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III Armut in philosophischen Traditionen

26 Armut und chinesische Phi

losophie

Dem Thema Armut wurde in der Forschung zur klassi-schen chinesiklassi-schen Philosophie bisher kaum Beach-tung geschenkt. Dies ist nicht zuletzt der Tatsache ge-schuldet, dass im klassischen chinesischen Textkorpus keine umfassenden systematischen Auseinanderset-zungen mit Armut überliefert sind. Gleichwohl verwei-sen zahlreiche zentrale theoretische Debatten mehr oder weniger direkt auf das Thema Armut und lassen sich zum Teil erst im Hinblick auf das Problem der Ar-mut besser verstehen. Der folgende Überblick führt zentrale Diskussionsstränge zusammen, um in syste-matisierender Absicht eine kleine Karte wichtiger Ar-mutskonzeptionen zu zeichnen. Berücksichtigt werden dabei ausschließlich Positionen der klassischen chine-sischen Philosophie bis zum 3. Jahrhundert v. u. Z.

26.1 Mehrdimensionales Armutsver­

ständnis

Die Zurückhaltung klassisch chinesischer Autor*in-nen bei systematischen Ausführungen zum Problem der Armut wird schon daran ersichtlich, dass Armut (v. a. pín

, qióng

oder fá

) definitorisch nicht festgelegt wurde. Die leitenden Grundverständnisse von Armut können demnach nur indirekt anhand der vielfältigen Bezugnahmen auf Armut rekonstruiert werden.

Diesen Verweisen ist zunächst zu entnehmen, dass Armut vorwiegend als absolute Armut thematisiert wurde. Armut bezeichnet in erster Linie einen Zustand gravierender Deprivation, in dem Menschen bereits an der Befriedigung basaler Bedürfnisse scheitern und somit unmittelbar existentiell bedroht sind (Mozi 2010, Kap. 6; Mengzi 2008, 1A3; Xunzi 2014, 83, 201).

Darüber hinaus legen die mannigfaltigen Hinweise durchgehend ein mehrdimensionales Verständnis von Armut nahe. Arm ist nicht nur, wem es ab einem be-stimmten Schwellenwert an einem spezifischen maß-geblichen Gut mangelt. Zustände schwerer Armut werden vielmehr durch das Zusammenwirken unter-schiedlicher Faktoren hervorgerufen und verstärkt und lassen sich erst so adäquat fassen. Dem mehr-dimensionalen Ansatz zufolge kann Armut in unter-schiedlichen Formen auftreten, so dass ein facetten-reicheres Bild von Armut benötigt wird. Wenn chine-sische Autor*innen Knappheit an Nahrung als

zentra-len Indikator für Armut hervorheben (Konfuzius 2003, 20.1; Mengzi 2008, 1A3), so vermeiden sie das Armutsphänomen darauf zu reduzieren. Denn auch wo basale Ernährung gewährleistet ist, bleibt in ande-ren Hinsichten die Gefahr von Armut bestehen. Wei-tere Armutsfaktoren bilden etwa die Auflösung oder der verwehrte Zugang zu einem komplementär aus-differenzierten Arbeits- und Produktionssystem. Die-ses garantiert neben basalen Subsistenzgütern die Be-reitstellung zusätzlicher (auch kollektiver) Güter, oh-ne die ein lebenswertes Leben kaum möglich wäre (Xunzi 2014, Kap. 10; Mozi 2010, Kap. 6). Typischer-weise haben der Zusammenbruch oder der Aus-schluss aus einem solchen System schwere Armut zur Folge (Xunzi 2014, Kap. 10). Eine weitere wesentliche Dimension von Armut bilden der Abbruch von oder die Marginalisierung in Wissensvermittlungsprozes-sen. Mangelnde Vertrautheit mit den vielfältigen Wis-sensformen führt zu einer Reduzierung oder gar ei-nem Verlust an individuellen oder kollektiven Fähig-keiten und bedroht die Teilnahme an und die Heraus-bildung von koordinierter und wertorientierter Kooperation (vgl. Mengzi 2008, 1A7; Xunzi 2014, 68, sowie Kap. 1–2; Mozi 2010, Kap. 3 und 6). Als armuts-gefährdend werden des Weiteren politisch unstabile Rahmenbedingungen betrachtet, wie sie etwa durch Krieg oder die Desintegration politischer Macht her-vorgerufen werden (Mozi 2010, Kap. 18; Hanfeizi 2003, 21–22), da die daraus resultierende »Unord-nung« (luan

