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Armut in der Philosophie der Neuzeit III (französischsprachige

alterlichen Philosophie

15 Armut in der Philosophie der Neuzeit III (französischsprachige

Aufklärung)

Armut ist weder im 18. Jahrhundert ein neues Thema noch ein primärer Gegenstand der französischen Aufklärung, sondern ein wichtiges, obgleich indirek-tes Thema der kontroversen Debatten der Aufklärung.

In seinem kurzen Artikel »Arm, Armut« der Ency-clopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers liefert Jaucourt eine semantische Be-griffsklärung, die auf mehrere Dimensionen der Aus-einandersetzung der Aufklärung mit der Armut ver-weist, deren Zusammenhang die diesbezügliche Ei-gentümlichkeit der französischsprachigen Aufklärung strukturiert.

Erstens enthält Jaucourts Artikel einen impliziten Verweis auf die Begründung der christlich gebotenen Almosen sowie des Notrechts (ius necessitatis) und des Rechts des unschädlichen Gebrauchs (ius innoxiae), die in den neuzeitlichen Naturrechtslehren enthalten sind. Jaucourt schreibt:

»Mose empfiehlt eine besondere Fürsorge für diese Personen [für die Armen]: Er wollte, [...] dass man für sie in den Äckern und Weinbergen etwas liegen und auf den Bäumen etwas hängen lässt (Jaucourt 1765, Bd. 12, 209).«

Im frühneuzeitlichen Naturrecht wird die Einführung des Privateigentums zwar begründet, jedoch nur in menschlichen Lastern, welche das Fortbestehen des ursprünglichen dominium terrae unmöglich machen.

Faulheit, Habgier, Neid usw. führen nämlich zum Streit zwischen den Menschen, so dass die Erde, die Gott ihnen mit dem Gebot gegeben hat, sie gemeinsam zu pflegen und fruchtbar zu machen, nicht mehr ge-meinsam gepflegt werden konnte. Daher musste die zweitbeste Lösung angenommen werden, dass jeder sein Eigentum pflegen und gedeihen lässt und fremdes Eigentum respektiert. Aus dem dominium terrae ergibt sich auch die Einschränkung des Eigentums: Auch die-jenigen ohne Eigentum haben Ansprüche auf die Erde, zumindest indem sie etwa im äußersten Notfall – d. h.

wenn der Hungertod unmittelbar bevorsteht – Zugang zu den Früchten fremden Eigentums bzw. ein Recht auf Subsistenz haben. Auf dem dominium terrae be-ruht vier Jahre später Rousseaus Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen: »Ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt,

daß die Früchte allen gehören und daß die Erde nie-mandem gehört!« (Rousseau 1998, 74).

Zweitens wird Armut – anders als etwa in der heuti-gen Definition der Armut als Verfügung über ein Ein-kommen von weniger als n% des MedianeinEin-kommens – nicht durch ein Einkommensniveau definiert, son-dern als »Zustand der Bedürftigkeit« (indigence), »in dem fremde Hilfe gebraucht wird, weil man seinen Le-bensunterhalt nicht durch seine Arbeit verdienen kann«, z. B. wegen Arbeitslosigkeit oder weil die Ar-beit zu wenig bezahlt wird.

Drittens wird auch derjenige Mensch als »arm« be-zeichnet, der »humble« und »gramvoll« (affligé) ist.

Unter dem französischen Adjektiv »humble« kann man sowohl die »humiles humiliores« der Antike, d. h. Menschen niedrigerer Abstammung, als auch die christliche Demut »humilitas« verstehen. Im berühm-ten Eintrag seiner Charaktere »Les biens de fortune«

(»Über die Güter, die man dem Zufall verdankt«) be-schreibt der Moralist Jean de La Bruyère das Leben der Tagelöhner*innen der damaligen Landwirtschaft als dasjenige von wilden, zu dem Boden gebeugten Tie-ren, deren elende Existenz stets auf das Überleben be-schränkt ist, kontrastiert es mit dem Leben der Genüs-se der Reichen und äußert Genüs-sein tiefes EntGenüs-setzen über diese unwürdigen Missstände.

