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Unter »globaler Armut« wird das Phänomen verstan-den, dass Teile der Weltbevölkerung über so wenig Res-sourcen verfügen, dass sie ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können. In der Debatte um globale Armut wird gefragt, wer in globaler Perspektive arm ist; welche Ursachen und welche Folgen diese Armut hat; warum und wie sie bekämpft werden sollte. Die glo-bale Perspektive gibt dabei in drei Hinsichten vor, wie der Armutsbegriff in diesem Kontext zu verstehen ist, und diese drei begrifflichen Festlegungen prägen die gesamte Debatte um das Phänomen globaler Armut.

Erstens ist im Kontext globaler Armut nur ein ab-soluter Armutsbegriff relevant: Arm ist, wessen Res-sourcen unter ein bestimmtes Mindestmaß fallen. Re-lative Armutsbegriffe definieren Armut dagegen rela-tiv zu bestimmten Gesellschaften und bestimmten Zeitpunkten. Es wäre theoretisch denkbar, auf globa-ler Ebene einen Armutsbegriff zu verwenden, der rela-tiv zu den weltweit an einem bestimmten Zeitpunkt durchschnittlich zur Verfügung stehenden Ressour-cen definiert ist. Eine solche Definition ließe aber zu, dass Personen als arm bezeichnet werden, die weder unterhalb einer festen Mindestlinie leben, noch inner-halb der Gesellschaft, in der sie leben, als arm angese-hen werden, und trifft deshalb nicht, was gewöhnlich unter Armut verstanden wird.

Zweitens wird der Maßstab, welcher globale Armut definiert, zumindest gegenwärtig sehr niedrig ange-setzt. Wer sich mit dem Armutsproblem in globaler Perspektive befasst, sieht sich mit gewaltigen Dimen-sionen von Armut konfrontiert: Es gibt sehr viele Menschen, die mit sehr wenig Ressourcen auskom-men müssen. Um innerhalb dieser großen Gruppe diejenigen herauszugreifen, deren Situation beson-ders prekär ist, hat sich in der Debatte zur globalen Armut vor allem der Blick auf die sog. »extreme Ar-mut« durchgesetzt. Menschen, die in extremer Armut leben, werden selbst aufgrund der Maßstäbe der ärms-ten Gesellschafärms-ten als arm bezeichnet; u. a. können sie mit ihren Ressourcen den normalen Kalorienbedarf eines Menschen nicht decken. Es könnte passieren, dass in der näheren Zukunft extreme Armut keine große Rolle mehr spielt. Das hieße dann aber nicht, dass der Kampf gegen Armut gewonnen wäre, son-dern nur, dass weniger schwere Fälle von Armut stär-ker in den Blick genommen werden müssten.

Drittens zwingt die globale Perspektive zur Etablie-rung eines länderübergreifenden und damit stark ver-einfachenden Maßstabs. Wenn wir wissen wollen, in

welcher Weltregion Armut besonders verbreitet ist, müssen die Lebensverhältnisse von Menschen ganz unterschiedlicher Länder und Kontinente miteinan-der verglichen werden – etwa die Lebensverhältnisse eines Indigenen in der Amazonasregion mit denen ei-ner Bewohei-nerin eines Slums in einem Vorort von Accra. Die quantitative Armutsforschung muss also einerseits den verschiedenen Ausprägungen von Ar-mut in so unterschiedlichen Kontexten gerecht wer-den und andererseits handhabbare Definitionen gene-rieren, die Armut mit messbaren Einheiten vergleich-bar machen. Etabliert hat sich, als grundlegenden Maßstab einen monetären Gegenwert des täglichen Konsums einer Person heranzuziehen und zusätzlich weitere Dimensionen von Armut wie etwa Zugang zu sauberem Wasser zu erheben.

Die folgende Übersicht setzt beim Problem der Messbarkeit von globaler Armut ein (6.1), fasst dann zentrale Resultate empirischer Forschung zusammen (6.2), erörtert zentrale Thesen über die Ursachen glo-baler Armut und über die Wege der Armutsbekämp-fung (6.3), thematisiert anschließend die philosophi-sche Debatte zur globalen Armut (6.4.) und geht zuletzt auf die Kritik am Diskurs über globale Armut ein (6.5).

