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Bedürfnisse und Armutsbekämpfung Jede Politik, die auf die Bekämpfung oder gar

4 Bedürfnisse und Armut

4.4 Bedürfnisse und Armutsbekämpfung Jede Politik, die auf die Bekämpfung oder gar

Beseiti-gung von Armut abzielt, muss erstens die Frage beant-worten, welche Bedürfnisse als grundlegender ein-zustufen sind, so dass ihre Befriedigung als dringen-der gilt und ihrerseits zur Befriedigung weiterer Be-dürfnisse führen kann; sie muss zweitens dazu Stellung nehmen, ob sie die entsprechenden Befriedi-gungsmittel direkt oder indirekt zur Verfügung stellen will bzw. ob sie lieber eine Strategie verfolgt, die beide Arten von Intervention vorsieht. Die Beantwortung solcher Fragen stellt jedoch eine Stellungnahme be-züglich einer noch weiter gehenden Frage voraus, nämlich der nach der normativen Begründung von sozialen Politiken überhaupt. Wieso soll die Gesell-schaft ihren Mitgliedern dabei helfen, ihre Bedürfnis-se zu befriedigen?

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Nach Richard Titmuss dienen alle sozial produzier-ten Güter und Leistungen dazu, gesellschaftlich aner-kannte Bedürfnisse zu befriedigen. Dies zeigt seiner Meinung nach, wie schwer es ist, rein individuelle, subjektive und soziale, intersubjektiv definierte Be-dürfnisse auseinanderzuhalten (Titmuss 2001, 62). Je-des Bedürfnis kann insofern Gegenstand sozialer Po-litik werden, als seine Befriedigung als ein notwendi-ges Moment sozialer Reproduktion gilt. Aus dieser Perspektive betrachtet, scheint aber die soziale Bereit-stellung von Befriedigungsmitteln eher dem Über-leben der Gesellschaft im Ganzen als dem Wohl ihrer einzelnen Mitglieder zu dienen. Es geht hier in erster Linie eher um die Aufrechterhaltung des sozialen Pak-tes als um die Befriedigung individueller Bedürfnisse.

Es ist, als ob die Gesellschaft die Bereitstellung der Be-friedigungsmittel in erster Linie sich selbst und nur mittelbar ihren Mitgliedern schuldet.

Dies weist auf eine wichtige Unterscheidung zwi-schen zwei Betrachtungsweisen über Bedürfnisse im Allgemeinen und über Armut im Besonderen hin. Ar-mut und damit die fehlende oder mangelnde Befriedi-gung der Bedürfnisse von in Armut lebenden Men-schen können vorwiegend als individuelles oder als soziales Problem angesehen werden. Aus der ersten Perspektive verdienen Individuen soziale Hilfe, weil sie qua Menschen ein Anrecht auf ein würdevolles Le-ben haLe-ben; aus der zweiten ist die Gesellschaft sich selbst gegenüber verpflichtet, ihren ärmeren Mitglie-dern zu helfen, weil sie sonst in ihrem Bestehen ge-fährdet ist. Parallel zu dieser Unterscheidung kann ei-ne weitere eingeführt werden, nämlich die zwischen zwei verschiedenen Perspektiven der Ursachen von Armut. Diese können hauptsächlich in den besonde-ren biographischen Umständen, unter denen Indivi-duen leben, oder in den sozialen Strukturen, die u. a.

für die ungleiche Verteilung von Macht und Ressour-cen innerhalb der Gesellschaft verantwortlich sind, erkannt werden. Wird Armut auf individuelle Ursa-chen zurückgeführt, zielen soziale Maßnahmen meis-tens auf die Ermächtigung (Empowerment) von Indi-viduen ab: Sie sollen imstande sein, die eigenen Be-dürfnisse selbständig zu befriedigen. Bei dieser Art von Erklärungsmuster tendieren Regierungen häufig dazu, ihre Hoffnungen eher auf den Markt als auf di-rekte öffentliche Intervention zu setzen: Anstatt Sozi-alwohnungen zu bauen, wird z. B. auf staatlich sub-ventionierten Wohnungsbaukredit gesetzt. Werden hingegen soziale Erklärungen vorgezogen, versucht man generell auf die sozialen Ursachen von Armut durch gezielte staatliche Aktion zu wirken.

Individuel-le Bedürfnisse werden als soziaIndividuel-le Bedürfnisse angese-hen, deren Befriedigung von den Mitteln abhängt, die soziale, vor allem aber politische Institutionen bereit-stellen. Damit stellen sozial definierte Bedürfnisse die Basis für den Wohlfahrtsstaat und für weitgehende Maßnahmen dar, die auf die Beseitigung von Armut abzielen (Doyal/Gough 1991; Titmuss 2001; Hamil-ton 2003). Die Bekämpfung von Armut wird dann im Namen der Befriedigung von Bedürfnissen jener ge-führt, die über die dazu notwendigen Mittel aufgrund der ungleichen Verteilung von gesellschaftlichen Res-sourcen nicht verfügen.

In dieser Hinsicht unterscheidet Hartley Dean (2010) vier mögliche Ansätze, aus denen Bedürfnisse und auf Bedürfnisbefriedigung abzielende soziale Po-litiken betrachtet werden können. Denen entsprechen vier unterschiedliche Weisen, Armut zu charakterisie-ren und die Mittel zu ihrer Bekämpfung zu definiecharakterisie-ren.

