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III Armut in philosophischen Traditionen

23 Libertarismus und Armut

Die englische Wikipedia erklärt ihn als »a collection of political philosophies and movements that uphold li-berty as a core principle.« Doch diese Beschreibung trifft auch auf den Liberalismus zu. Den Libertarismus unterscheidet vom Liberalismus etwas, das ihn öffent-lichkeitswirksam und in den USA zu einer politischen Partei machte. Er entstand als eine Antwort auf die Kapitalismuskritik in der zweiten Hälfte des 20. Jahr-hunderts. Nozick, wie der Titel seines libertären Klas-sikers (1974) anzeigt, verband die anarchistischen Ele-mente des Liberalismus zu einem Gegenentwurf zu Rawls’ Gerechtigkeitstheorie (1971), die eine sozialde-mokratische Kapitalismuskritik implizierte. Nozicks kapitalismusfreundlichen Entwurf nutzten das Cato Institute und andere Rechtslibertäre zur Legitimie-rung von Ungleichheit (Quiggin 2019 und Quiggins Blog »Crooked Timber«). Eine alternative Antwort auf die Kapitalismuskritik gab der Linkslibertarismus (Vallentyne/Steiner 2000), zu dem sich in Interviews gesellschaftskritische Autor*innen wie Murray Book-chin und Noam Chomsky bekannten und Öko-nom*innen wie Quiggin und Basu (vgl. Basu 2011, 137) nahe stehen. Dennoch gilt Nozick zu recht als ei-ne Autorität für den gesamten Libertarismus.

Anders als frühere Kapitalismusverteidiger*innen (Hayek 1944; Mises 1920) stützte Nozick seine Vertei-digung auf die normative Annahme natürlicher Rechte der Individuen (1974, ix). Diese Begründung verschob das Erkenntnisinteresse in der Ökonomie weg von ma-thematischen Modellen von Marktgleichgewichten zur Analyse von Reichtum und Armut und zu einer bewusst normativen Ökonomie (Basu 2011) und in der Philosophie weg von Begriffsbeschreibungen zur Analyse letzter Lebensziele und einer bewusst norma-tiven Metaphysik (Steinvorth 2017; 2020).

In Deutschland stieß der Libertarismus auf Des-interesse. Hier folgte die Kapitalismuskritik den neo-marxistischen Ideen Adornos, der am Kapitalismus die Kultur, nicht die Wirtschaft kritisierte, und die Kritik dieser Kritik folgte Popper, der sich auf das Ide-al der offenen Gesellschaft stützte, das er wissen-schaftstheoretisch, weder ökonomisch noch normativ begründete. Heute haben Adorno und Popper ihre Rolle in der Kapitalismuskritik verloren, während der Kapitalismus weiter als verantwortlich für die wach-sende Kluft zwischen arm und reich gilt (zu den be-schämenden Zahlen dieser Kluft, Basu 2011, 3–4, 158). Da der Libertarismus die wichtigste Armuts-ursache nicht in ökonomischen, sondern politischen

Strukturen findet und die Armutsfrage nach wie vor aktuell ist, ist auch der Libertarismus aktuell.

Das deutsche Desinteresse am Libertarismus wur-de durch wur-dessen Rückgriff auf individuelle Rechte als Grundlage einer zugleich ökonomischen und phi-losophischen Theorie verstärkt. Der Rückgriff impli-ziert eine metaphysische Theorie, die Nozick, wie er hervorhob (1974, xiv), nicht begründete. Er tat es erst 1981 mit einer Theorie, die den freien Willen als unvereinbar mit dem Determinismus erklärte, dem heute vorherrschenden »Kompatibilismus« wi-dersprechend. Nozicks Metaphysik schien vielen deutschen Theoretiker*innen verdächtig und in der Ökonomie überflüssig.

