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Petrus Johannis Olivi (1248–1298) – eine extreme und radikale Armutskon

alterlichen Philosophie

12 Armut in der hochmittel

12.5 Petrus Johannis Olivi (1248–1298) – eine extreme und radikale Armutskon

zeption

Petrus Johannis Olivi, Ende des 13. Jahrhunderts An-führer der Spiritualen in Südfrankreich, hat mit den Quaestionen 8 und 9 seiner Quaestiones de perfectione evangelica über die Armut (q. 8) und den usus pauper (q. 9) eine wahrhafte Apotheose der evangelischen Ar-mut vorgelegt. Für ihn ist die freiwillige ArAr-mut besser als alle Reichtümer und als jeder Stand, in dem je-mand rechtmäßig Reichtümer erwerben kann. Die höchste (altissima) Armut ist besser als jede andere Form der Armut oder als jede andere Art und Weise, sich zu den zeitlichen Dingen zu verhalten. Die Höhe dieser Armut zeigt sich u. a. (1) seitens ihres Ziels, (2) auf Seiten unserer Natur und unseres Willens, (3) in Bezug auf ihre Bedingung und Eigentümlichkeit (QPE VIII, 85). Es erweist sich schon zu Beginn, dass Olivi die Armut nicht relativ in Bezug auf ein Ziel kon-zipiert (auch wenn das Ziel für die Höhe der Armut II Armut in der Geschichte der Philosophie

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relevant ist), so dass sich bei ihr kein Ermessensspiel-raum ergeben kann wie noch bei Thomas. Die Armut, um die es Olivi hier geht, ist die absolut höchste und menschenmögliche. In Bezug auf (1) das Ziel der höchsten Armut, führt Olivi eine ganze Anzahl von positiven Affekten und Tugenden an, die durch sie ins Werk gesetzt werden, z. B. werden durch die Armut höchste Demut, strengste Nüchternheit, keuscheste Keuschheit, Frömmigkeit, Nächsten- und Gottesliebe (caritas) usw. bewirkt (ebd., 85). Offenbar sind in dem evangelischen Rat der Armut bereits die anderen Räte der Keuschheit und des Gehorsams inkludiert; inso-fern ist die Armut gewissermaßen ein Meta-Rat. So führt die Armut zu Keuschheit, denn wer Verkehr mit einer Frau und Kinder haben will, kümmert sich not-wendigerweise um die finanzielle Vorsorge. Auch in-kludiert die Konkupiszenz die Begierde anderer Au-ßendinge, ohne die eine solche Begierde nicht genährt werden kann (ebd., 91). Ohnehin schließt die all-gemeine Entsagung aller weltlichen Dinge zwingend die Absehung von jeder Liebe der äußeren Schönheit und von jedem fleischlichen Verkehr mit ein. Auch der evangelische Rat des Gehorsams ist schon in der paupertas enthalten: Wer arm ist, enthält sich des pompösen Ornats und der weltlichen Gefolgschaft (ebd., 86); überdies führt die Armut innerlich zur an-nihilatio sui, zur Selbstaufhebung und Vermeidung al-ler Hochmut (ebd., 87).

In Bezug auf (2) die menschliche Natur und den Willen zeigt sich die Höhe der Armut daran, dass un-ser Wille frei ist und die Willens- und Geistnatur des Menschen von sich aus strikt getrennt ist von den weltlich-sinnlichen Dingen der Außenwelt. An dieser Stelle wird die dualistische Seelenlehre Olivis deutlich, der zufolge die menschliche Geistseele eine eigene Wesensform des Menschen neben der Sinnesseele darstellt, die nicht direkt mit dieser verbunden ist (Ro-de 2019). Diese Erhabenheit (Ro-der menschlichen Wil-lensfreiheit zeigt sich auch im karitativen Umgang mit dem Weltlichen – die freiwillig Armen horten keine Reichtümer, sondern geben alles Geld an Arme und die Kirche und behandeln ansonsten Geld wie Mist (stercora) – als etwas, vor dem sie sich gewöhnlich hü-ten (QPE VIII, 125–126); eine Gleichsetzung von Geld und Kot, die Sigmund Freud später wiederauf-nehmen wird. Die caritas und die Höhe der Armut er-fordern weder Privat- noch Gemeinbesitz. Denjeni-gen, die zumindest noch für Gemeinbesitz plädieren, antwortet Olivi, dass die Religiosen Zeitliches nur aus Naturnotwendigkeit fordern dürfen und ihnen aus dieser Notwendigkeit kein Recht an Weltlichem

er-wächst. Sie dürfen nur das gerade einmal Überlebens-notwendige einfordern. Ansonsten mischte sich leicht die Korruption der Sünde in die franziskanische Le-bensweise. Dies ist auch der Grund, warum der Apos-tel Paulus (1. Kor. 6, 1–11) dazu aufrief, eher Unrecht und Betrug zu erdulden, als sein eigenes Recht in Ge-richtsverfahren durchzusetzen (QPE VIII, 127).

