkeit. Der Hun-gernde könne aufgrund seiner Existenznot Entschei-dungen gegen seine eigenen Interessen fällen, um das nackte Überleben zu sichern. Odera Oruka nimmt hier als Beispiel einen Millionär an, der einem von ei-ner Hungersnot im Tschad betroffenen Dorf einen Vertrag anbietet, der ihn auf 99 Jahre zur Nutzung des rohstoffreichen Landes berechtigt und im Gegenzug verpflichtet, ausreichend Nahrungsmittel für die Dorf-gemeinschaft zur Verfügung zu stellen (Odera Oruka 2000, 11). Aufgrund der Notlage der Dorfbewoh-ner*innen, werden diese den für sie auf lange Sicht un-vorteilhaften Vertrag sicher eingehen.

Als weitere Fähigkeiten, die einem/einer Träger*in des Personenstatus eigen sind, nennt Odera Oruka Rationalität, Selbstbewusstsein, Kreativität und die Fähigkeit, ein faires Geschäft abzuschließen (ebd., 11).

Voraussetzung für das Erlangen des Personenstatus ist laut Odera Oruka die Erfüllung eines bestimmten

›menschlichen Minimums‹. Dieses umfasst für ihn den Schutz des Lebens (physische Sicherheit), Ge-sundheit und ein gewisses, nicht näher bestimmtes, Existenzminimum (subsistence). Ohne das mensch-liche Minimum sei ein Mensch vielleicht noch leben-dig, aber nicht mehr in der Lage, als rational und ver-nünftig Handelnde*r an der gesellschaftlichen Inter-aktion teilzunehmen. So schreibt Odera Oruka:

»Damit alle menschlichen Wesen mit ausreichender Rationalität und Selbstwahrnehmung funktionieren, benötigen sie ein bestimmtes Minimum an physischer Sicherheit, Gesundheitsfürsorge und Subsistenz. Be-ziehen wir uns der Einfachheit halber auf dieses Mini-mum als das menschliche MiniMini-mum. Unterhalb dieses Minimums kann man noch immer ein Mensch und am Leben sein, aber man kann nicht mehr erfolgreich die Funktionen eines moralischen Agenten ausüben oder kreativ handeln.

Das menschliche Minimum ist als Mindestmaß not-wendig (wenn auch nicht ausreichend), um rational und selbstbewusst sein zu können. Ohne es wird der Mensch wie ein Tier, oder vegetiert einfach nur dahin«

(ebd., 11–12).

Für Odera Oruka ist die Abschaffung der Armut eine Grundvoraussetzung für die moralische Handlungs-fähigkeit eines jeden Menschen, ergo für die Erlan-gung des Status einer Person. So heißt es bei ihm:

»Wir haben behauptet, dass das Recht auf ein mensch-liches Minimum ein absolutes ist. Es ist absolut von

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dem Standpunkt aus, dass seine Ablehnung zugleich die Ablehnung des Personenstatus bedeutet [...] Wird jemandem das Recht auf ein menschliches Minimum verweigert, werden ihm also zugleich notwendige Be-dingungen für die angemessene Bestimmung als Per-son verweigert« (ebd., 13).

Das menschliche Minimum ist für Odera Oruka dann erfüllt, wenn die Grundbedürfnisse eines Menschen soweit befriedigt sind, dass er über einen Grad an Vnunft und Selbstbewusstsein verfügt, der es ihm er-möglicht, als moralisch Handelnde*r zu agieren und kreativ sein Leben zu gestalten.

Als Grundbedürfnisse bestimmt Odera Oruka in seinem Artikel »The Philosophy of Foreign Aid« (1989) zunächst den Schutz des Lebens, Gesundheit und ein Existenzminimum. In seinem Buch The Philoso-phy of Liberty (1991) unterscheidet er dann zwischen menschlichen Grundbedürfnissen (primary needs) und Bedürfnissen zweiten Ranges (secondary needs).

Grundbedürfnisse definiert er hier als notwendig für das Überleben und die Existenz eines Menschen; Be-dürfnisse zweiten Ranges dagegen sind nicht über-lebensnotwendig, sondern dienen der Weiterentwick-lung und Bereicherung des Lebens (Odera Oruka 1991, 53). Odera Oruka nennt folgende Grundbedürfnisse:

1. Nahrung

2. Ein Schutzraum in Sinne von Unterkunft und auch Kleidung

3. Wissen

4. Die Möglichkeit zu handeln oder sich zu bewegen (action or movement) im Sinne von Bewegungs-freiheit eines Armes oder Beines, genauso wie Be-wegungsfreiheit durch den Raum, also die Abwe-senheit von Gefängnissen.

5. Gesundheit

6. Sexualität (als eine biologische Notwendigkeit) Zu den Bedürfnissen zweiter Ordnung zählt er:

1. sich auszudrücken 2. sich zu versammeln 3. eine Meinung zu haben

4. eine Religion oder keine Religion auszuüben 5. Kultur (inklusive Bildung)

6. Sexualität (als ein Vergnügen) (ebd., 53)

Betrachten wir diesen erweiterten Ansatz der Bestim-mung von Grundbedürfnissen im Zusammenhang mit dem Begriff des menschlichen Minimums, um-fasst dieses nun wohl die folgenden Faktoren: Nah-rung, Unterkunft und Kleidung, Wissen, die Möglich-keit zu handeln oder sich zu bewegen, Gesundheit und Ausübung der Sexualität. Damit wird

insbeson-dere der bereits 1989 genannte Punkt Subsistenz bzw.