6.1 Globale Armut messen

Seit 1981 veröffentlicht die Weltbank Daten zur globa-len Armut, die als die wichtigste Grundlage des aka-demischen und politischen Diskurses gelten. Die Da-ten basieren teils auf Umfragen, die von nationalen Behörden erhoben werden und deshalb keinem ein-heitlichen Standard folgen, und teils auf methodisch kontrollierten Schätzungen.

Die wirkmächtigsten Kennzahlen der Weltbank sind die Daten zur sog. »Internationalen Armutslinie«.

Wessen Ressourcen unterhalb dieser Linie liegen, der gilt laut Weltbank als extrem arm. Die Internationale Armutslinie orientiert sich heute überwiegend am täg-lichen Konsum einer Person. Dies gilt als ein aussage-kräftiger und zugleich verhältnismäßig einfach zu handhabender Messwert für extreme Armut.

Die Weltbank rechnet den täglichen Konsum (bzw.

in einigen Ländern das tägliche Einkommen) einer Person in eine Dollar-Einheit um. Dabei wird sowohl die lokale Kaufkraft berücksichtigt (»Purchasing Power Parity« bzw. PPP), als auch die Inflation. Die Ar-mutslinie wird daher in PPP-angepassten und mit Jah-reszahl indizierten internationalen Dollar angegeben.

Es stellt sich natürlich die Frage, woran festge macht 6 Globale Armut

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021

Schweiger/Sedmak (Hg.), Handbuch Philosophie und Armut, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05739-6_6

werden kann, wie hoch die Armutslinie anzusetzen ist:

Wo ist die Grenze des täglichen Konsums, unterhalb derer man von extremer Armut sprechen sollte? 1990 führte die Weltbank die Ein-Dollar-Grenze als Inter-nationale Armutslinie ein. Seit der jüngsten Revision im Jahr 2015, die insbesondere Verfeinerungen bei der PPP-Anpassung vornahm, werden 1,90 internationale Dollar bei PPP-Preisen von 2011 als Armutslinie ver-wendet. Die Weltbank orientiert sich mit diesem Wert an den nationalen Armutslinien, die in 15 sehr armen Ländern verwendet werden. Hintergrund ist, dass man einen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen dem Reichtum eines Landes und der in diesem Land von den nationalen Behörden verwendeten Armutslinie erkennen kann: je reicher das Land, desto höher die Armutslinie. Dieser Zusammenhang fällt aber für die 15 ärmsten Länder, deren Armutslinien verglichen wurden, weg. Hier pendeln die Armutslinien un-abhängig von der relativen ökonomischen Entwick-lung dieser Länder um ein recht niedriges Maß. Dies wurde als Hinweis gesehen, dass sich hier eine Min-destlinie zeigt, die unabhängig von dem relativen Reichtum anderer Gesellschaftsmitglieder überall auf der Welt als extreme Armut angesehen wird.

Die Internationale Armutslinie setzt einen sehr niedrigen Standard; weniger als 1,90 Dollar am Tag kennzeichnet eine sehr schwere Armut (zum Ver-gleich: die nationale Armutslinie Deutschlands lag im Jahr 2018 für Alleinstehende bei 1035 Euro im Monat, also etwa 34 Dollar am Tag). Wenn in der Philosophie thematisiert wird, was Menschen mindestens brau-chen, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen oder ein würdiges Leben zu führen, dann lässt sich dies si-cherlich nur mit einem höheren Standard beantwor-ten. Dennoch ist die Internationale Armutslinie aus-sagekräftig, weil sie Entwicklungen innerhalb der Gruppe der sehr schlecht Gestellten sichtbar machen kann. Bei Verwendung einer höheren Linie würde es für die Zahl der Armen ja gar keinen Unterschied ma-chen, wenn viele Personen ihren Konsum von z. B. 1,60 Dollar auf 1,95 Dollar pro Tag steigern könnten.

Nichtsdestotrotz ist es wichtig, neben der Interna-tionalen Armutslinie weitere, höher liegende Armuts-linien zu erheben, denn das Erreichen der 1,90-Dol-lar-Grenze kann keinesfalls als das einzige politische Ziel angesehen werden. Daher ist es üblich, globale Daten auch bezüglich der Linien von 3,20 Dollar, 5,50 Dollar und 10 Dollar zu veröffentlichen.