Hinsichtlich des dritten Aspekts (3) sucht Olivi die Erhabenheit, Weite, Tiefe und Länge der höchsten Ar-mut aufzuzeigen: Sie transzendiert alles Weltliche und ist daher erhaben, sie weitet das Fassungsvermögen des Willens auf alle und alles, während dieses durch das Festhalten an weltlichen Dingen geschmälert wird. Sie ist von großer Tiefe, weil sie die Nichtigkeit der Dinge berührt und sie ist von höchster Länge, weil in diesem Leben beginnt und im ewigen Jenseits auf-hört (QPE VIII, 129–132).

In seiner Quaestio De usu paupere (QPE IX) sucht Olivi zudem zu belegen, dass neben dem Verzicht auf Besitz in jeder Form auch der Gebrauch der weltlichen Dinge auf höchste Weise eingeschränkt, also arm, von-stattengehen soll, dies unter Rekurs u. a. auf die drei vorgenannten Aspekte der altissima paupertas in QPE VIII. Wie Bonaventura spricht sich Olivi für eine Tren-nung von Besitzrecht und Gebrauch aus. Die Franzis-kaner sollen für den Lebenserhalt notwendige Gegen-stände wie Nahrung und Kleidung wie Sklaven den Besitz ihres Herrn gebrauchen, denen dieser auch nicht im rechtlichen Sinne gehört (QPE VIII, 83; 195).

Auch auf die Geldbörsen Christi und der Jünger, die loculi, geht Olivi ein: Für ihn sind sie ein Zeichen der Kondeszenz Christi im Blick auf die unvollkommenen Menschen: Christus lässt die loculi wie auch u. a. die Furcht vor zeitlichen Dingen bei sich selbst zu, ob-gleich er Kraft seiner göttlichen Natur eigentlich auf beides verzichten könnte (QPE VIII, 181). Überdies besaß Christus die loculi – sozusagen als Prälat – nicht für sich, sondern für andere Notleidende (QPE IX, 52).

Die Diskussion um die Geldbörsen Christi und die strikte Trennung von Besitzrecht und Gebrauch zeigen bereits die Schwachpunkte der franziskanischen Ex-tremposition: Wenn die Spiritualen Lebensnotwendi-ges zu sich nehmen und verbrauchen, aber kein Recht an den verbrauchten Dingen haben, begehen sie dann eine Gesetzesübertretung?

Genau an diesem Punkt der franziskanischen Argu-mentation werden dann Papst Johannes XXII. und an-dere Gegner im 14. Jahrhundert wie z. B. Hervaeus Na-talis und Durandus a Sancto Portiano, die die Armut nicht ins Zentrum ihrer Theorie des Ordenslebens setzten und im Hintergrund deren Auslegungen oft

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Thomas von Aquin stand, den Hebel ansetzen und auf-zeigen, dass bei Verbrauchsgütern wie Essen, Trinken und Kleidung eben keine Differenz zwischen Besitz-recht und Gebrauch besteht. Ihre Substanz wird beim Gebrauch zerstört oder transformiert (Horst 1996, 128–131). Der theoretische Armutsstreit endet damit, dass die Spiritualen in Avignon angeklagt werden; ein Teil ihrer Vordenker (Michael von Cesena, Wilhelm von Ockham, Bonagratia von Bergamo) kann an den Hof des Kaisers, Ludwigs IV., nach München fliehen und von dort eine antipapale Publikationsoffensive be-ginnen, innerhalb deren Ockham beispielsweise Jo-hannes XXII. der Häresie bezichtigt, u. a. weil dieser die Konzeption der franziskanischen Armut, wie sie von Franz von Assisi festgelegt und u. a. durch Papst Nikolaus III. in der Bulle »Exiit qui seminat« (1279) bestätigt war, aufgehoben und erneut zur kritischen Diskussion freigegeben hat (Miethke 2012).

