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III Armut in philosophischen Traditionen

24 Feministische Philosophie und Armut

24.4 Feministisch­philosophische Vor

schläge zur Überwindung der Armut Warum sind gerade Frauen auf so vielen Ebenen ex-trem verwundbar? Jaggar (2014, 171) hinterfragt die Ausbeutung durch neoliberale Wirtschaftspraktiken, inwieweit wir an der Ausbeutung der »distant stran-gers« beteiligt sind, die wir nicht kennen, deren Men-schenwürde zu achten aber dennoch unsere Pflicht ist.

Sie fordert, die globale Ungerechtigkeit, verursacht durch den Neoliberalismus, in den Blick zu rücken, und stellt die Schuldensummen infrage, die arme Län-der im Süden angeblich internationalen Kreditinstitu-tionen und einigen reichen Ländern im Norden schul-den. Viele von den vermeintlichen Rückzahlungsver-pflichtungen sind ›moralisch‹ nicht verpflichtend. Die neoliberale globale Wirtschaftsform hat viele Länder des Südens durch den Raubbau an ihren Ressourcen dazu gezwungen, Kredite aufzunehmen. Während der Kolonialzeit wurde den Ländern des Südens so viel von ihrem Reichtum und ihren Ressourcen genom-men, dass diese nicht mehr das nötige Kapital besa-ßen, um in neue Infrastrukturen zu investieren. Aus feministischer Sicht ist das Berechnungssystem für die Schulden jedenfalls zu hinterfragen, da es in großem Umfang den Beitrag von Frauen aus dem Süden außer Acht lässt, wodurch die Frauen weitaus größere Last zu tragen haben. Das neoliberale Wirtschaftssystem verkennt die Werte, die südliche Länder an die Wirt-schaft der Industrienationen abtreten, besonders jene Leistungen der Frauen des Südens. »Wenn man die Kosten von Sklaverei und Kolonialismus in Betracht zieht, erscheinen sog. Hilfszahlungen des Nordens an den Süden weniger als Wohltat und mehr als Reparati-onszahlung« (Jaggar 2001, 98). Selbst die völlige Strei-chung der angeblichen Schulden wäre noch längst kei-ne wirtschaftliche Gerechtigkeit. Diese würde bedeu-ten, dass riesige Summen in die andere Richtung flie-ßen sollten, aber wer achtet darauf, ob die in Armut geratenen Frauen diese Gelder auch bekommen? Der Norden müsste sich bemühen, eine große Schuld gut-zumachen. »In erster Linie wegen der logischen In-konsequenz und erst in zweiter Linie wegen der extre-men Härte, die die Rückzahlung der Schulden für die verletzlichsten Menschen der Welt bedeutet«, verlangt

Jaggar, die angeblichen Schulden des Südens zu strei-chen (ebd., 99).

Eine radikale Aufforderung zu einem neuen Frau-enstreik zur Beendigung armutsfördernder Politik le-gen Aruzza, Bhattacharya und Fraser (2019) in ihrem Manifest Feminismus für die 99 % vor. Dies richtet sich gegen den Neoliberalismus als räuberische Spiel-art des Kapitalismus. Sie diagnostizieren eine Krise und erläutern die zahlreich auftretenden Leiden und gesellschaftspolitischen Verwerfungen als verschiede-ne Symptome eiverschiede-nes Grundproblems. Sie gehen auf das Gesellschaftssystem zurück, das diese Verzerrungen nicht zufällig, sondern strukturell verursacht: den Ka-pitalismus. Im Zentrum steht das Plädoyer für einen neuen Frauenstreik. Es gilt zu untersuchen, was über-haupt als Arbeit gilt, wer Arbeiter*in ist. Arbeit um-fasst nicht bloß Lohnarbeit, sondern geschlechtsspe-zifische unbezahlte Arbeit innerhalb der kapitalisti-schen Gesellschaft (so oft verbunden mit sexualisierter Gewalt, Belästigung, Übergriffen). Der neue Frauen-streik ist »feministisch, internationalistisch, öko-logisch und antirassistisch« (ebd., 18). Die Forderung

»Brot und Rosen« wird aufgegriffen, gefordert werden Brot, das so vielen Menschen durch neoliberale Gesell-schaftsordnung geraubt wird, und Schönheit eines für so viele in Armut lebenden Menschen nicht zu ver-wirklichenden gelingenden Lebens. Feminist*innen geht es in ihren Kämpfen auch um die »Messer- und Gabelfrage« (ebd., 92): gerechter Lohn als Basis für die Verwirklichung eines guten Lebens ohne Hunger und Entbehrung. Der Feminismus der 99 % fordert das Wohlergehen und die Rechte der Vielen: armer Frau-en, Arbeiter*innFrau-en, rassifizierter und migrantischer Frauen, LGBTIQ und Menschen mit Beeinträchtigun-gen. Gefordert ist reproduktive Gerechtigkeit, basie-rend auf kostenlosen, nicht gewinnorientierten Ge-sundheitssystemen, das Ende von rassistischen und eugenischen medizinischen Praktiken. Rechtliche For-derungen gegen geschlechtsspezifische Gewalt sind jedoch nur wirksam, wenn gleichzeitig der strukturel-le Sexismus und Rassismus der Strafjustizsysteme ins Auge gefasst wird (Polizeigewalt, Masseninhaftierung, Abschiebedrohungen). Sexismus ist ein intrinsisches Element kapitalistischer Gesellschaftsordnung. Pro-duktionsarbeit wird von ReproPro-duktionsarbeit ge-trennt, wobei Letztere Ersterer untergeordnet wird.