Dass die Armutslinien auf Konsum bzw. Einkom-men fokussieren und dabei weitere DiEinkom-mensionen der Armut unberücksichtigt lassen, wird als gerechtfertigt

angesehen, weil im Falle extremer Armut die verschie-denen Dimensionen der Armut stark korrelieren. Den-noch gilt selbstverständlich, dass eine Steigerung des Konsums bei Weitem nicht alles ist, was für von Armut Betroffene wichtig ist. Wer seinen Konsum auf über 1,90 Dollar steigern kann, der hat noch nicht auto-matisch Zugang zu sauberem Wasser und weiteren ba-salen Gütern. Die Weltbank veröffentlicht daher auch Daten über andere Dimensionen der Armut, etwa über die Zahl der Personen, die keinen Zugang zu sauberem Wasser haben, oder über Kindersterblichkeitsraten und Lebenserwartungen. Weitere empirische Erhe-bungen mit einer explizit multidimensionalen Aus-richtung bietet die Oxford Poverty & Human Devel-opment Initiative mit dem sog. »Multidimensional Poverty Index«, in dem viele Dimensionen der Armut aggregiert werden. Für die empirische Forschung ein-flussreich geworden ist auch der von Amartya Sen und Martha Nussbaum entwickelte Capability Approach;

u. a. orientiert sich der »Human Development Index«

an dieser Theorie. Ihr zufolge ist entscheidend, dass Menschen über Fähigkeiten verfügen, ihre selbstge-wählten Lebenspläne frei zu verwirklichen. Diese Fä-higkeiten gehen über materielle Aspekte weit hinaus, umfassen insbesondere auch Bildungsabschlüsse.

Die Forschung zur globalen Armut stellt nur ei-nen Teilbereich der Forschung zu globalen Ungleich-heiten dar. UngleichUngleich-heiten bestehen unabhängig von einer Mindestlinie. Der Gini-Index gibt beispielswei-se an, wie viel Prozent der Bevölkerung der Welt oder eines Landes über wie viel Prozent des Einkom-mens verfügen. Dabei kann es durchaus gegenläufige Tendenzen zur Armutsentwicklung geben, d. h. dass eine Verringerung globaler Armut mit einer Verstär-kung globaler Ungleichheit einhergehen kann (Weiß 2017, 52–61).

Das Vorgehen der Weltbank, Armut zu messen, ist grundsätzlich als paternalistisch kritisiert worden (s. Abschnitt 6.5). Zugleich sind immer wieder auch konkrete Unschärfen benannt worden, etwa fehler-behaftete Währungsäquivalenzen oder die Gender-insensibilität von haushaltsbezogenen Erhebungen (Chant 2007; Munoz Boudet u. a. 2018). Einige Kriti-ker haben der Weltbank sogar die Absicht unterstellt, politisch erwünschte Ergebnisse durch Messmetho-den zu erzwingen (Pogge 2010; Wisor 2012). Mit der jüngsten Revision der Armutslinie von 2015 versucht die Weltbank, zumindest einigen der Kritikpunkte Rechnung zu tragen, so dass die in älterer Literatur ge-äußerte Kritik nicht eins zu eins auf die gegenwärtige Situation übertragen werden kann.

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6.2 Fakten und Entwicklungen

Anders als die Mehrzahl der Menschen in Industrie-nationen glaubt, ist die Zahl der Armen global gese-hen laut den vorhandenen Daten in den letzten Jahr-zehnten stark zurückgegangen (hervorragend auf-gearbeitet in Roser/Ortiz-Ospina 2019). Versucht man, die Zahl der Armen für die Zeit vor Beginn der Erhebung durch die Weltbank zu rekonstruieren, so ergibt sich folgendes Bild: Lebten 1820 etwa 94 % der Menschen in Armut, so waren es um 1900 noch 85 % und 1960 etwa 65 %. Laut den Daten der Weltbank lebten 1981 44 % der Weltbevölkerung in extremer Armut; 2015 waren es noch knapp 10 %.

