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auf, wenn die schlimmste Not überwunden ist. Viel-mehr gebe es eine weitergehende Unterstützungs-pflicht, solange der/die Begünstigte mit den überge-benen Ressourcen viel an Lebensqualität gewinnt, der/die Verpflichtete aber nur marginal verliert.

Zahlreiche Theorieansätze verfolgen das Ziel nach-zuweisen, dass nicht nur eine Hilfspflicht, sondern da-rüber hinaus eine Gerechtigkeitspflicht besteht, globa-le Armut zu bekämpfen. Dass nationagloba-le Armut nicht nur eine Frage von Hilfspflichten ist, sondern mit der Gerechtigkeit einer Gesellschaft zu tun hat, ist heute breit anerkannt; im Fall globaler Armut ist die Debatte dagegen weniger eindeutig.

Es liegt auf der Hand, dass eine Gerechtigkeits-pflicht vorliegen würde, wenn die wohlhabenden Staa-ten die extreme Armut verursacht haben. Laut Pogge (2008) trifft dies zu und die Industriestaaten sind ent-sprechend zu Kompensationsleistungen verpflichtet.

Diese Argumentation setzt allerdings eine angemesse-ne Deutung der empirischen Sachverhalte voraus, die in Abschnitt 6.3 angesprochen wurden.

Oft wird jedoch auch ohne eine Verursachungsthe-se verteidigt, dass eine Gerechtigkeitspflicht zur Be-kämpfung globaler Armut existiert. In Anlehnung an klassische Argumente für das Vorliegen von Gerech-tigkeitspflichten innerhalb von Staaten kann man et-wa argumentieren: Die internationale Staatenordnung als Ganzes übt politische Herrschaft aus und muss da-her ihre Legitimität allen Menschen der Welt gegen-über rechtfertigen. Solange die Geburt aber entschei-det, ob jemand gute oder schlechte Lebensperspekti-ven hat – Ayelez Shachar spricht wirkmächtig von der

»birthright lottery« – ist die Staatenordnung ungerecht und hat insofern ein Legitimationsdefizit, das aus-zuräumen ist.

Charles Beitz (1979) argumentiert weiterhin, dass über den globalen Handel alle Menschen weltweit als Kooperationsgemeinschaft anzusehen seien und da-her allen Menschen ein fairer Anteil an den weltweit produzierten Gütern zukomme. Nach Beitz sollten deshalb global die gleichen Gerechtigkeitsmaßstäbe gelten, wie wir sie aus dem innerstaatlichen Bereich kennen – Beitz überträgt den »Zweiten Grundsatz«

von John Rawls auf eine weltweite Ebene: Ökonomi-sche Ungleichheiten seien nur dann legitim, wenn sie den global am schlechtesten Gestellten nutzen und je-der eine faire Chance hat, eine je-der bessergestellten Po-sitionen zu erreichen.

Ein weiterer gerechtigkeitstheoretischer Ansatz nimmt natürliche Ressourcen in den Blick. Alle Men-schen haben demnach ein Recht auf einen Anteil an

natürlichen Ressourcen wie Erdöl oder bewohnbarem Boden. Sofern die Welt so organisiert ist, dass Men-schen diese Ressourcen nicht direkt nutzen können, steht ihnen eine finanzielle Kompensation zu (Risse 2012). Bei Pogge und Hillel Steiner wird dies zu Vor-schlägen weitergeführt, zugunsten der von Armut Be-troffenen internationale Fonds einzurichten, die aus Steuern für die Rohstoff- bzw. Bodennutzung gespeist werden (Pogge 2008, Kap. 8; Steiner 2000).

Gerechtigkeitstheoretische Ansätze verlangen über-wiegend auch jenseits von extremer Armut nach Um-verteilungen – der faire Anteil an den erwirtschafteten Gütern oder an natürlichen Ressourcen ist möglicher-weise erst weit oberhalb der Armutsgrenze erreicht. Ei-nige Varianten sind allerdings »suffizientaristisch« aus-gerichtet, d. h. eine Güterverteilung kann ihnen zufol-ge nur dann als zufol-gerecht zufol-gelten, wenn alle Menschen ih-re Grundbedürfnisse erfüllen können. So findet sich bei vielen Autor*innen, etwa auch bei Pogge und Ma-thias Risse, die These, dass die Befriedigung von Grundbedürfnissen ein Mindeststandard für eine legi-time Weltordnung oder die gerechte Verteilung natür-licher Ressourcen darstellt. Wie festgelegt werden kann, wann eine Befriedigung der Grundbedürfnisse erreicht ist, führt allerdings auf Schwierigkeiten zu-rück, wie sie oben in Abschnitt 6.1 angeklungen sind.

Sofern in irgendeiner Form das Vorliegen einer Pflicht zur Bekämpfung von Armut angenommen wird, stellt sich im globalen Kontext in besonderer Wei-se das Problem, wer genau Träger*in der Pflicht ist. Im Fall nationaler Armut gibt es einen klaren Verantwor-tungsträger, nämlich den Staat. Im Kontext globaler Armut gibt es dagegen eine Pluralität an Staaten sowie weitere Pflichtträger*innen, etwa Individuen, Konzer-ne, internationale Organisationen etc. Strittig sind hier nicht nur die Kriterien, die eine gerechte Verteilung der Pflichterfüllung auf alle verpflichteten Akteur*innen festlegen, sondern insbesondere die Frage, wie damit umzugehen ist, wenn einige Akteur*innen ihre Pflicht nicht erfüllen: Müssen dann die verbleibenden Ak-teur*innen des Kollektivs einspringen und deren Anteil mitübernehmen?