Tatsächlich zeigt sich, dass die franziskanische Ar-gumentation durchaus Schwachpunkte aufweist, wie-wohl sie für viele, auch Laien, anziehend erschien. Oli-vi kann man eher noch als Bonaventura mit Recht als einen Fanatiker der Armut bezeichnen. Aber parado-xerweise war er der erste Theoretiker des Mittelalters, der in einem Traktat über die Verträge den Kapital-begriff in die theologisch-philosophische Debatte ein-führte, die Arbeit der Kaufleute in einem größeren Umfang als z. B. Thomas wertschätzte und weitaus mehr Ausnahmen vom Wucherverbot als andere Denker seiner Zeit zuließ (Rode 2016). Ein franziska-nischer Armutstheoretiker des 13. Jahrhunderts wer-tet so offenbar die traditionelle Ständegesellschaft durch die Apotheose der extremen Armut und des usus pauper um. Zugleich verbünden Denker wie Oli-vi sich mit der neuen aufsteigenden Elite der Händler und Kaufleute, indem sie als ihre Beichtväter und Wirtschaftsprüfer fungieren. Die Mendikanten nä-hern sich der untersten Schicht ihrer Gesellschaft frei-willig und radikaler als andere an, liefern aber zu-gleich den theoretischen Überbau für die florierende Profitwirtschaft der neureichen Elite, die in der alten Ständegesellschaft als wucherisch verpönt war. Später greifen Bernardino von Siena und Antonin von Flo-renz (15. Jahrhundert) erfolgreich auf die neuen öko-nomischen Theorien Olivis zurück.

Was ersehen wir angesichts der hochmittelalterli-chen Debatten allgemein für das Verhältnis der losophie zur Armut? Zum einen zeigt sich, dass die Phi-losophie überhaupt unfreiwillige Armut als Phäno-men, das z. B. durch Almosen behoben werden sollte, ernst zu nehmen hat. Jedoch ging das Mittelalter nicht

so weit, unfreiwillige Armut als Symptom für Missstän-de Missstän-der Gesamtgesellschaft und ihrer Struktur anzuse-hen; auch ging es den mittelalterlichen Theoretikern der unfreiwilligen Armut nicht um eine Bewegung zur Reform oder gar Revolution der Gesamtgesellschaft, wie man dies seit dem 18. oder 19. Jahrhundert in Eu-ropa kennt. Aber, und dies ist die andere Seite der Me-daille, es gelang der Armutsbewegung der Mendikan-ten, in der freiwilligen Annäherung an die unterste Schicht der mittelalterlichen Gesellschaft die Macht-struktur der traditionellen Ständegesellschaft zu sub-vertieren und neue ökonomische Prozesse wie z. B. die beginnende Kapitalwirtschaft positiv zu begleiten – die philosophische Beschäftigung mit der Armut hat also immer auch das Potenzial, tradierte Gesellschaftsfor-men zu hinterfragen und bestehende Wirtschaftsfor-men aufzubrechen. Eine Philosophie des bewussten Verzichts hat große soziale Sprengkraft – das gilt nicht nur für die mittelalterliche Feudalgesellschaft, sondern auch mutatis mutandis für die heutige Zeit.

Literatur

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Horst, Ulrich: Evangelische Armut und Kirche. Thomas von Aquin und die Armutskontroversen des 13. und begin-nenden 14. Jahrhunderts. Berlin 1992.

Horst, Ulrich: Evangelische Armut und päpstliches Lehramt.

Minoritentheologen im Konflikt mit Papst Johannes XXII.

Stuttgart/Berlin/Köln 1996.

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Miethke, Jürgen: Der ›theoretische Armutsstreit‹ im 14. Jahrhundert. In: Heinz-Dieter Heimann/Angelica Hil-sebein/Bernd Schmies/Christoph Stiegemann (Hg.):

Gelobte Armut. Armutskonzepte der franziskanischen Ordensfamilie vom Mittelalter bis in die Gegenwart.

Paderborn/München/Wien/Zürich 2012, 243–283.

Petrus Johannis Olivi (zitiert als QPE VIII): An status altis-sime paupertatis sit simpliciter melior omni statu divitia-rum. In: Johannes Schlageter (Hg.): Das Heil der Armen und das Verderben der Reichen. Werl 1989, 73–201.

II Armut in der Geschichte der Philosophie

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Petrus Johannis Olivi (zitiert als QPE IX): Quaestio de usu paupere. In: David Burr (Hg.): De usu paupere. The quaes-tio and the Tractatus. Florenz/Perth 1992, 3–85.

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Rode, Christian: Thomas Aquinas and Peter of John Olivi on Totality and Hylomorphism. In: Fabrizio Amerini/Ric-cardo Strobino/Massimo Mugnai (Hg.): Mereology in Medieval Logic and Metaphysics. Proceedings of the 21st European Symposium of Medieval Logic and Semantics, Pisa, Scuola Normale Superiore, 30 June – 5 July 2016.

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1897–1899.

Zankanella, Ulrich: Clara – Elisabeth – Agnes. Frauen deu-ten die Franziskanische Armut im gesellschaftspolitischen Kontext. In: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 92 (2008), 433–438.

Christian Rode

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