Nicht nur der prozentuale Anteil der Armen an der Weltbevölkerung ist gesunken. Seit 1980 sinkt auch die absolute Zahl. Gab es 1980 knapp 2 Milliarden Men-schen in extremer Armut, so waren es 2015 noch 733 Millionen. Und nicht nur die Zahl der Menschen in ex-tremer Armut ist gesunken, sondern auch die Zahl der Menschen, die nach anderen Armutslinien als arm gel-ten, die also weniger als 3,20 bzw. weniger als 5,50 Dol-lar pro Tag konsumieren.

Der Rückgang betrifft die Weltregionen allerdings sehr unterschiedlich. Ein Großteil des Rückgangs glo-baler Armut ist auf die wirtschaftliche Entwicklung Asiens zurückzuführen. Dagegen ist die Zahl der ex-trem Armen in Subsahara-Afrika sogar leicht gestie-gen. Nach Prognosen der Weltbank wird dieser Trend auch das nächste Jahrzehnt prägen.

Ein Großteil der extrem Armen der Welt lebt – in Kontrast zu den Bildern globaler Armut, die in Indus-triestaaten verbreitet sind – auf dem Land. Armut konzentriert sich also keinesfalls auf die Slums von Großstädten; in der Regel gilt, dass extrem Arme ihre Lage verbessern, indem sie in Städte abwandern, auch wenn dort die Lebensbedingungen immer noch pre-kär sind. Weltweit sind Frauen von Armut stärker be-droht als Männer, und Armut hat auf sie massivere Auswirkungen als auf Männer, etwa bezogen auf Bil-dungsperspektiven und physische Sicherheit (Munoz Boudet u. a. 2018).

Interessant ist ein Seitenblick auf extreme Armut in hoch entwickelten Industrieländern. Die Weltbank legt in diesen Ländern das Einkommen (nicht den Kon-sum) zugrunde, um Statistiken zu generieren. Extreme Armut ist aus Europa und Nordamerika keinesfalls verschwunden; in den USA, Italien und Spanien liegt sie etwa bei einem Prozent der Bevölkerung. Betroffen sind hier Personen, die von den staatlichen Sozialpro-grammen nicht erreicht werden, also insbesondere

Personen, die sich ohne Aufenthaltserlaubnis in diesen Ländern aufhalten, oder die ohne festen Wohnort nur einen eingeschränkten Zugang zu Sozialleistungen ha-ben. Die Weltbank geht allerdings davon aus, dass die extrem Armen in hochentwickelten Industrieländern trotz des niedrigen Einkommens Güter im Wert von mehr als 1,90 Dollar pro Tag konsumieren, so dass sie in der Gesamtstatistik nicht mitgezählt werden.

Die Weltbank schätzte im Rahmen der letzten gro-ßen Datenerhebung im Jahr 2015, dass es 2030 auf der Welt immer noch 500 Millionen Menschen in extremer Armut geben wird – wobei unklar ist, wie sich die be-vorstehende Weltwirtschaftskrise infolge der Verbrei-tung des Coronavirus auf diese Zahl auswirken wird.

Wie auch immer, es handelt sich um eine Größenord-nung, die angesichts der Daten aus dem 20. Jahrhun-dert moderat erscheinen mag, die aber für sich be-trachtet ein ungeheuerliches Ausmaß beschreibt. In den Menschenrechtserklärungen sind individuelle Rechte auf Lebensbedingungen festgeschrieben, die eindeutig oberhalb der Internationalen Armutslinie liegen, und viele Industriestaaten haben sich verbind-lich dem Kampf gegen Armut angeschlossen, etwa mit den Sustainable Development Goals. Angesichts des-sen ist nachvollziehbar, dass die Fortexistenz extremer Armut von vielen Autor*innen als weltpolitisches Ver-sagen angesehen wird (Pogge 2008).

6.3 Ursachen von extremer Armut und Armutsbekämpfung

Zweifellos sind Lebensbedingungen auf dem Niveau von extremer Armut beim heutigen Entwicklungs-stand der Technik kein unvermeidliches Schicksal mehr, wie es in vorindustriellen Zeiten der Fall gewe-sen sein mag. Armut ist menschengemacht; und zwar in aller Regel nicht von den Armen selbst, sondern von sozialen Mechanismen, die auf lokalen, nationalen und globalen Ebenen ablaufen. Warum reproduziert sich Armut an bestimmten Orten bis heute, obwohl ausreichend Güter produziert werden könnten, um die Grundbedürfnisse aller Menschen zu befriedigen?