6.5 Kritik an der dominanten Debatte um globale Armut

Sowohl der öffentlichen Debatte um globale Armut als auch dem Mainstream innerhalb der Philosophie wird seit längerem von Autor*innen, die sich dem Postkolo-nialismus und der Sozialphilosophie zuordnen,

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sis entgegengebracht (aufgearbeitet in Dübgen 2014).

Die Bedenken zielen dabei erstens auf den Gehalt zen-traler Prämissen der Debatte; zweitens auf die Art und Weise, wie die Debatte geführt wird; und drittens auf Rückwirkungen, die akademische und öffentliche De-batten auf die Wahrnehmung von Problemlagen und letztlich auch auf die Fortexistenz solcher Problem-lagen haben.

Auf der ersten Ebene, der Ebene von zentralen Prä-missen der Armutsdebatte, geht es insbesondere um die Frage, ob die geläufigen Definitionen des Armuts-begriffs – und des in der öffentlichen Debatte nicht minder wichtigen Begriffs der Entwicklung, der oft in Maßstäben der kapitalistischen Ökonomie gefasst wird – tatsächlich als objektive Maßstäbe mit normati-ver Relevanz herangezogen werden können. Den Kri-tiker*innen zufolge handelt es sich nämlich um Defini-tionen, die ihre Bedeutung aus der historischen Erfah-rung und der ökonomischen Situation des Westens bzw. der nördlichen Erdhalbkugel gewonnen haben und dann den übrigen Kulturkreisen der Erde ›überge-stülpt‹ wurden. Was für menschliches Leben erstre-benswert sei, könne nicht aus der paternalistischen Perspektive der Industriestaaten beantwortet werden, sondern sei Gegenstand von Diskursen der je einzel-nen Kulturen. Entsprechend könne nicht international festgelegt werden, nach welchen Kriterien jemand arm und damit hilfsbedürftig ist. Verbunden mit der Ab-lehnung von objektiven Armutsmaßstäben ist oft die Forderung, nicht die Beseitigung von Hunger und Not, sondern eine Stärkung der politischen Einflussmög-lichkeiten (»Empowerment«) der global Benachteilig-ten sollte das Ziel internationaler Politik sein, damit diese selbst normative Maßstäbe einfordern können.

Die Weltbank hat im Laufe der Zeit immer wieder auf diese Kritik reagiert. Indem etwa statt dem tägli-chen Einkommen einer Person später der tägliche Konsum in den Vordergrund gestellt wurde, gelten Völker, die Subsistenzwirtschaft betreiben, nicht mehr von vornherein als arm. Es bleibt eine offene Debatte, inwieweit das zugrundliegende Problem mit solchen Anpassungen behoben werden kann.

Das Empowerment der von Armut Betroffenen verweist bereits auf die zweite Ebene: die Art und Wei-se, in der der Diskurs geführt wird. Der zentrale Kri-tikpunkt besagt, dass – in Fortführung von kolonialen Herrschaftsstrukturen – in Industriestaaten über Ar-me diskutiert wird, ohne dass diese dabei als Diskus-sionspartner*innen auf Augenhöhe angesehen wer-den. Dies komme einer »Objektivierung« der Armen gleich, deren eigene Perspektiven und Handlungen

aus dem Blick gerieten. Nötig sei daher die stärkere Einbeziehung etwa von nicht-westlichen Perspektiven sowie ein Konzept der Solidarität, das nicht auf einer asymmetrischen Relation der verdienstvollen Hilfe-leistenden einerseits und der passiven, bemitleidens-werten Empfänger*innen andererseits beruhe.

Auf der dritten Ebene, der Ebene von Auswirkun-gen des Diskurses um globale Armut, wird u. a. be-fürchtet, dass die Konzentration auf den Gedanken der Nothilfe das Thema globaler Gerechtigkeit depoli-tisiere (Kapoor 2008). Entwicklungshilfe diene ent-sprechend als Legitimation für weitere Ungerechtig-keiten, die hinter den Bemühungen der Industriestaa-ten im Kampf gegen extreme Armut unsichtbar zu werden drohen. Insbesondere wenn Armutsbekämp-fung im Paradigma der Hilfspflicht diskutiert werde, könne der scheinbare moralische Verdienst der leistenden den Blick darauf verstellen, dass die Hilfe-leistenden selbst die Armut mitverursacht haben.

Auch für die global Benachteiligten selbst habe der Armutsdiskurs Auswirkungen, weil diese ihre eigene Situation zunehmend in Konzepten der Industriestaa-ten bewerIndustriestaa-ten. Nicht zuletzt verschleiere der Diskurs aber auch, dass Industriestaaten einen Lebensstan-dard bieten, der nicht für alle Menschen erreicht wer-den könne, ohne gravierende ökologische Risiken in Kauf zu nehmen (Dübgen 2014, 79–80).

Dass globale Armut ein bedeutendes Problem dar-stellt, wird also von niemandem ernsthaft bestritten.

Wie über dieses Problem debattiert werden sollte, wo-rin es besteht, welche Ursachen es hat und was da-gegen getan werden sollte, bleibt in der Philosophie und den angrenzenden Wissenschaften eine offene Debatte.

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Matthias Hoesch

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