) die Auflösung wirtschaftlicher und sozialer Systeme begünstigt. Weitere armutsrelevante Faktoren können ferner Naturkatastrophen, Alter, so-zialer Hintergrund oder körperliche Beeinträchtigun-gen sein (Mozi 2010, Kap. 6; Mengzi 2008, 1A3; Xunzi 2014, 68). Andere das Armutsrisiko steigernde For-men sozialer Marginalisierung, etwa durch Ge-schlechterzugehörigkeit, werden nicht thematisiert.

Aus dem bisher Dargelegten deutet sich bereits an, dass die Autor*innen zudem zu einem güterbasierten Armutsverständnis tendieren. Ob jemand arm ist, lässt sich primär an der Verfügbarkeit eines Bündels von Gütern bestimmen und nicht etwa an den Fähigkeiten zur Realisierung basaler, für ein gutes Leben notwen-diger Funktionsweisen (Sen 1992, Kap. 3 und 7).

Der sich so abzeichnende mehrdimensionale, gü-terbasierte Armutsansatz findet jedoch im klassi-schen chinesiklassi-schen Kontext keine weitere Ausarbei-tung. Nicht nur bleiben die relevanten Güter und ihre Beziehungen zu einander unbestimmt, auch der Schwellenwert für Armutsgefährdung wird nicht wei-ter präzisiert. Teilen die klassisch chinesischen phi-III Armut in philosophischen Traditionen

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021

Schweiger/Sedmak (Hg.), Handbuch Philosophie und Armut, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05739-6_26

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losophischen Schulen dieses Verständnis von Armut, so weichen sie im Hinblick auf die Frage nach dem normativen Status von Armut und seiner Begrün-dung sowie den Pflichten zur Armutsbekämpfung voneinander ab.

26.2 Der Status von Armut

Die Frage nach dem normativen Status von Armut be-trifft die Bewertung von Armut. Noch ist unklar, ob und wieso Armut zu verurteilen ist und sie ggf. die Be-reitstellung von Hilfsgütern sowie weitere Maßnah-men fordert. In der klassisch chinesischen Theorie-landschaft lassen sich starke und schwache Ansätze unterscheiden. Während in schwachen Ansätzen das Problem der Armut von anderen normativen Anlie-gen verdrängt und in seinem normativen Status abge-schwächt wird, rückt das Thema Armut bei starken Ansätzen ins Zentrum ihrer normativen Projekte.

Ein prominentes Beispiel eines schwachen Ansatzes begegnet uns im Lunyu. Armut und Reichtum werden dort in erster Linie als kontingente Faktoren behandelt, mit denen wir unweigerlich konfrontiert sind. Ent-scheidend ist dabei, dass Armut keinen zwingend ne-gativen Zustand darstellt. Aus dem Blickwinkel dessen, was Konfuzius als Hauptaufgabe eines jeden Einzelnen betrachtet, nämlich die Kultivierung ethisch vorzüg-licher Grundhaltungen und die Gestaltung ethisch wertvoller zwischenmenschlicher Beziehungen (z. B.

