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Besonderheiten des utilitaristischen Blicks auf Armutsbekämpfung

III Armut in philosophischen Traditionen

21 Utilitarismus und Armut

21.2 Besonderheiten des utilitaristischen Blicks auf Armutsbekämpfung

Im Folgenden sollen neun prägende Charakteristika einer utilitaristischen Position – zunächst weiterhin verstanden als Summenutilitarismus – angewendet auf die Armutsthematik herausgestellt werden.

Erstens, der Utilitarismus kennt keine moralisch su-pererogatorischen Handlungen. Moralisch superero-gatorische Handlungen sind solche, die moralisch gut sind und dabei über das hinaus gehen, was moralisch von uns gefordert ist. Selbstlose Heldentaten sind ein klassisches Beispiel für solche Handlungen (Urmson 1958). Es ist leicht zu sehen, dass der Utilitarismus für dergleichen keinen Platz hat. Es ist verpflichtend, den Nutzen zu maximieren. Tut man dies, erfüllt man seine Pflicht – aber auch nicht mehr als das. Tut man dies nicht, handelt man auf moralisch verbotene Weise.

Dieses Charakteristikum ist deshalb besonders inte-ressant, weil es vom Alltagsdenken über Armuts-bekämpfung deutlich abweicht. Spendet eine Person z. B. erhebliche Teile ihres Einkommens an die Welt-hungerhilfe, so halten wir sie für besonders großzügig.

Ihr Handeln geht über die Pflicht hinaus. Utilitarist*in-nen werden dem nicht zustimmen. Das Handeln die-ser Person ist entweder moralisch geboten oder mora-lisch verboten. Je nachdem, ob sie die Wohlergehens-bilanz durch ihr Tun maximiert oder nicht. Personen, die besonders große Mittel aufwenden, um den Armen zu helfen, handeln aus utilitaristischer Sicht vermut-lich pfvermut-lichtgemäß (oder zumindest auf eine Weise, die, verglichen mit dem Handeln der meisten wohlhaben-den Menschen, dem näher kommt, was die Pflicht

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dert), nie aber supererogatorisch. Armutsbekämpfung ist für Utilitarist*innen folglich keine Sache freiwilliger Wohltätigkeit.

Zweitens, der Utilitarismus kennt keine bedin-gungslosen (Hilfs-)Pflichten. Starke Forderungen wie

»Helfe stets den Ärmsten der Armen«, die unabhängig von empirischen Fakten gelten, können Utilitarist*in-nen sich nicht zu eigen machen. Es kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass das utilitaristische Nut-zenkalkül mit einer solchen Pflicht extensional weit-gehend übereinstimmt, aber es sind auch Fälle denk-bar, in denen Utilitarist*innen zu einem gänzlich an-deren Umgang mit Armut aufgefordert sind. Sollte das Bestehen von Armut z. B. eine notwendige und hinreichende Bedingung für die Maximierung der Nutzensumme sein – man denke an einen Fall, in dem eine Mehrheit eine arme Minderheit ausbeutet und hiervon enorm profitiert – so verlangt der Utilitaris-mus, den Status quo unverändert zu lassen. Utilita-rist*innen können auch aufgefordert sein, Armut ex-plizit zu befördern, wenn dies die Nutzensumme ma-ximiert. Auf einer theoretischen Ebene bleibt es folg-lich gänzfolg-lich offen, welche Pffolg-lichten der Utilitarismus im Umgang mit Armut postuliert. Von der Pflicht zur vehementen Bekämpfung bis zur Pflicht zur vehemen-ten Beförderung ist alles denkbar. Unter Einbeziehung empirischer Informationen über die Welt spricht je-doch viel dafür, dass Armut eines der großen Hinder-nisse auf dem Weg zur Optimierung der Wohlerge-hensbilanz ist. Praktisch sehen Utilitarist*innen Ar-mut folglich als ein zu bekämpfendes Übel.