1) Der moralistische oder moralisch-autoritäre An-satz fokussiert auf Leistung und Verdienst. Bedürfnis-se werden als die Bedingungen aufgefasst, die Men-schen erfüllen müssen, um ein würdevolles Leben zu führen. Individuen sind danach für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse verantwortlich und dürfen zwar Anerkennung für ihre Leistung, aber keine unverdien-te Hilfe von anderen erwarunverdien-ten. Dieser Ansatz charak-terisiert die Position derjenigen, die von Thomas Mal-thus (1977 [1798]) zu Charles Murray (1984) meinen, dass arme Menschen die Schuld für ihre Lage und für die Unfähigkeit, ihre Grundbedürfnisse angemessen zu befriedigen, selbst tragen, so dass die Gesellschaft nicht nur keineswegs verpflichtet ist, ihnen zu helfen, sondern davon Abstand nehmen sollte, denn jede Hil-fe würde von den Armen als Anreiz zur Verantwor-tungslosigkeit und zur Faulheit erlebt. 2) Der öko-nomistische Ansatz interpretiert Bedürfnisse im Lich-te der durch ihre Befriedigung entsLich-tehenden Möglich-keiten, individuelle Präferenzen zu erfüllen. Es geht somit um die Erweiterung der Chancen, das eigene Wohl zu vermehren. Was Menschen wirklich brau-chen, ist danach, ihr soziales Kapital zu erweitern (Be-cker 1964; Putnam 2001). 3) Der paternalistische An-satz ist eher um sozialen Frieden und gesellschaftliche Ordnung als um individuelles Wohl bemüht. Armut stellt danach einen Risikofaktor für soziale Unruhe dar und setzt Gesellschaftsmitglieder der Gefahr aus, in einen Zustand moralischer Korruption zu verfallen.

4) Der humanistische Ansatz sieht hingegen die Be-friedigung von Bedürfnissen als Ausdruck individuel-ler Autonomie. Ihre Befriedigung ist ein wesentliches Moment menschlicher Freiheit. Wenn eine

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schaft Freiheit schätzt, ist sie verpflichtet, ihren Mit-gliedern die konkrete Möglichkeit anzubieten, ihre Bedürfnisse insofern zu befriedigen, als dies für die Weiterentwicklung ihrer persönlichen Autonomie notwendig ist. Die Befriedigung von Bedürfnissen wird somit zu einem wesentlichen Bestandteil nicht nur eines materiell gedachten Wohls, sondern darüber hinaus einer autonomen, wirklich humanen Lebens-führung.

Es bleibt allerdings nicht nur die Frage offen, welche Bedürfnisse durch soziale Intervention befriedigt wer-den sollen, sondern auch die weitere Frage, wieweit diese Intervention reichen soll. Sollen nur die grund-legenden Bedürfnisse, die mit physischem Überleben zusammenhängen, oder auch nicht-materielle Bedürf-nisse berücksichtigt werden? Und bis zu welchem Punkt ist die Gesellschaft zu deren Befriedigung ver-pflichtet? Ist es genug, wenn sie z. B. dafür sorgt, dass jedes Individuum die notwendigen Kalorien pro Tag bekommt, oder soll sie sichern, dass die Menschen langfristig imstande sind, Zugang zu angemessener Ernährung zu haben? Viele Theorien beantworten die-se Fragen dadurch, dass sie eine Grenzlinie oder Schwelle der Befriedigung setzen: Institutionen sind verpflichtet, den Individuen zu helfen, diese Schwelle zu erreichen; darüber hinaus besteht jedoch für sie kei-ne weitere Verpflichtung (diese Position wird auf Eng-lisch als sufficientarianism bezeichnet; s. Axelsen/Niel-sen 2015 und Meyer/Pölzler 2020). Das bedeutet, dass eine Gesellschaft verpflichtet ist, die Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Mitglieder nur bis zu einem gewis-sen Punkt zu sichern. Das Problem mit dieser Position ist es, dass die Definition der Schwelle keineswegs un-problematisch ist. Verlässt man jedoch die Ebene der Theorie und begibt sich auf das Terrain praktischer Maßnahmen, ist es durchaus möglich, die Bedürfnisse zu identifizieren, die im Rahmen einer bestimmten Gesellschaft als Bedürfnisse gelten, deren Befriedi-gungsmittel sozial bereitgestellt werden sollen. Wenn man z. B. die verschiedenen Typen von welfare state betrachtet, kann man feststellen, dass nationale Gesell-schaften unterschiedliche Antworte auf die Frage ge-ben, wann die Befriediung bestimmter Bedürfnisse ei-ne direkte Intervention des Staates rechfertigt, oder wann sie den »freien« Kräften des Marktes überlassen werden soll (vgl. Esping-Andersen 1990). Dies weist nochmals auf den am Anfang dieses Kapitels erwähn-ten Unterschied zwischen absoluter und relativer Ar-mut sowie auch auf den politischen Charakter der De-finition der sozial zu befriedigenden Bedürfnisse hin.

Damit wird die Debatte über Bedürfnisse endgültig

im Bereich des Politischen situiert, ohne dass man da-bei auf eine fragwürdig gewordene Idee von mensch-licher Natur zurückgreifen sollte. Die Festle gung der Bedürfnisse, die durch sozial bereitgestellte Mittel be-friedigt werden sollen, wird somit zum Gegenstand nicht der philosophischen, sondern der politischen Debatte, obvwohl diese selbstverständlich auch ethi-sche Aspekte berücksichtigen und letzlich eine be-stimmte Stellung dazu nehmen soll (etwa eine dem suf-ficientarianism verpflichtete oder eine, die der Vermei-dung von Schaden gemäß einer hierarchische Theorie der Bedürfnisse den Vorrang gibt).

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Alessandro Pinzani 4 Bedürfnisse und Armut