Konfuzius 2003, 1.14, 2.22, 5.26), erscheint Armut nicht zwangsläufig als ein Übel. Zwar ist Armut aus der Perspektive ethisch Handelnder ein lästiger Hand-lungsfaktor, ihre Bekämpfung genießt allerdings ange-sichts des Stellenwerts ethischer Kultivierung keine vorrangige Dringlichkeit (ebd., 6.11). Konfuzius zufol-ge wirkt sich Armut nicht notwendizufol-gerweise nachteilig auf den ethischen Kultivierungsprozess aus (z. B. ebd., 1.15). Deprivation kann sogar zum geeigneten Hand-lungskontext werden, in dem bestimmte charakterli-che Qualitäten allererst hervortreten und entwickelt werden können (z. B. ebd., 4.5, 4.9). Erst auf politischer Ebene gewinnt Armut vor allem für den Herrscher an Dringlichkeit. Insofern das Wohl des Volkes als zentral für die Legitimität von Herrschaft betrachtet wird (ebd., 20.1–2, vgl. auch Chan 2014, Kap. 1), droht Ar-mut sich destabilisierend auf politische Macht und die Gesellschaft als Ganze auszuwirken und ist von daher auf die politische Agenda zu nehmen (ebd., 20.1). Auf-grund der Möglichkeit, Armut als lediglich suboptima-len Lebensumstand in seinen Lebensplan zu

integrie-ren und so zu entschärfen, bildet das Wohl des Volkes gleichwohl eine recht brüchige Grundlage für die poli-tische Dringlichkeit von Armutsbekämpfung. Gefah-ren einer mit Bezug auf ethische Kultivierung relativie-renden Verharmlosung von Armut oder die Herausbil-dung verzerrter Urteile, in denen Depravierte ihre Le-benssituation als normal betrachten, werden nicht erörtert.

Eine Variante des schwachen Ansatzes lässt sich im Buch Zhuangzi ausmachen. Zwar werden auch hier extreme Entbehrungen nicht verharmlost (Zhuangzi 2013, Kap. 19), gleichwohl werden Perspektiven eröff-net, welche Armut als ein eher geringfügiges Übel er-scheinen lassen. Wenn etwa im Kapitel 5 darauf hinge-wiesen wird, dass wir unsere »inneren Kräfte« nur dann »ganz und intakt« (Zhuangzi 1999, 156) halten können, wenn wir uns der Unergründlichkeit ständig sich wandelnder Gegensätze bewusst geworden sind, so ist dies nicht folgenlos für die Bewertung von Ar-mut. Die Einsicht in die Unverfügbarkeit des allgegen-wärtigen Wandlungsgeschehens bewirkt, dass Leben und Tod, Scheitern und Erfolg, aber eben auch »Ar-mut und Reichtum« (ebd., 157) nur noch als Transfor-mationen erscheinen, die es eher hinzunehmen als zu verstehen oder zu verändern gilt. Die so hergestellte neutralisierende Distanz zu sich wandelnden Kontex-ten zieht Armut ihren normativen Stachel. Sie wird zu einem vorübergehenden Zustand unter vielen, der sich einer eindeutigen Qualifizierung als gut oder schlecht entzieht. Wie weit die Relativierung von Ar-mut unter der Maßgabe der Bewahrung der inneren Kräfte reicht und wo hier mögliche Grenzen verlau-fen, bleibt ungeklärt. Eine Antwort darauf wird nicht zuletzt davon abhängen, was es bedeutet, seine »inne-ren Kräfte ganz und intakt« zu halten.

Demgegenüber vertreten viele klassische Autor*in-nen stärkere Ansätze, indem sie Armut als Kernpro-blem im Zentrum ihrer normativen Hauptanliegen aufgreifen. Daraus ergeben sich stärkere normative Wertungen von Armut.