Selbstverständlich wird man keine einfache Ant-wort auf diese Frage finden. Es gibt offenbar nicht den einen Mechanismus, der Armut hervorruft, wie man-che Marxist*innen bis in die 1980er Jahre angenom-men haben. In der neueren Debatte werden eine Reihe von Faktoren diskutiert, deren Zusammenspiel die Fortexistenz von Armut erklären könnte.

Die direkte Ursache für extreme Armut ist in der 6 Globale Armut

Regel die schlechte ökonomische Lage einer Volks-wirtschaft bei gleichzeitigem Fehlen eines sozialen Si-cherungssystems. Das heißt, in den allermeisten Fäl-len tritt extreme Armut auf, weil es einem ganzen Land wirtschaftlich schlecht geht. In deutlich weniger Fällen gibt es extreme Armut innerhalb gut funktio-nierender Volkswirtschaften; in diesen Fällen wäre dann im Sinne der nationalen Armutsforschung nach Mechanismen der Exklusion und Unterdrückung zu fragen, die Armut hervorrufen.

Die schlechte ökonomische Lage einer Volkswirt-schaft ist also eine wesentliche Ursache von Armut, aber sie ist selbst wiederum eine Tatsache, die nach ei-ner Erklärung verlangt. Eine solche Erklärung könnte im sog. Matthäus-Effekt liegen. Diesem zufolge fällt es reichen Akteur*innen leicht, ihren Reichtum zu stei-gern (nach dem Matthäus-Diktum »wer hat, dem wird gegeben«); aber wer arm ist, hat gerade aufgrund sei-ner Armut keine Möglichkeit, seinen Lebensstandard zu erhören (Wade 2004; weltsystemtheoretisch zu ei-ner Ausbeutungsthese ausgearbeitet bei Amin 2010).

Die Reichweite dieses Effekts wird vor allem deshalb kritisch gesehen, weil sehr viele Staaten den Sprung von arm zu wohlhabend geschafft haben. Man muss also nach Faktoren suchen, die erklären, warum man-che Staaten diesen Sprung schaffen, andere aber nicht.

Entscheidend sind hierfür vor allem die politischen Bedingungen vor Ort. Politische Instabilität kann die ökonomische Entwicklung ebenso hemmen wie dik-tatorische oder korrupte Strukturen (zum Einfluss von Korruption vgl. etwa Negin/Abd-Rashid/Niko-pour 2010; zum Terrorismus vgl. Krueger/Maleckova 2003; zum Fehlen demokratischer Mitbestimmung vgl. Ross 2006). Zu Recht wird also darauf verwiesen, dass die Ursachen für Armut zum Teil insofern ›haus-gemacht‹ sind, als sie in den Merkmalen der Volks-wirtschaft, die von Armut betroffen ist, selbst liegen.

Allerdings kann man wiederum danach fragen, ob diese scheinbar heimischen Faktoren für Armut nicht wiederum auf externen Ursachen beruhen. Diskutiert wird insbesondere, welchen Einfluss die Kolonialisie-rung sowie Fehlentscheidungen im Prozess der Deko-lonialisierung auf die politischen Instabilitäten der Gegenwart und somit auf heutige Armut haben (En-germann/Sokoloff 2006). Die neuere Forschung ist bezüglich einer pauschalen Verursachungsthese aber skeptisch, nicht zuletzt weil sich einige ehemalige Ko-lonien ökonomisch sehr gut entwickelt haben (Collier 2008; Moyo 2009).

Eine große Rolle könnten aber auch zentrale Merk-male des Weltwirtschaftssystems spielen.