Gegen die Irrelevanz der Metaphysik in der Öko-nomie spricht jedoch, dass für eine Preistheorie der Begriff der Opportunitätskosten zentral ist. Dieser, definiert als »what you must give up to get it« (Quiggin 2019, 15), unterstellt ein Vermögen, frei zwischen Al-ternativen zu wählen. Das Vermögen, »alternate pos-sibilities« zu folgen (d. h. anders zu handeln als man handelt), gilt den meisten Philosoph*innen als freier Wille (Frankfurt 1988; Steinvorth 2020, sec. 1 und 8).

Ob der Wille frei ist, diese metaphysische Frage ist auch für die Ökonomie relevant, zumal sie oft erklärt, der Freiheit durch einen die Vertragsfreiheit ermögli-chenden Markt zu dienen, Vertragsfreiheit aber Be-dingungen verlangt, die historisch selten erfüllt waren (Basu 2011, 3–4, 133, 205).

Die politische Relevanz seiner libertären Willens-metaphysik zeigt sich in Nozick (1974) darin, dass er mit ihr für globale Rahmenbedingungen für verschie-denste politische Assoziationen argumentiert, die

»thrill the heart or inspire people to struggle or sacrifi-ce« (ebd., 297). Die deutsche Wikipedia irrt daher, wenn sie erklärt, der Libertarismus halte »an einer Idee der negativen Handlungsfreiheit als Leitnorm fest«. Nozick folgt einem positiv bestimmten Frei-heitsbegriff, nach dem zur Freiheit gehört, dass der Mensch ändern kann, was man als gottgegeben hin-nahm, und sollte, wenn es seine Freiheit sichert.

Die rechtstheoretische Relevanz der libertären Me-taphysik zeigt sich in den Konsequenzen, die Libertäre aus ihrer Prämisse individueller Rechte ableiten. »In-dividuals have rights, and there are things no person or group may do to them (without violating their rights)«, wie Nozick seine Rawlskritik eröffnet, um fortzufahren: »So strong and far-reaching are these rights that they raise the question of what, if anything, the state and its officials may do« (ebd., ix). Die Liber-tären geben individuellen Rechten deshalb so viel III Armut in philosophischen Traditionen

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021

Schweiger/Sedmak (Hg.), Handbuch Philosophie und Armut, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05739-6_23

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Gewicht, weil sie die Freiheit als ein menschliches Grundvermögen verstehen. Die Stoiker fanden in unsrer Fähigkeit, einen Gedanken nicht nur zu verste-hen (katalêpsis), sondern ihn als wahr anzuerkennen oder als falsch zurückzuweisen (sunkatathesis), das Selbst, das auch Zeus nicht brechen kann (Epictetus, Discourses I 1, 1904, 3). Diese naturgegebene, auch für die moderne Biologie akzeptable Fähigkeit schien den Stoikern und den ihnen folgenden Anhänger*in-nen des Naturrechts Grund genug, jedem Menschen das Recht auf ihre Betätigung zuzuschreiben, das Grundrecht auf individuelle Selbstbestimmung.

Nozick (1981) folgte nicht den Stoikern, aber grün-dete wie sie die allen Staatsrechten vorausgehenden Menschenrechte auf den freien Willen und maß das positive Recht an ihnen. Damit trug er zur Kritik des Rechtspositivismus bei. In Europa verlor das Natur-recht nach den Religionskriegen des 16. und 17. Jahr-hunderts seine politische Bedeutung. Denn die Religi-on, die bisher mit ihrem Naturrecht als Interpretin von Recht und Gerechtigkeit galt, war zur Quelle von Krie-gen geworden, die nur RegierunKrie-gen verhindern konn-ten, die unabhängig von einer zentralen Religions-gewalt Recht setzen konnten. Diesem Bedürfnis ent-sprechend entwickelten Bodin (1606 [1576]) und Hob-bes (1968 [1651]) politische Theorien, die als Recht nur anerkannten, was eine Regierungsgewalt durchsetzen konnte. Diese war absolut in dem Sinn, dass der Souve-rän Recht erst schuf. Die Westfälischen Friedensverträ-ge von 1648 sanktionierten dies »westfälische« Recht.