Viertens verweist Jaucourt auf »die im Geist Armen, die Jesus Christus für glückselig erklärt (Matthäus 5:3)«, und erläutert, dass ihre Glückseligkeit darin be-steht, dass sie »nicht durch die Begierde zu den Reich-tümern und durch Habsucht besessen sind.« In einem ähnlichen Sinn verweist der Physiokrat Mirabeau da-rauf, dass »freiwillige Armut keine Armut« sei; im Ge-genteil sei sie »Reichtum, da sie im Verzicht nicht auf das Nötige, sondern auf frivole Ausgaben besteht« (Mi-rabeau 1768, 86). Die Aufklärer*innen thematisieren jedoch kaum die Gutheit bzw. die Unschuld solcher im Geist armen Menschen, vermutlich weil sie sie sicher-lich für eine Seltenheit halten. Die Aufklärung verneint außerdem, dass unter den bestehenden Gesellschafts-zuständen die Armen einen solchen guten Charakter haben bzw. haben können. Helvétius behauptet, dass

»die Tugend eines Volkes [...] fast immer eine Tugend aus Notwendigkeit« sei (Helvétius 1976, 296). Rous-seau verortet die echte Unschuld im Naturzustand, d. h. vor den ersten Schritten zur Errichtung der Ge-sellschaft. Armut hat für die Aufklärung zwar auch eine geistige Dimension, aber in einem ganz anderen Sinne:

Arme verstehen die wirtschaftspolitischen Ursachen ihrer Armut nicht und reagieren aus Vorurteilen auf Hungersnöte auf eine Weise, die Hungersnöte sogar II Armut in der Geschichte der Philosophie

J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2021

Schweiger/Sedmak (Hg.), Handbuch Philosophie und Armut, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05739-6_15

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verschärfen kann und dazu führen kann, dass sie sich wiederholen. Eine Verbesserung der Lage der Armen erwartet die Aufklärung von wirtschaftspolitischen Reformen, die die allgemeine Bereicherung der Gesell-schaft und die Verbreitung des Luxus erzielen sollen, was das primäre Anliegen der Aufklärung darstellt (der französische Aufklärer Condorcet steht diesbezüglich dem schottischen Aufklärer Smith nahe: vgl. Roth-schild 2001 und Stedman Jones 2005).

In dem Artikel »Luxus« der o. g. Encyclopédie er-klärt François de Saint-Lambert die zentrale Rolle des Luxus für die aufklärerische Auffassung die Gesell-schaft:

»Der Luxus ist der Gebrauch der Reichtümer und der Arbeit, um sich ein angenehmes Leben zu verschaffen.

Die Erstursache des Luxus ist die Unzufriedenheit mit unserem Zustand, das Begehren eines besseren Zu-standes, welches sich in allen Menschen befindet und befinden soll. Es ist die Ursache ihrer Leidenschaften, ihrer Tugenden und ihrer Laster. Dieses Begehren führt sie notwendigerweise dazu, die Reichtümer zu begeh-ren und anzustreben. Das Begehbegeh-ren, sich zu berei-chern, muss daher zur Motivation jeder Regierung ge-hören, die nicht auf der Gleichheit und der Güter-gemeinschaft beruht. [...] Luxus gibt es in allen Län-dern« (Saint-Lambert 1765, 1–2).

Darin liegt das Anliegen der Aufklärung, das in ihrer Auffassung des Ursprungs und des Zwecks der Gesell-schaft gründet. Der Ursprung und der Zweck der Ge-sellschaft beruhen nämlich nach der französischspra-chigen Aufklärung im Allgemeinen auf eudämonis-tischen Grundlagen. Dabei gibt es unterschiedliche Arten von Eudämonismus in der Aufklärung.

Eine erste Art von Eudämonismus wird durch die von Leibniz inspirierten Lehren der Vollkommenheit, z. B. in der westschweizerischen Naturrechtslehre ver-treten. Vattel behauptet:

»Von Natur aus ist der Mensch so, dass er sich selbst nicht genügen kann und dass er notwendigerweise die Hilfe und den Austausch [commerce im Sinne vom sto-ischen commercium] seinesgleichen braucht, entwe-der um sich zu erhalten, oentwe-der um sich zu vervollkomm-nen [se perfectionner] und so zu leben wie es sich für ein vernünftiges Tier gehört« (Vattel 1758, 5).

Eine zweite Art von Eudämonismus wird durch den Naturalismus bzw. durch den Sensualismus vertreten, z. B. von D’Holbach:

»Indem die Natur den Menschen empfindsam mach-te, rief sie in ihm die Neigung zur Lust und die Furcht vor dem Schmerz. [...] Die Vernunft besteht nur aus der Erkenntnis desjenigen, was uns nützlich bzw. schäd-lich ist, die aus der Erfahrung und der Überlegung stammt (D’Holbach 1971, 3).«

Ähnlich sieht es Helvétius:

»Um sich zu kleiden, um seine Geliebte oder seine Frau zu schmücken und ihnen Zerstreuung zu verschaffen, um sich und seine Familie zu ernähren: kurz, um das mit der Befriedigung der physischen Bedürfnisse vbundene Vergnügen zu genießen, darum denken, er-finden und arbeiten der Handwerker und der Bauer.