Reproduktionsarbeit umfasst nicht nur den biologi-schen Aspekt, sondern kulturelle und gesellschaftliche Reproduktion, was jedoch verschleiert wird. Die Orga-nisation der gesellschaftlichen Reproduktion beruht auf hierarchischem Geschlechtsregime. Gefordert ist

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eine intersektionale Perspektive auf kapitalistische Un-rechtsstrukturen (Klasse, Ethnie, Gender, sexuelle Ori-entierung, Biopolitik; die globale Arbeiter*innenklas-se umfasst Migrant*innen, rassifizierte Menschen, Frauen, Cis- und Transfrauen). Wichtig ist auch das Problem der Care Chains: Menschen aus den reichen Ländern leisten sich Dienste ausgebeuteter Frauen als Pfleger*innen, Haushaltshilfen, Leihmütter etc.

Noch grundlegender ist die Analyse von Armut und Benachteiligung evozierender gesellschaftspolitischer Strukturen von Nadja Meisterhans (2015). Sie verbin-det eine politik- und sozialphilosophische Unter-suchung kapitalistischer Verwerfungen mit einer psy-choanalytischen Gesellschaftskritik. Sie fokussiert das Phänomen Philanthrokapitalismus, das neoliberaler Politik inhärent ist. Reiche Unternehmer*innen legen ihr Geld in Stiftungen an, veranstalten Charity-Aktio-nen, verteilen Geld an arme und strukturell benachtei-ligte Menschen; diesen Projekten inhärent ist eine auf Entpolitisierung ausgerichtete Herrschaftsstrategie, um »kulturelle Überlegenheit zu demonstrieren und den Kapitalismus als ethisch anerkennungswürdige Form des Wirtschaftens zu präsentieren« (ebd., 80).

Diese philanthrokapitalistischen Projekte als Aus-druck einer neoliberalen undemokratischen Antipoli-tik verleugnen die dem Neoliberalismus innewohnen-den Gewaltstrukturen (vgl. ebd., 82). In einem weite-ren Schritt greift sie auf psychoanalytische Kategorien zurück (Lacan, Žižek), um zu erhellen, »inwiefern bes-ser Situierte in der Rolle des/der Spenders/in im Rah-men von philanthrokapitalistischen Projekten ideo-logisch angerufen werden, globale Ungleichheitsver-hältnisse, auf narzisstische Weise zu genießen« (ebd., 83). Der Gestus der Hilfe wird von neoliberalen Regie-rungsregimes inszeniert, »um sich in der krisenhaften Situation selbst zu legitimieren und von den eigenen Verstrickungen und Verantwortlichkeiten ablenken«

zu können (ebd., 94). Meisterhans’ Vorschlag: »Die ei-gene Subjektdeformation im Rahmen der ideologi-schen Anrufung durchzuarbeiten, wäre gerade die ent-scheidende Transformation hin zu einer politischen Subjektivität, die auf der Praxis des widerständigen und konkret utopischen Denkens beruht [...]« (ebd., 96). Ihr Appell geht in Richtung Repolitisierung des Subjekts, um eine Basis für emanzipatorische politi-sche Phantasien zu entwickeln.

Als letzter Punkt philosophischer Grundlegung von Lösungsansätzen zur Überwindung bitterster Ar-mut soll das Konzept des Health Impact Fund skiz-ziert werden, das vielversprechend ist gerade für Frau-en, um Zugang zu Medikamenten zu erhalten.

Auf dem Boden der Menschenrechte entwickelt Thomas Pogge ein Projekt der Förderung der Erfor-schung und Produktion neuer Medikamente nach dem Prinzip des Nutzens des gemessenen Gesund-heitsgewinns. Sein Projekt Health Impact Fund (HIF) soll helfen, den ärmsten Menschen auf der Welt den Zugang zu hochqualifizierten Medikamenten zu er-möglichen. Dies ist besonders auch für Frauen und Kinder von großer Bedeutung. Hier könnten feminis-tische Philosoph*innen anschließen. Der HIF ist eine staatlich finanzierte Regelung von leistungsorientier-ten Ausschüttungen für Pharmaunternehmen und würde die Entwicklung neuer Medikamente mit gro-ßen Gesundheitsauswirkungen fördern, vor allem ge-gen Krankheiten, unter denen die armen Menschen leiden und die bis dato von den Pharmafirmen ver-nachlässigt werden.

»Durch die Option einer alternativen Belohnung, die sich nach den Gesundheitswirkungen richtet, würden bislang vernachlässigte Krankheiten zu lukrativen For-schungsfeldern werden. Der HIF würde die Versorgung mit neuen Medikamenten fördern, indem er den Preis jedes gemeldeten Medikaments auf das Niveau der ge-ringsten möglichen Produktions- und Vertriebskosten beschränkt. Zudem würde der HIF meldenden Urhe-bern Anreize bieten, die breite Verfügbarkeit zu viel-leicht sogar noch niedrigeren Preisen ebenso sicher-zustellen wie die optimale Verwendung ihres Produkts.

Unternehmen, die Medikamente beim HIF melden, werden nicht nur für den Verkauf ihres Produkts be-lohnt, sondern für dessen Beitrag zur Verbesserung der globalen Gesundheitssituation« (Pogge 2011, 275; vgl.

Hollis/Pogge o. J.).

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XHUB-Print-Workflow | 01_HB_Schweiger_Armut_05739__{Druck-PDF} | 12.03.21

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Brigitte Buchhammer

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