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Franziskanische Spiritualität und Ethik der Armut

alterlichen Philosophie

11.5 Franziskanische Spiritualität und Ethik der Armut

Rodney Stark macht darauf aufmerksam, dass am Ur-sprung eines ethisch gebändigten Kapitalismus, wie er durch die Predigten der frühen Franziskaner begann, schon im 9. Jahrhundert das augustinisch und bene-diktinisch inspirierte Mönchtum und damit schon die augustinische Theologie steht:

»Augustine also ruled that price was a function not simply of the seller’s costs, but also of the buyer’s

desi-re for the item sold. In this way, Augustine gave legiti-macy not merely to merchants but to the eventual deep involvement of the church in the birth of capita-lism when its earliest forms began to appear in about the ninth century on the great estates belonging to the monastic orders« (Stark 2006, 58).

Und er verweist auf die norditalienische Armutsbewe-gung der Humiliati:

»The rise of industrial capitalism in northern Italy was accompanied by the spread of an intensely ascetic, proto-Puritan religious movement, of the Humiliati – Latin for: the humbled ones« (ebd., 121).

Diese ethische Formatierung des beginnenden Kapi-talismus und damit überhaupt eine beginnende So-zialethik war aber wesentlich auch eine Leistung der franziskanischen Armutsbewegung und deren Spi-ritualität, die von Anfang an im öffentlichen Raum der Politik agierte. Giacomo Todeschini hat ausführ-liche Untersuchungen zum Zusammenhang von franziskanischer Armutsbewegung und entstehender Sozialethik im Raum des italienischen Frühkapitalis-mus vorgelegt: »I francescani giunsero dunque a oc-cuparsi di politica« (Todeschini 2004). Dabei sind zwei christliche Grundgedanken leitend: Einerseits ist es der Gedanke des Handelns Gottes in der Ge-schichte, der schon dominant bei Augustinus begeg-net und nun in der Geschichtstheologie des Bonaven-tura, mit mächtigem Einfluss auf die sich entfaltende Spiritualität und Theologie der franziskanischen Be-wegung und in einem Strom augustinischer Mystik stehend (McGinn 1999, 145), breite Entfaltung findet, und zwar im Zeichen einer veränderten Eschatologie und Endzeiterwartung. Diese neue Art der Eschato-logie »bringt das im ursprünglich franziskanischen Bewusstsein angelegte Empfinden der Nähe des En-des zum wirklichen Durchbruch«; hier werden Ar-mutsbewegung und Eschatologie verknüpft, denn »in der letzten Zeit, habe Gott Männer gesandt, die frei-willig Bettler seien und arm an irdischen Dingen. Sie seien gegen die Habsucht geschickt, die am Ende der Welt zu ihrer größten Macht gelange« (Ratzinger 2009, 574; Lehmann 2011, 116–151). Erst mit dieser Verknüpfung aber gelingt dann auch ein echter Durchbruch zur Sozialethik umfassender Gerechtig-keit, wie sie sich nun in der franziskanischen Fröm-migkeit und in den franziskanischen Predigern (u. a.

Berthold von Regensburg, David von Augsburg, Bernhardin von Siena) breit in ganz Europa entfaltet.

II Armut in der Geschichte der Philosophie

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Wenn Christus nicht einfach das Ende der Zeit ist, das nun in Weltflucht abgewartet werden muss, sondern wenn er die Wende der Zeit zum Besseren und zum Guten ist, dann bricht die Stunde der Ethik als Bewe-gung zum Besseren, zur Nachfolge des armen und lei-denden Christus an: Hinwendung zum Armen und als Konsequenz daraus eine Verbesserung der Le-bensverhältnisse ist nun das Gebot der Stunde. Dies bündelt sich in der franziskanischen Geschichtstheo-logie bei Bonaventura, die in der Konsequenz augus-tinischer Geschichtstheologie steht:

»Zur selben Zeit, zu der in Bonaventura aus der Logik seines eigenen Denkens die Vorstellung von Christus als der Zeiten Mitte reift und so die andere von Chris-tus als der Zeiten Ende abgetan wird, zu dieser glei-chen Zeit entsteht in Bonaventura das Bewusstsein

»Das Ende ist jetzt wirklich nahe« anstelle der bisheri-gen akademischen Indifferenz gebisheri-genüber dem Zeit-punkt des Endes« (Ratzinger 2009, 585).