Auch wenn sich im Mengzi weiterhin Spuren eines schwachen Ansatzes finden (Mengzi 2008, 6B15), so gewinnt Armut hier erheblich an normativer Bedeu-tung. Mengzi rückt das Thema Armut vor allem im Zusammenhang mit moralischer Kultivierung in den Vordergrund. Hier kommt er zu einem anderen Schluss als Konfuzius. Zu den Grundvoraussetzungen des menzianischen Denkens zählt die Auffassung, dass uns Menschen eine Reihe von reaktiven Veranla-gungen angeboren sind, die uns, wenn adäquat entfal-tet, den Weg zu moralischer Vortrefflichkeit zeichnen

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(ebd., 2A6). Entscheidend ist dabei, dass die Kultivie-rung und Entfaltung der in unserem »Herzen« (xin

) einverleibten Grundemotionen auf ermöglichen-de Rahmenbedingungen angewiesen sind. Im Nor-malfall wirken sich wirtschaftliche, soziale und politi-sche Instabilitäten auf die Kultivierungsbereitschaft des Einzelnen aus. Vor allem in Umständen der Ar-mut verlieren Menschen leicht den Bezug zu ihren moralischen Anlagen und sind außerstande, ihr

»Herz« zu entfalten (ebd., 1A7; vgl. auch 6A7, 6A8).

Angesichts der Auswirkungen von Armut auf die mo-ralische Kultivierung sind Maßnahmen gegen Depri-vation geboten. Damit erwächst die Dringlichkeit von Armutsbekämpfung weniger aus der Moral selbst, als vielmehr aus instrumentellen Erwägungen im Hin-blick auf gelingende moralische Kultivierung. Dies be-deutet nicht, dass vom Standpunkt des Handelnden aus Armut in allen Fällen zu vermeiden ist. In spezifi-schen Fällen ist Armut zuweilen im Namen mora-lischer Kultivierung hinzunehmen (ebd., 5B5–6A10).

Maßgeblich für die Bewertung von Armut ist dem-gegenüber im Xunzi weniger die Gefährdung der Ent-faltung moralischer Anlagen, als vielmehr die schlichte Tatsache der Schädigung von Eigeninteressen. Zustän-de extremer Deprivation, die vor allem auf Zustän-den Wegfall bestehender politischer und sozialer Ordnungen und damit den Zusammenbruch arbeitsteiliger sozialer Koordination und hierarchischer Grenzziehungen zu-rückgeführt werden, sind deshalb anzuprangern, weil sie die Selbstkontrolle über unsere natürlichen Emo-tionen und Begierden untergraben. Laut Xunzi kommt der Mensch nicht umhin, seine Grundemotionen und -begierden zu regulieren. Würden er ihnen freien Lauf lassen, so wäre ein friedliches Zusammenleben un-denkbar (vgl. Xunzi 2014, Kap. 23). Die aufbrechenden interpersonalen Konflikte hätten für kooperations-bedürftige Wesen, wie wir es sind, gravierende interessenschädigende Auswirkungen. Obgleich jeder mittels seines »Herzens« (xin) regulierend auf die Handlungswirksamkeit der eigenen Emotionen und Begierden einwirken kann, so bleiben adäquate sozial-politische Rahmenbedingungen unentbehrlich für die Erlangung von Selbstkontrolle. Eine stabile soziale und politische Ordnung ist vor allem deshalb als Unterstüt-zung der Regulierungsfunktion des Herzens unver-zichtbar, weil die mit ihr einhergehenden Sozialisati-onsprozesse durch Bildung und Einübung diverser Praktiken, wie etwa die Riten (li

), einem jedem da-bei helfen, seine Emotionen und Begierden zu steuern und kooperativ auf die anderen Gesellschaftsmitglie-der auszurichten und so die Befriedigung Gesellschaftsmitglie-der eigenen

Interessen zu garantieren (vgl. ebd., Kap. 1–2, Kap. 19).

Insofern vor allem Armut und der sie begleitende wirt-schaftliche und soziale Zerfall diesen Prozess der Ge-winnung von Selbstkontrolle gefährden, ist es laut Xunzi letztlich im Interesse aller, Armut zu beheben und Vorkehrungen gegen weitere Deprivation zu tref-fen. In diesem Sinne bildet Armut den Ausgangspunkt aller wichtigen sozialen und politischen Institutionen und Praktiken. Sie sollen uns vor dem Abgleiten in ur-zustandähnliche Verwahrlosung schützen.