Es erlaubt jedem Staat Kritik oder gar Intervention ei-nes anderen Staats zur Verhinderung von Unrecht als illegitime Einmischung in innere Angelegenheiten zu-rückzuweisen. Wenn heute Staaten humanitäre Inter-ventionen zum Schutz von Menschenrechten für legi-tim halten, folgen sie wie die Libertären einem Natur-recht, das schon die Stoa, aber auch außereuropäische Theoretiker*innen annahmen (Su 1967).

23.1 Was hat der Libertarismus zur Armut zu sagen?

Er legt sich mit der Behauptung natürlicher Freiheits-rechte auch auf EigentumsFreiheits-rechte fest, die von staatli-cher Gesetzgebung und der Zustimmung von Indivi-duen unabhängig sind und den Maßstab für gerechtes Verhalten zur Armut vorgeben. Im Gebrauch dieses Maßstabs trennen sich rechte von linken Libertären, obgleich beide den Eigentumsprinzipien John Lockes folgen.

Locke setzte Hobbes’ moderner These vom staats-gemachten Recht die mittelalterliche These natur-gegebenen Rechts entgegen. Er kleidete sie in Annah-men über einen vorstaatlichen Naturzustand, in dem die Menschen »perfect Freedom to order their Ac-tions, and dispose of their Possessions« hatten, auch einen »State [...] of Equality, wherein all the Power and Jurisdiction is reciprocal, no one having more than another« (Tr.§ 4). Er verband seine Kritik staats-gemachten Rechts aber mit einem Eigentumsrecht, das die Eroberung Amerikas durch Europa rechtferti-gen konnte. Denn die Freiheit, über sein Eirechtferti-gentum zu verfügen, gründete Locke auf ein Privateigentums-prinzip (LP), nach dem jeder ein Recht hat, das Pro-dukt seiner Arbeit anzueignen und andere von sei-nem Arbeitsgegenstand auszuschließen, wenn er ihn produktiver bearbeite. Da er wie die meisten europäi-schen Zeitgenoss*innen die amerikanieuropäi-schen Länder von den Europäer*innen produktiver gebraucht fand als von den Indianer*innen, rechtfertigte er Amerikas Aneignung durch die Europäe*innen.

Er begründet LP so:

»Though the Earth, and all inferior Creatures be com-mon to all Men, yet every Man has a Property in his own Person. This no Body has any Right to but himself.

The Labour of his Body, and the Work of his Hands, we may say, are properly his (Tr. § 27).«

Locke behauptet nicht, mein Körper, sondern meine Person gehöre mir. Denn meinen Körper habe nicht ich produziert, er sei vielmehr »the Workmanship of one Omnipotent, and infinitely wise Maker«, über dessen Produkt ich nicht frei verfügen darf (Tr. § 6). Meine Per-son dagegen erschaffe ich selbst durch die Entscheidun-gen, für die ich verantwortlich bin – strafbar, wenn sie unrecht sind, zur Aneignung berechtigend, wenn sie produktiv sind. Daher darf ich mir nicht nur aneignen, was das Werk meiner, sondern auch das anderer Hände ist, wenn ich über deren Hände verfügen darf: »the Turfs my Servant has cut [...] become my Property« (Tr. § 28).

Über Lockes Unterscheidung von Körper und Per-son lässt sich streiten. Doch auch wenn wir sie verwer-fen, ist die These, jeder sei Eigentümer*in des Produkts seiner Arbeit, überzeugend. Jedenfalls fällt es uns schwer, das, was wir durch eigene Anstrengung oder Erfindung hervorgebracht haben, nicht als etwas an-zusehen, wofür wir Anerkennung verdienen. Weder die Arbeiter*innenbewegung noch der Marxismus hätten historisch wirksam werden können, hätten sie nicht fordern können: Gerechter Lohn für faire Arbeit!