Wirkmäch-tige Thesen gehen dabei auf den Philosophen Thomas Pogge zurück (Pogge 2008). Er argumentiert, indem despotische Regimes auf dem internationalen Finanz- und Rohstoffmarkt als Handelspartner anerkannt werden, statten reiche Staaten diese Regimes mit fi-nanziellen Ressourcen aus, mit denen die Despot*in-nen ihre Macht dann zuungunsten ihrer Bevölkerung auf Dauer festigen können. Außerdem würden die WTO-Regeln die Interessen der reichen Staaten ge-genüber den Interessen der ärmeren deutlich bevor-zugen; das TRIPS-Abkommen schreibe etwa einen Standard für den Schutz geistigen Eigentums vor, der nur für hochentwickelte Volkswirtschaften Sinn er-gebe. Arme Länder müssten diese unfairen Bedingun-gen akzeptieren, um sich nicht ganz vom Welthandel abzukoppeln. Gegen Pogge ist allerdings eingewendet worden, dass die vorhandene sozialwissenschaftliche Forschung diese Zusammenhänge nicht klar verifizie-ren kann (Cohen 2010). – Neuerdings untersucht die Forschung auch Auswirkungen des Klimawandels auf extreme Armut, da zu erwarten ist, dass reiche Staaten die Folgen des Klimawandels deutlich besser abfedern können als arme Staaten (Hallegatte u. a. 2015).

Verbunden mit der Debatte um die Ursachen extre-mer Armut ist eine Kontroverse über die geeigneten Mittel, Armut auf globaler Ebene zu bekämpfen: Was kann – zusätzlich zu den je nationalen Anstrengungen der armen Staaten – von anderen Staaten und interna-tionalen Akteuren getan werden, um globale Armut einzudämmen? Oft kann die internationale Armuts-bekämpfung nicht direkt an den Faktoren ansetzen, die Armut wahrscheinlich machen, weil diese Fak-toren nicht künstlich von außen verändert werden können: Stabile politische Strukturen sind in der Regel nicht einfach herstellbar. Auch internationale Vor-gaben darüber, welche Wirtschaftspolitik arme Staaten betreiben sollten, gelten heute als wenig zielführend und ideologieverdächtig – insbesondere der sog. Wa-shington-Konsens aus den 1990er Jahren, der eine Marktliberalisierung in allen armen Staaten vorsah. Es bleiben im Wesentlichen drei (miteinander kom-binierbare) Wege, Armut einzudämmen: Entwick-lungshilfe; die Veränderung der globalen Handels-regeln; die Ermöglichung von Migration.

Der gegenwärtig überwiegend verfolgte Weg ist die Entwicklungshilfe. Darunter versteht man den Trans-fer von Finanzmitteln, Gütern und Technologien von wohlhabenden zu armen Staaten. Im Rahmen der Millenium Development Goals haben sich Industrie-staaten verpflichtet, 0,7 % ihres Bruttoinlandspro-dukts für Entwicklungshilfe zur Verfügung zu stellen,

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kaum ein Staat hat sich jedoch an diese Selbstver-pflichtung gehalten.

Ein bedeutendes Problem der Entwicklungshilfe ist, wie sie trotz politischer Instabilität und Korrupti-on überhaupt ihre Adressat*innen erreichen kann.

Weiterhin wird kritisiert, dass Entwicklungshilfe Ab-hängigkeiten schafft, anstatt Fähigkeiten zur Eigen-ständigkeit zu stimulieren. Prominent hat etwa Dam-bisa Moyo (2009) gefordert, Entwicklungshilfe kom-plett einzustellen und stattdessen faire Handelsbe-dingungen zu schaffen. Besonders problematisch wird Entwicklungshilfe, wenn sie an Gegenleistungen ge-knüpft wird, etwa an den Kauf von Technologie aus dem Geberland oder an eine menschenrechtsbedro-hende Migrationskontrolle. – In der Ökonomie sind

Weiterhin wird kritisiert, dass Entwicklungshilfe Ab-hängigkeiten schafft, anstatt Fähigkeiten zur Eigen-ständigkeit zu stimulieren. Prominent hat etwa Dam-bisa Moyo (2009) gefordert, Entwicklungshilfe kom-plett einzustellen und stattdessen faire Handelsbe-dingungen zu schaffen. Besonders problematisch wird Entwicklungshilfe, wenn sie an Gegenleistungen ge-knüpft wird, etwa an den Kauf von Technologie aus dem Geberland oder an eine menschenrechtsbedro-hende Migrationskontrolle. – In der Ökonomie sind