Drittens, insbesondere Singers utilitaristisch inspi-rierte Position wird oft so verstanden, dass wohl-habende Individuen die Pflicht haben, Geld zu spen-den, um Armut zu lindern. Weder der Utilitarismus noch Singer selbst sind jedoch darauf festgelegt, finan-zielle Maßnahmen oder auch nur rein individuelle Maßnahmen zu empfehlen (Singer 2005). Wenn die Wohlergehensbilanz optimiert wird, indem Indivi-duen ihre Mittel einsetzen, um strukturelle Verände-rungen auf politischer oder wirtschaftlicher Ebene zu bewirken, dann sollen sie dies tun. Der Utilitarismus fordert also nicht notwendig zu einer Bekämpfung des Symptoms Armut auf, sondern kann durchaus eine längerfristige Perspektive einnehmen, welche die Be-kämpfung der Ursachen in den Mittelpunkt rückt.

Viertens, der Utilitarismus hat keine theoretischen Ressourcen, um dem Projekt der Minderung von ne-gativem Wohlergehen einen generellen Vorzug vor dem Projekt der Beförderung von positivem Wohl-ergehen zu geben. Versteht man die Bekämpfung von

Armut als ein Projekt, dessen Auswirkung auf die Nutzenbilanz primär aus der Minderung von negati-vem Wohlergehen besteht, muss sie aus utilitaristi-scher Perspektive nicht notwendig Vorrang gegenüber intuitiv deutlich weniger drängenden Projekten ha-ben. Diese Erkenntnis wirft ein neues Licht auf Sin-gers Hilfsprinzip. Es ist möglich, dass auch bereits dann »etwas von vergleichbarer moralischer Bedeu-tung« geopfert wird, wenn mehrere Menschen auf ei-nem hohen Wohlergehenslevel ein wenig von ihrem Wohlergehen opfern müssten, um einer Person in großer Armut auf einem sehr niedrigen Wohlerge-henslevel zu helfen. Prinzipiell ist es möglich, dass der Utilitarismus folgende zwei Aussagen beide für wahr hält: Das Auftreten absoluter Armut ist ein schwer-wiegendes moralisches Problem, da es mit dem Auf-treten von großem Leid einhergeht. Wir sollten den-noch mehr Ressourcen dafür verwenden, die Leben der Menschen, denen es bereits gut geht, noch besser zu machen. Auf einer praktischen Ebene wiederum herrscht unter Utilitarist*innen offensichtlich die Überzeugung vor, dass das armutsbedingte Auftreten großer Mengen negativen Wohlergehens einen nega-tiveren Einfluss auf die Nutzenbilanz hat als die Nicht-Maximierung des positiven Wohlergehens der Besser-gestellten.

Fünftens, innerhalb des Projekts der Armutsbe-kämpfung ist der Utilitarismus nicht darauf festgelegt, den Schlechtestgestellten primär zu helfen. Während z. B. die ersten beiden Besonderheiten der utilitaristi-schen Position eher theoretischer Natur und von be-grenzter praktischer Relevanz waren, dürfte diese Ei-genschaft auch für die realweltlichen Aussagen des Utilitarismus zum Thema Armut von Bedeutung sein.

Utilitaristische Armutsbekämpfung ist geprägt von Ef-fizienzüberlegungen: Wie kann man möglichst vielen Menschen zu möglichst geringen Kosten dabei helfen, einen Weg aus der Armut zu finden? Überlegungen dieser Art sind auch für den Effektiven Altruismus ty-pisch, der als vom Utilitarismus inspirierte Bewegung verstanden werden kann. Es könnte sich z. B. heraus-stellen, dass die Ärmsten der Armen in politisch sehr instabilen Regionen leben, in denen Hilfe nur ineffi-zient geleistet werden kann. Wenn es stattdessen mög-lichst ist, verfügbare Mittel einzusetzen, um einer viel größeren Gruppe armer Menschen, die nicht zu den Ärmsten der Armen gehören, zu helfen, dann fordert der Utilitarismus typischerweise dazu auf, genau dies zu tun. Theorien aus der kontraktualistischen Traditi-on sehen zumeist eine überragende Bedeutung darin, denen zu helfen, denen es am schlechtesten geht (vgl.