Während im Mengzi und Xunzi die normative Ein-rahmung von Armut aus der Perspektive des/der mo-ralischen oder interessenorientierten Akteur*in er-folgte, adressieren die Mohisten den normativen Sta-tus von Armut auf einer abstrakteren Ebene. Wie bei Xunzi, steht Armut auch bei den Mohisten im Zen-trum ihrer sozialen und politischen Reformvorschlä-ge, und wieder bildet sie die unausweichliche Folge von sozialer und politischer Unstabilität und »Unord-nung« (luan) (Mozi 2010, Kap. 6). Maßgebliche Ursa-chen von Unordnung sind, einerseits, endemisch in einer Gesellschaft auftretende eigennützige Verhal-tensweisen (ebd., Kap. 14) sowie, andererseits, all-gegenwärtiger Dissens bezüglich moralischer Nor-men und Standards (ebd., Kap. 11). Charakteristisch für den mohistischen Ansatz ist, dass die daraus resul-tierende Verelendung ein objektives Moralkriterium verletzt.

Im Gegensatz zu anderen Autor*innen und Schu-len ist den Mohisten an einem allseits zustimmungs-fähigen moralischen Standard gelegen (vgl. Fraser 2016, 32–39). Einen ebensolchen Standard sehen sie vom »Himmel« (tian

) vorbestimmt. Als eine un-parteiische Wirkmacht, die ausnahmslos zum Vorteil aller wirkt, kann der »Himmel« den Mohisten zufolge als konsensfähige Grundlage fungieren, aus der sich eine Moral der unparteiischen Fürsorge ableiten lässt.

Vor dem Hintergrund einer solchen Moral muss Ar-mut sodann als ein moralisch zu verurteilender Zu-stand erscheinen. Mit ihr ist offenkundig ein Mini-mum an Fürsorge und Hilfestellung unterschritten worden, so dass ihr mit entsprechenden Hilfe- und Präventionsmaßnahmen zu begegnen ist. Worin aller-dings das Minimum an Fürsorge genau besteht und wie es zu ermitteln ist, wird nicht weiter diskutiert.

Neben den Mohisten, schenken auch die Vertre-ter*innen der »Schule der Landwirte« (nongjia) dem Thema Armut besondere Aufmerksamkeit. Nicht nur die Folgen extremer Armut, vor allem die Bedingun-gen, unter denen sie auftritt, beschäftigte dabei die Nongjia. Auf ihre Diagnose wird weiter unten kurz zu-III Armut in philosophischen Traditionen

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rückzukommen sein. Hinsichtlich der Bewertung von Armut, bringen sie jedenfalls einen zentralen Wert in Anschlag, an dem alle sozio-ökonomischen und poli-tischen Zustände zu messen sind, den Wert der Natür-lichkeit. Da Natürlichkeit mit Geburt, Vitalität und Wachstum in Verbindung gebracht wird, ist ihnen zu-folge ein Leben in Deprivation als widernatürlich zu verurteilen (vgl. Murray 2019).

Eine etwas andere Richtung schlagen demgegen-über die Legalist*innen ein, indem sie die Perspektive des Herrschers einnehmen und Armut allein mit der Aufrechterhaltung politischer Macht in Verbindung bringen. Für sie ist die Bekämpfung von Armut des-halb von hervorragender Bedeutung, weil Entbeh-rung ab einem nicht weiter präzisierten Grad den Staat nach innen und nach außen für subversive Kräf-te anfällig macht und den Fortbestand des politischen Machtgefüges bedroht (Shang Yang 1996, Kap. 5). Der normative Status von Armut wird somit primär an das Interesse des Herrschers an Machterhaltung gebun-den, so dass die Behebung von Deprivation allein als strategische Maßnahme Berücksichtigung findet.