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Wie groß aber ist der gerechte Lohn? So groß wie der Wertanteil der Arbeit an einem Produkt, dessen Wert sich zusammensetzt aus dem Wert der Arbeit und dem der ver- und bearbeiteten natürlichen Res-sourcen. Selbst wenn das Produkt eine Erfindung ist, geht in es der Wert der Luft, Nahrung und Wohnung ein, die der/die Erfinder*in verbrauchte. Natürliche Ressourcen aber erklärte Locke als Gemeineigentum, nach seinem Gemeineigentumsprinzip (LG). Für es berief er sich auf die Vernunft und die Bibel:

»God [...] hath given the World to Men in common [...]

all the Fruits it (the Earth) naturally produces, and Beasts it feeds, belong to Mankind in common, as they are produced by the spontaneous hand of Nature; and no body has originally a private Dominion, exclusive of the rest of Mankind, in any of them, as they are thus in their natural state (Tr.§ 26).«

Das Völkerrecht erkennt LG heute an, wenn es Boden-schätze, Pflanzen und Tiere der Welt, die keinem Staat gehören – das Meer außerhalb der Hoheitszonen, die Antarktis, der Mond – zu Gemeineigentum erklärt.

Das Völkerrechtsprinzip dagegen, dass die natürlichen Ressourcen eines Territoriums dessen Staat gehören, folgt der »westfälischen« Auffassung, die den Staat zum Schöpfer des Rechts macht. Für sie spricht im bes-ten Fall, dass die Staabes-ten ihre Territorien vor Misswirt-schaft, Überschwemmung und Verfall schützen. Doch selbst wenn oder wo Staaten dies tun, sind sie nach Lo-cke nur Treuhänder*innen statt Eigentümer*innen na-türlicher Ressourcen und schulden der Menschheit Rechenschaft für ihren Umgang mit natürlichen Res-sourcen.

Lockes LG zeigt an, wie Armut ohne Verletzung sei-nes Privateigentumsprinzips LP vermeidbar ist: durch den richtigen Gebrauch des Gemeineigentums natürli-cher Ressourcen. Den richtigen Gebrauch fand Locke allerdings nicht in der Nutzung solcher Ressourcen im Menschheitsinteresse. Denn er schätzte den Wert von Naturgütern als minimal ein, den Wert der Arbeit da-gegen, die natürliche Ressourcen erst konsumierbar macht, als maximal. Da er diesen Wert mit LP für pri-vat aneigenbar erklärt, folgt aus seiner Schätzung die Aneigenbarkeit des gesamten Arbeitsprodukts.

Wie kam Locke zur These, der Wert der be- und verarbeiteten Naturgüter sei praktisch Null? Durch verblüffend willkürliche Schätzungen. Zuerst schätzt er: Arbeit sei »ten times more« (Tr.§ 37) wert als die Natur; darauf, »labour makes the far greater part of the value«, nämlich »99/100 are wholly to be put on the

account of labour« (§ 40), und zuletzt, »I may truly say, not 1/1000. ›Tis Labour then which puts the greatest part of Value upon Land, without which it would scarcely be worth any thing« (§ 43). Die letzte Schätzung gefiel, denn sie entspricht dem Stolz des Menschen auf seine Schöpferkraft. Sie entspricht auch dem Urteil der Arbeiterbewegung, der Wert der Ar-beit sei sehr groß.

Lockes Schätzung war der Grund für seine voraus-gegangene These, Privateigentum sei, womit jemand

»hath mixed his Labour with, and joyned to it some-thing that is his own« (§ 27). Für diese Aussage erntet Locke noch heute Spott auch von seinen Anhän-ger*innen. Wie kann etwas, dem man seine Arbeit nur hinzufügt, Eigentum des/der Arbeitenden sein (vgl.

Nozick 1974, 174)? Lockes von seinen Kritiker*innen übersehene Antwort ist: weil die Arbeit dem Ergebnis

»the greatest part of value« hinzufügt, neben dem der Wert der Natur »scarcely [...] worth any thing« ist.