III Armut in philosophischen Traditionen

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z. B. Scanlon 1982 und angewendet auf die globale Ar-mutsproblematik Wenar 2003). Der Utilitarismus sieht ein solches Primat der Schlechtestgestellten nicht.

Sechstens, räumliche oder zeitliche Nähe und Fer-ne sind für sich genommen aus utilitaristischer Sicht keine moralisch relevanten Kategorien. Dieser Punkt wird von Singer selbst bereits in »Hunger, Wohlstand und Moral« betont (Singer 2009 [1972], 40). Wenn wir im Rahmen einer Maßnahme zur Verringerung der Armut eine fixe Summe negativen Wohlergehens ver-meiden können, dann macht es keinen Unterschied, ob wir dies vor unserer Haustür, auf einem anderen Kontinent oder gar in zeitlicher Ferne tun. Freilich mag es praktisch oft einfacher sein, Menschen in räumlicher und insbesondere zeitlicher Nähe zu hel-fen. Die Nutzeneinbußen, die wir im Rahmen der Hil-fe auf uns nehmen müssen, sind geringer. In diesen Fällen ist es, sollten die Fälle ansonsten identisch sein, unsere Pflicht, den Menschen in unserer Nähe zu hel-fen. Dies impliziert, dass es in solchen Fällen aus uti-litaristischer Sicht moralisch verboten ist, entfernten Armen zu helfen, wenn dies verhindert, dass wir den Armen in unserer Nähe helfen. Grundsätzlich sind Nähe und Ferne für Utilitarist*innen aber keine rele-vanten moralischen Kategorien. Sollten wir sicher sein, dass wir mit geringen Wohlergehenseinbußen das Wohlergehen von Menschen, die in einem Jahr-hundert am anderen Ende der Welt leben werden, deutlich verbessern können, dann müssen wir dies tun. Singer argumentiert, dass die zunehmende Ver-netzung unserer Welt auch Hilfsleistungen gegenüber räumlich weit entfernten Menschen möglich und we-niger unsicher macht (ebd., 40). Dieser Punkt ist im 21. Jahrhundert sicherlich noch plausibler als er es 1972 war. Der Utilitarismus fordert daher eine Ar-mutshilfe über die Grenzen von Staaten und Kon-tinenten hinweg. Maßnahmen zur Minderung von Armut, die erst in großer zeitlicher Entfernung wirk-sam werden, scheinen jedoch weiterhin mit ver-gleichsweise großen Unsicherheiten verbunden. Ge-hen diese jedoch, sollten sie denn erfolgreich sein, mit sehr positiven Folgen einher, z. B. weil sie die Ursa-chen für das Auftreten von Armut angehen, dann spricht viel dafür, dass sie zu ergreifen dennoch gebo-ten ist.

Siebtens, der Utilitarismus sieht keinen relevanten Unterschied zwischen negativen und positiven Pflich-ten. Alle Akteur*innen sollen – ganz gleich ob durch Tun oder Unterlassen – die Nutzensumme maximie-ren. Dies hat für die Armutsbekämpfung relevante Im-plikationen. So ist es z. B. geboten, die globale Armut

insgesamt zu verringern, auch wenn man dabei die Ar-mut in bestimmten Gegenden aktiv verschlimmert.