In Bezug auf das Problem der Armut nimmt das Daodejing eine Sonderstellung ein. Auch wenn die Verfasser des Daodejing lebensbedrohliche Armut nicht gutheißen (Laozi 2009, Kap. 3), so rücken sie Ar-mut gleichwohl in ein positiveres Licht. Ausschlag-gebend ist dabei die Auffassung, dass Überfluss und Reichtum menschliche Begierden laufend anregen und vermehren und damit Profitgier und Zwist erzeu-gen (ebd., Kap. 2 und 81). Dies bedeutet nicht, dass Reichtum an sich zu verwerfen sei. Es ist lediglich so-zial-politisch ratsam, durch Abschaffung zivilisatori-scher und technizivilisatori-scher Errungenschaften ärmlichere Lebensumstände zu schaffen, um auf diese Weise die negativen Auswirkungen von Reichtum zu minimie-ren. Nur so werden die Menschen aufhören, Sonder-interessen und überzogenen Ansprüchen nachzujagen (vgl. ebd., Kap. 3 und 37), denn ihre »Herzen« (xin) werden nunmehr »leer« (xu

) (Laozi 1999, Kap. 3) sein. Zustände der Deprivation, seien sie geistiger (Laozi 2009, Kap. 3), epistemischer (ebd., Kap. 20 und 48) oder sozialer Natur (ebd., Kap. 18 und 19) werden somit nicht als Hindernisse und Übel betrachtet, son-dern als Chance für ein friedliches und geordnetes Zu-sammenleben ohne Wettstreit und moralische Kor-rumpierung. Während gemeinhin materieller und im-materieller Wohlstand als Voraussetzung für mensch-liches Zusammenleben betrachtet wurde (vgl. Chen 1911, Kap. 6), so wird Armut im Daodejing zum inte-gralen Bestandteil gelingender Vergesellschaftung und

einer positiven politischen Vision, die sich erst in klei-nen, isolierten politischen Gebilden realisieren lässt (Laozi 2009, Kap. 80). Spuren einer solchen Aufwer-tung von Armut lassen sich übrigens auch im Zhuangzi finden (vgl. Zhuangzi 2013, Kap. 9, 12).

26.3 Pflichten zur Armutsbekämpfung Mit dieser Skizze der unterschiedlichen Bewertungen von Armut und ihrer Begründungen kann im Folgen-den der damit verbunFolgen-denen Frage nach der Bestim-mung der Pflichten für Armutsbekämpfung nach-gegangen werden. Hier zeichnen sich folgende Rich-tungen ab.

Positionen, die in Bezug auf den normativen Status von Armut einen schwachen Ansatz vertreten, ver-zichten auf die Formulierung starker Hilfspflichten gegenüber Menschen in Armut. So etwa wird im Lun-yu lediglich an die Barmherzigkeit und die politische Vernunft appelliert und die Bestimmung des Umfangs und der Dringlichkeit der Hilfestellung den Helfern überlassen (Konfuzius 2003, 19.3, 20.1). Dies trifft in-sofern auch auf das Zhuangzi zu, als hier das Thema von Hilfspflichten weitestgehend ausgeblendet bleibt (vgl. Schleichert/Roetz 2009, 161).

Starke Ansätze schlagen demgegenüber stärkere Pflichten gegenüber Armen vor. Dabei wird die Art der Hilfspflichten im Kontext globaler Armut, also die Fra-ge, welche Hilfsstellung wir gegenüber Armen, die wir nicht kennen und mit denen wir in keinem institutio-nellen Zusammenhang stehen, nicht thematisiert. Ar-mutsbekämpfung bleibt auf den Staat oder eine Staa-tengemeinschaft innerhalb des gleichen kulturellen Kontextes beschränkt. Auch werden die Pflichten zur Armutsbekämpfung nicht in erster Linie als rein indi-viduelle Pflichten, die sich prima facie an alle Gesell-schaftsmitglieder richten, eingeführt. Vermutlich weil das Phänomen der Armut vorwiegend auf soziale und politische Dysfunktionen zurückgeführt wird, werden als primäre Pflichtenträger*innen vorwiegend diejeni-gen adressiert, die den größten Einfluss auf die institu-tionelle Gestaltung des politischen und sozialen Le-bens ausüben können. Es ist folglich vor allem die Pflicht der politischen Elite, ihre Machtposition zu nutzen, um auf die Grundordnung der Gesellschaft einzuwirken und Armut langfristig zu bekämpfen. Tut sie dies nicht und trägt sie somit zur Aufrechterhaltung Armut verursachender Institutionen bei, so verletzt sie negative Pflichten (vgl. dazu Mengzi 2008, 1A3–4). Da die Kriterien der Zuschreibung von Pflichten nicht