Der gerechte Lohn für den/die Produzent*in ist da-her nach Locke, dass er das gesamte Produkt ein-schließlich des in es eingegangenen Naturwerts aneig-nen darf und kein Gemeineigentum übrig bleibt. Da Locke als den/die Produzent*in den Unternehmer versteht, der fremde Arbeitskraft kommandiert, bleibt für die Armen, die zur Klasse der Kommandierten ge-hören, kein Wert, der ihnen aus dem Gemeineigen-tum natürlicher Ressourcen zukommen könnte.

Doch diese Konsequenz schient selbst Locke unge-recht, denn wie Aquinas sagte, »In der Not sind Dinge Gemeineigentum« (1911-II-II, 66.7, Übers. U. St.). Er schränkte sein Privateigentumsprinzip durch eine Be-dingung ein, die als Lockes Proviso bekannt ist: die private Aneignung sei berechtigt »at least where there is enough, and as good left in common for others«

(§ 27). Doch wann bleibt von einem Gut genug übrig?

Es wird immer genug übrig bleiben, da jeder in seiner Arbeits- und Erfindungskraft eine angeborene natür-liche Ressource besitzt, die ihn zu Reichtum befähigt.

Neben ihr sind die äußeren Naturressourcen vernach-lässigbar. Wer seine angeborene Naturressource nicht nutzt, ist selbst schuld. Armut ist selbstverschuldet.

Die rechten Libertären folgen diesem Argument;

die linken folgen dem Argument, die angeborene Na-turressource unsrer Arbeits- und Erfindungskraft sei nicht die einzige wichtige Quelle des Naturwerts, und ihr Wert hänge von der Art ab, die äußeren Naturres-sourcen zu gebrauchen.

Thomas Paine begann, das linkslibertäre Argument zu artikulieren. In einem Flugblatt, Agrarian Justice (2009 [1797]), forderte er, Landbesitzer*innen für ihre III Armut in philosophischen Traditionen

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Landnutzung zu besteuern, um die Armen zu entschä-digen, die, obwohl Land allen gehört, von ihm aus-geschlossen sind. Gegen die Behauptung eines Bi-schofs, Gott habe in seiner Weisheit reich und arm er-schaffen, erklärte er, Armut »is a thing created by that which is called civilized life. It exists not in the natural state«. Privateigentum ermögliche mehr Reichtum, aber der Ausschluss der Miteigentümer des Lands von seiner Nutzung sei Unrecht und verlange die Einrich-tung eines

»national fund, out of which there shall be paid to every person, when arrived at the age of twenty-one years, the sum of fifteen pounds sterling, as a compen-sation in part, for the loss of his or her natural inheri-tance, by the introduction of the system of landed pro-perty:

And also, the sum of ten pounds per annum, during li-fe, to every person now living, of the age of fifty years, and to all others as they shall arrive at that age« (Paine 2009).

Paines Staatsfond ist eine Form des bedingungslos ausgezahlten Grundeinkommens, das heute Libertäre in allen politischen Parteien fordern (vgl. van Parijs 1995).

Wie Paine, aber mit größerer Wirkung, beschrieb Henry George in einem Buch von vielen hundert Sei-ten [1879] als Ursache der Armut den zunehmenden Reichtum, der durch verbesserte Technik entsteht und den Landbesitzer*innen zufließt. Er erweiterte ihre Klasse, da er Land definiert als »all natural materials, forces, and opportunities,« alles »that is freely sup-plied by nature« (1935, 38). Stiglitz (2015) folgt George in der Forderung an den Staat, öffentliche Güter zu produzieren und Naturgüter zu schützen.

Auf globaler Ebene empfiehlt heute Basu (2011, 177, 208, 211), einen Bruchteil der Profite aller Firmen und individuelle Einkünfte jenseits einer festzulegen-den Obergrenze festzulegen-den Armen zu geben.