Existenzminimum näher bestimmt.

Aus den nunmehr formulierten Bedürfnissen ent-wickelt Odera Oruka verschiedene Freiheitstypen:

1. Freiheit von Hunger

2. Freiheit, einen Schutzraum zu finden 3. Freiheit von Ignoranz

4. Freiheit von Beschränkungen oder 5. Freiheit zu handeln und sich zu bewegen 6. Freiheit von Krankheiten

7. Sexuelle Freiheit

Diese Freiheiten werden von ihm unter dem Begriff der ökonomischen (oder biologischen) Freiheiten sub-summiert. Freiheiten zweiten Ranges sind dann die folgenden:

8. Freiheit des Ausdrucks 9. Versammlungsfreiheit 10. Meinungs- und Pressefreiheit

11. Freiheit, einen Gott anzubeten oder keinen Gott anzubeten oder verschiedene Götter anzubeten 12. Kulturelle Freiheit

13. Sexuelle Freiheit

Die Punkte 8 bis 10 fasst er unter dem Begriff der po-litischen Freiheit zusammen, den Punkt 11 bezeichnet er als Freiheit der Religion. Odera Oruka legt nun eine Rangfolge der Freiheiten fest: Sollte eine Grundfrei-heit (1–7) mit einer FreiGrundfrei-heit zweiten Ranges (8–13) in Konflikt geraten, muss die Freiheit zweiten Ranges zum Wohle der Grundfreiheit unterdrückt werden (ebd., 65). Die Sicherung eines Existenzminimums (ökonomische Freiheiten) hat bei Odera Oruka damit immer Vorrang vor allen anderen Freiheiten und ge-nießt absolute Priorität (ebd., 123–124). Ihre Erfül-lung ist die Grundvoraussetzung für die Möglichkeit des Menschseins, und zwar als eines handelnden und denkenden Subjekts, als einer Person. Eine sehr ähn-liche Rangfolge legt auch der äthiopische Philosoph Teodros Kiros in seinem Buch Moral Philosophy and Development fest (Kiros 1992, 176).

Ohne die Sicherung des Rechts auf Erfüllung der Grundbedürfnisse verliere jedes andere Recht auf-grund des Verlustes der moralischen Handlungsfähig-keit seinen Sinn. Ist die FähigHandlungsfähig-keit des Menschen, mo-ralisch zu handeln, an die Erfüllung eines Minimums an Grundbedürfnissen gebunden, muss dieses wohl zum Axiom jeder Ethik erhoben werden. Anderen-falls ist es möglich, dass Menschen überhaupt nicht an moralischen Diskursen teilnehmen können, wie der/

die Verhungernde oder der/die Verdurstende, oder aufgrund ihrer nackten Existenznot Entscheidungen gegen ihre eigenen Interessen fällen.

III Armut in philosophischen Traditionen

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Politische Freiheiten werden laut Odera Oruka an-gesichts fehlenden Brotes als reiner Luxus betrachtet.

Dass ein*e hungrige*r Wähler*in schnell dabei ist, sei-ne Stimme für ein Stück Brot zu verkaufen, ist eisei-ne Er-fahrung, die bis heute in vielen armen Ländern immer wieder gemacht wird und wirklich demokratischen Wahlen im Weg steht. Denn Menschen, denen es am Nötigsten fehlt, verlangen nicht nach der für sie auf den ersten Blick materiell wertlosen politischen De-mokratie, sondern brauchen etwas zum Essen, so Odera Oruka (Odera Oruka 1997, 123). Das bedeutet nicht, dass diese Menschen politische Freiheiten nicht anstreben, nur verlangen die Notwendigkeiten der rei-nen Lebenserhaltung eine andere Setzung von Priori-täten. Und genau auf diesen Punkt macht Odera Oru-ka hier aufmerksam, nämlich dass in einer Situation absoluter Armut die Erfüllung politischer oder intel-lektueller Freiheiten den rein physischen Notwendig-keiten (Wasser, Nahrung, Unterkunft, Gesundheit) nachgeordnet werden muss. In kritischer Auseinan-dersetzung mit der lexikalischen Ordnung der Prinzi-pien der Gerechtigkeit bei John Rawls argumentiert Odera Oruka, dass erst wenn existentielle Bedürfnisse nicht mehr in Frage gestellt werden (wie zum Beispiel in den Industrienationen), man fälschlicherweise an-nehmen könne, dass politische Bedürfnisse grund-legender seien als die ökonomischen (ebd., 123–124).

Als eine Art kategorischer Imperativ formuliert könnte das Grundprinzip globaler Gerechtigkeit in Odera Orukas Sinne so lauten: Sorge dafür, dass jedem Menschen auf dieser Welt die menschlichen Grund-bedürfnisse so gesichert sind, dass er zu einem/einer freien Entscheidungsträger*in wird und seine Interes-sen selbst argumentativ vertreten kann.