Des Weiteren sollen die anfallenden Belastungen im Rahmen der Armutsbekämpfung so verteilt werden, dass sie zu möglichst kleinen Wohlergehenseinbußen führen. Dieses Gebot wird extensional nicht immer mit einem anderen verbreiteten Prinzip übereinstim-men, welches die Verantwortung zur Bekämpfung der Armut primär bei denen sieht, die besonders viel zur Entstehung der Armut beigetragen haben. Sollte es also der Fall sein, dass Armut kein natürlich auftretendes Phänomen ist, sondern zumindest auch durch das Fehlverhalten bestimmter Akteur*innen bedingt ist, wie z. B. Pogge (2009) argumentiert, so folgt aus dieser Erkenntnis aus Sicht des Utilitarismus zunächst einmal wenig. Mittelbar und langfristig gedacht, kann es na-türlich die besten Konsequenzen haben, wenn die, die ein Problem kreiert haben, auch dazu aufgefordert sind, es zu beheben. Kontingenterweise kann der Utilitarismus also eine Verbindung zwischen Verant-wortungszu schreibungen in der Entstehung und der Behebung eines Problems sehen. Praktisch werden Utilitarist*innen jedoch besonders wohlhabende Men-schen in der Verantwortung zur Armutsbekämpfung sehen. Diese können einen Teil ihres Wohlstands ver-lieren, ohne dabei allzu große Wohlergehensverluste zu erleiden.

Achtens, der Utilitarismus kennt keine Belastungs-grenze. Moral kann im Extremfall auch die komplette Selbstaufgabe verlangen. Wenn man die Nutzensum-me maximiert, indem man so viel an Hilfsorganisa-tionen spendet, dass man selbst nicht mehr genug zum Leben hat, dann muss man dies laut Utilitaris-mus tun. Diese Implikation des UtilitarisUtilitaris-mus, die freilich nicht nur im Kontext der Armutsbekämpfung zutrifft, steht im Mittelpunkt eines Großteils der phi-losophischen Debatte um Singers Aufsatz. Liam Mur-phy (1993) und Richard Miller (2004) haben Singer in diesem Punkt kritisiert. Auch Samuel Schefflers Ein-führung eines »agent-centered prerogative«, der Ak-teur*innen vor allzu großen Forderungen der Moral beschützt, kann als Reaktion auf Singers Thesen ver-standen werden (Scheffler 1994). Murphy kritisiert primär, dass der Utilitarismus unplausible Aussagen in Situationen treffe, in denen nicht alle Akteur*innen ihrer Pflicht nachkommen. Wenn außer mir niemand an die Armutshilfe spendet, muss ich laut Utilitaris-mus viel mehr geben, als ich hätte geben müssen, wenn jeder das getan hätte, was laut Utilitarismus ei-gentlich verlangt ist. Dieses Anwachsen der Pflichten unter nicht-idealen Umständen ist typisch für den

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Utilitarismus: ausbleibende Hilfsleistungen anderer erhöhen den Umfang der eigenen Hilfspflichten.

Neuntens, es ist denkbar, dass die Leben mancher armen Menschen auf einem hohen Wohlergehens-niveau gelebt werden. Man denke hier z. B. an manche Naturvölker, die gemäß der meisten Armutskonzep-tionen als extrem arm gelten, deren Mitglieder aber gleichzeitig Leben führen, welche eine gute Bilanz aus positivem und negativem Wohlergehen aufweisen.

Auch Fälle selbstgewählter Armut können in diese Ka-tegorie fallen. Utilitarist*innen werden typischerweise keine starken Gründe sehen, solchen Menschen aus ihrer Armut herauszuhelfen. Armut ist für den Utilita-rismus nur dann ein moralisches Problem, wenn sie geeignet ist, die Nutzenbilanz suboptimal ausfallen zu lassen. Geht sie mit einem vergleichsweise hohen indi-viduellen Wohlergehen einher, wird dies eher nicht der Fall sein. Dies bedeutet, erstens, dass Utilitarist*in-nen besonders interessiert an empirischen Studien zum Wohlergehen armer Menschen sein müssen, um informierte Handlungsanweisungen abgeben zu kön-nen. Und, zweitens, dass die utilitaristische Perspekti-ve vom Vorwurf eines paternalistischen Blickes auf Ar-mut, der das Selbstempfinden der vermeintlich Armen nicht ernst nimmt, freizusprechen ist.

21.3 Weitere Formen des Utilitarismus