Paine, George, Stiglitz und Basu diagnostizieren wie Hegel (RP § 244 Zus.) und Marx Armut als klassenbe-dingt, aber anders als Marx finden sie die Ursache nicht in der kapitalistischen Konkurrenz, sondern in Privile-gien, die das Gemeineigentum an äußeren Naturgütern verletzen und zugleich die Armen behindern, ihr an-geborenes Naturgut zu nutzen. Ähnlich wie Marx zeigt Basu, dass Verträge und Eigentumsprinzipien oft nie-dere Klassen benachteiligen, und warnt: »just as society considers it fine to outwit the poor, it is fine for the poor to outhit the rich«, aber hält ausdrücklich am

klassen-unabhängigen Ideal einer Gesellschaft ohne outwitting und outhitting fest (2011, 210–211).

23.2 Was verursacht die Armut?

Auch Marx betrachtet den Privatbesitz von Land als ei-ne Ursache der Armut, behauptet jedoch, auch nach dessen Abschaffung werden Lohnabhängige verarmen.

Denn die Unternehmer*innen müssen, um nicht der Konkurrenz zu unterliegen, in jeder Marktwirtschaft profitabel wirtschaften und drücken daher die Löhne.

Die meisten Ökonom*innen anerkennen heute diesen Marktmechanismus, aber nicht seine Unvermeidlich-keit. Gegen ihre Unvermeidlichkeit argumentierte be-sonders die nach dem Krieg in Deutschland errichtete soziale Marktwirtschaft. Wolfgang Stützel erklärte, auf dem Arbeitsmarkt wirke »jene brutale Mechanik der Verelendungskonkurrenz, die so eindrucksvoll ge-schildert zu haben das Verdienst des Nationalöko-nomen Karl Marx gewesen ist und immer bleiben wird.« Dort »verliert das freie Spiel des Marktpreises seine sonst so segensreiche Funktion, einen menschen-würdigen Ausgleich herbeizuführen« (Stützel 1981, 78). Gewerkschaften aber können diese Mechanik stoppen:

»Sie üben als Arbeitsangebots-Preiskartelle die menschlich eminent wichtige Funktion aus, den Ar-beitnehmern die Möglichkeit abzuschneiden, sich ge-genseitig durch Lohnunterbietung in die Rationalitä-tenfalle gnadenloser Verelendungskonkurrenz hinein-zumanövrieren (ebd., 80).«

Außerdem aber

»schützt dieses Angebotspreiskartell der Arbeitneh-mer automatisch auch die UnternehArbeitneh-mer davor, ihrer-seits in den Teufelskreis einer auch für sie unangeneh-men Rationalitätenfalle zu geraten [...] Hätten ja auch nur einige Unternehmer Zugang zu dieser Waffe (»ei-nes unmenschlich harten Drucks auf die Stundenlohn-sätze«, US), so müßten die anderen, um zu überleben, zur selben Waffe greifen. Genau das bleibt ihnen dank des gewerkschaftlichen Arbeitsangebots-Preiskartells erspart (ebd., 80).«

Stützel brachte das seinerzeit in der Bundesrepublik vorherrschende Urteil auf den Punkt, wie eine Markt-wirtschaft die Ausbeutung Lohnabhängiger und struk-turelle Armut verhindern kann: durch ein

»Arbeits-170

angebotspreiskartell« der Gewerkschaften, das den Ar-beitsmarkt vom »sonst so segensreichen« freien Spiel der Marktpreise ausnimmt (ebd., 78; vgl. Quiggin 2019, 186–188, 242–244 mit anderem Ansatz und glei-chem Ergebnis).

Zwei von den meisten Industriestaaten akzeptier-te Unakzeptier-ternehmerentscheidungen sprengakzeptier-ten gewerk-schaftliche Kartelle und die soziale Marktwirtschaft:

die Einfuhr billiger Arbeiter*innen aus dem Ausland seit den 60er und die Verlagerung von Arbeit in Nied-riglohnländer, in den USA seit den 70er Jahren und in Europa Jahrzehnte später. Hat also Marx doch recht, der Marktmechanismus des Lohndrucks sei unver-meidlich? Nur dann, wenn ein Arbeitsangebotspreis-kartell auf dem globalen Markt nicht durchsetzbar ist.

Ob es durchsetzbar ist, hängt vom politischen Willen

Ob es durchsetzbar ist, hängt vom politischen Willen