Mit Blick auf die aufblühende Ökonomie heißt das:

»Le merci dovranno trasmutarsi in strumenti di con-versione« (Todeschini 2004, 59): die Märkte sollen nicht verlassen, sondern in Instrumente der Bekeh-rung und der VerbesseBekeh-rung der Welt in Überwindung menschenverachtender Armut verwandelt werden, durch Individuen, die der Wiederkunft Christi ent-gegensehen im Bewusstsein, Christus sei schon in der Geschichte in Armut und Leiden gekommen und komme entgegen in Gestalt jedes Armen und Notlei-denden, um so ethische Motivation zu wecken. Arm in der eigenen Lebensgeschichte Christus entgegen gehen heißt in dieser Perspektive, dem notleidenden und armen Mitmenschen zu begegnen, sein Los zu verbessern und für gerechte Strukturen des Zusam-menlebens zu sorgen im Rahmen der eigenen Mög-lichkeiten, um so Christus zu begegnen und seine Wiederkunft vorzubereiten. Ethik vollzieht sich im Angesicht der Ewigkeit, oder anders: Existenzialethik entfaltet sich im Horizont der Eschatologie – jetzt und hier ist die letzte Stunde des Handelns! Am Ende des frühen Mittelalters, nach der einflussreichen Be-wegung der Waldenser ab 1176 und mit dem Tod des hl. Franziskus 1226 beginnt die Institutionenethik mit dem Ziel der Überwindung unfreiwilliger Not und Armut:

»Man bemühte sich jetzt nämlich um die Schaffung von Fürsorgeeinrichtungen zugunsten der Bedürfti-gen, weil man begann, die Armut als soziales Problem

und nicht mehr als von der Vorsehung verhängtes Ge-schick zu betrachten« (Flood 1979, 88–98, hier 92).

Das Ende der Welt steht nicht mehr wie bei der welt-flüchtigen monastischen Ethik vor Augen, sondern die Vollendung der Welt durch menschliches Han-deln. So entstehen die ersten »montes pietatis« als ge-nossenschaftliche Sparkassen und Pfandhäuser, die das Kapital der Reichen den Armen zugute kommen lassen. Die Verbindung von Gott und Mensch, von Gnade und Natur muss sich fortsetzen in einer akti-ven Ethik des Alltags zugunsten der Armen. In fran-ziskanischer Sprache heißt das: Vermählung mit der Armut Gottes, um geistlich und ethisch reich zu wer-den; so wurde auch die Vermählung des hl. Franzis-kus mit der Herrin Armut verstanden (Marini/Barto-li 2003; Eßer/Grau 1966; Brufani 1992, 205–222).

Hinwendung zum Armen in der Nachfolge des ar-men Christus: Das ist, kurz gefasst das ethische Pro-gramm der franziskanischen Armutsbewegung, das sich nun entfaltet. So wird der doppelte Weg der frei-willigen Armut und des Teilens zu einer breiten Stra-ße der Sozialethik im Zeichen der Solidarität und der Absicherung gegen existentielle Not. Dies beginnt in den ersten beiden Jahrhunderten der franziska-nischen Bewegung (Meier/Nebgen 2010, 457–474) und setzt sich fort in der Ausarbeitung einer systema-tischen christlichen Sozialethik im 19. und 20. Jahr-hundert und bis zur Enzyklika Caritas in veritate von Papst Benedikt XVI., die sich bemerkbar aus der frü-hen franziskaniscfrü-hen Theologie speist (Zamagni 2010, 81–109). Der grundlegende Anstoß bleibt gleich, und die Ausfaltung aktualisiert sich: So geht der Weg vom Innen der empfundenen Armut und Liebe Christi zum Außen einer Institutionenethik, die Mitleid in Solidarität überführt (Lienemann 1989, 45–67). Dieser Weg einer entwickelten christlichen Sozialethik ist ohne die Gestalt des hl. Franziskus und ohne die franziskanische Theologie und Spiritualität mit dem zentralen Bild der Krippe, die Franziskus erstmals zu Weihnachten 1223 in Greccio im Rietital aufbaut, und in deren äußerer Armut sich der Reich-tum Gottes verbirgt, überhaupt nicht denkbar. Diese Überzeugung beseelt die franziskanische Armuts-bewegung, die weit mehr ist als einfach nur eine Sozi-albewegung, und die sich speist aus dem Nachdenken der frühen Kirchenväter über Armut und Demut als Grundtugenden:

»Die Armut wird geradezu in den Rang einer entschei-denden Heilsbedingung erhoben. Dies kann nicht

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ne Folgen für die Wertschätzung moralischen Han-delns sein« (Schröder 2011, 199).

Franziskus vollendet in dieser Sicht Augustinus, die tatkräftige Sorge um den Armen erbaut die civitas Dei, das neue und himmlische Jerusalem. Denn, wie schon Olivi in seiner Lectura in Apokalypsin darlegt, kommt

»franziskanischer Armut heilsgeschichtliche Bedeu-tung für die Heraufführung der Gemeinschaft der himmlischen Stadt zu« (Flood 1979, 95). Denn diese Gemeinschaft gibt es nur, wenn jeder Mensch seine Armut im Angesicht des Reichtums des anderen Men-schen und im Angesicht des Reichtums Gottes spürt und sich sehnt nach diesem Reichtum – als Gnade und Geschenk, nicht als Leistung und Werk.

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Peter Schallenberg

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