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weiter ausbuchstabiert werden, kann in diesem Zu-sammenhang vielen Fragen nicht weiter nachgegan-gen werden. So etwa muss unklar bleiben, wer in Situa-tionen politischer Unordnung, in denen keine politi-sche Elite hinreichend Einfluss hat, die Pflicht für den Aufbau allgemein vorteilhafter Institutionen trägt und wer in welchem Umfang dem/der Einzelnen zu helfen hat. Hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung der Pflichten bzw. der Maßnahmen sind die Autor *innen auskunftsfreudiger. Folgende Ausdifferenzierungen zwischen den Ansätzen sind zu beobachten.

1. Kennzeichnend für eine Reihe von Positionen ist, dass die konkreten Maßnahmen zur Armutsbekämp-fung mit der Forderung nach Einführung sozialer und politischer Hierarchien verknüpfen werden. Hierar-chisch geordnete soziale und politische Beziehungs-geflechte sollen, so die Auffassung, nicht nur dem ar-mutsverursachenden Zusammenbruch der sozialen und politischen Ordnung entgegenwirken, sie sind letztlich auch für die Implementierung der Hilfemaß-nahmen erforderlich. Wenn Xunzi festhält, dass klare

»soziale Unterschiede« (fen

) das geeignete Mittel sind, Armut abzuwenden (Xunzi 2014, 83), so bezieht er sich auf diese zwei Zusammenhänge. Zunächst ga-rantieren hierarchisch organisierte »soziale Unter-schiede«, die in einer z. T. rituell strukturierten sozia-len Praxis internalisiert und aufrechterhalten werden, die Reproduktion geordneter Kooperation und min-dern allein schon dadurch das Armutsrisiko (ebd., Kap. 10 und 19). Gleichzeitig, so der zweite Zusam-menhang, sind gezieltere Maßnahmen zur Armuts-bekämpfung nur in einem derart ausdifferenzierten Kooperationsgefüge denkbar. Wenn neben Maßnah-men, die den Raubbau an der Natur unterbinden sol-len, u. a. strengere Investitionskontrollen oder Steuer-senkungen (ebd., 89) für die Bekämpfung und Präven-tion von Armut vorgeschlagen werden, so wird eine

»soziale Unterschiede« (fen

) das geeignete Mittel sind, Armut abzuwenden (Xunzi 2014, 83), so bezieht er sich auf diese zwei Zusammenhänge. Zunächst ga-rantieren hierarchisch organisierte »soziale Unter-schiede«, die in einer z. T. rituell strukturierten sozia-len Praxis internalisiert und aufrechterhalten werden, die Reproduktion geordneter Kooperation und min-dern allein schon dadurch das Armutsrisiko (ebd., Kap. 10 und 19). Gleichzeitig, so der zweite Zusam-menhang, sind gezieltere Maßnahmen zur Armuts-bekämpfung nur in einem derart ausdifferenzierten Kooperationsgefüge denkbar. Wenn neben Maßnah-men, die den Raubbau an der Natur unterbinden sol-len, u. a. strengere Investitionskontrollen oder Steuer-senkungen (ebd., 89) für die Bekämpfung und Präven-tion von Armut vorgeschlagen werden, so wird eine