Das physische Empfindungsvermögen ist also die ein-zige Triebkraft des Menschen« (Helvétius 1976, 84).

Eine dritte Art von Eudämonismus liegt Rousseaus Gesellschaftskritik zugrunde, die das Glück in einem bescheidenen Leben ohne Abhängigkeit der Men-schen voneinander sieht.

»[...] solange [die Menschen] sich nur Arbeiten zu-wandten, die einer allein ausführen konnte, und nur solchen handwerklichen Künsten, die nicht das Zu-sammenwirken mehrerer Hände nötig machten, leb-ten sie so frei, gesund, gut und glücklich, wie sie es ih-rer Natur nach sein konnten, und genossen unter-einander weiterhin die Wonnen eines unabhängigen Umgangs miteinander« (Rousseau 1998, 84).

Dieses Glück ist zwar kein vollkommenes Glück, son-dern das Glück, zu dem die Menschen »ihrer Natur nach« fähig sind, u. a. weil der Mensch auch in jenem Zustand die »Sorge um [...] seine Erhaltung« (Rous-seau 1998, 174) hat und den Widrigkeiten der Natur ausgesetzt ist. Das Glück wird von Rousseau nicht durch die bloße Bescheidenheit der verfügbaren Mit-tel definiert, sondern durch fünf Begriffselemente.

Dem ersten physischen Element der o. g. naturalisti-schen Auffassung des Glücks (Lust und die Vermei-dung von Schmerz) werden von Rousseau vier Ele-mente hinzugefügt: zweitens die Gesundheit, der so-wohl der Luxus als auch die Armut schaden, und drit-tens die Bedürftigkeit im Sinne der Abhängigkeit von anderen für seinen Lebensunterhalt. In diesem Sinne erklärt Rousseau seinen Genfer Mitbürgern:

»[...] Ihr seid weder reich genug, um Euch durch Ver-weichlichung zu schwächen und in eitlen

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gen den Sinn für wahres Glück und beständige Tugen-den zu verlieren, noch arm genug, um mehr fremde Hilfe nötig zu haben, als Euch Euer Gewerbefleiß ein-trägt [...]« (Rousseau 1998, 13).

Viertens gehört zum Glück die Tugend der Selbst-bescheidung. Dementsprechend erklärt Rousseau sei-nen Genfer Mitbürgern weiter:

»Was aber Euch betrifft, so ist Euer Glück schon ge-macht; Ihr braucht es nur noch zu genießen; und Ihr müßt, um vollkommen glücklich zu werden, Euch le-diglich damit begnügen können, es zu sein« (ebd., 13).

In diesem Sinne sind sowohl Arme als auch Reiche unglücklich, weil kein Begriffselement des Glücks bei ihnen verwirklicht ist. Eine bestimmte Selbstbeschei-dung gehört zum Glücksbegriff der Aufklärung im Allgemeinen. D’Holbach behauptet etwa:

»Der Arme bildet sich immer ein, dass derjenige, den er in einer eleganten Kutsche prunkvoll angekleidet und umgeben von zahlreichen Lakaien sieht, ein glück-licher Mensch sein muss; er verachtet sich und hält sich für sehr unglücklich, da er arbeiten muss, um zu leben. [...] Seine ursprünglich beschränkten Begierden werden durch seine Phantasie, durch den Wetteifer und den Vergleich zwischen seinem Zustand und dem Zustand der anderen angeheizt und kennen schließ-lich keine Grenzen mehr. [...] Daher wird in einer Nati-on, in der der Luxus entstanden ist, die ungleiche teilung des Reichtums zu einem bedauerlichen Ver-gleichsobjekt für diejenigen, die es am wenigsten be-sitzen [...]« (D’Holbach 1994, 467–468).

Während sich der Genfer Bürger damit bescheidet, nicht reich, sondern sowohl frei als auch nicht arm zu sein, soll sich nach D’Holbach in Frankreich der/die Arme damit bescheiden, arbeiten zu können und nicht reich zu sein. Anders als bei Rousseau liegt bei D’Holbach der Ursprung des Unglücks unter Armen und Reichen dagegen nicht in der Ungleichheit, son-dern teilweise im Neid der Armen. Geboten ist daher eine Selbstbescheidung der Phantasie des Armen.

Teilweise liegt allerdings der Ursprung der Armut auch im Egoismus der Reichen:

»Wenn die Menschen die Güter und Übel der Natur naturgetreu vergemeinschaften würden, wenn jeder seinesgleichen die größtmögliche Hilfe leisten wür-de, wenn, indem er genießt, er die anderen genießen

ließe, so wären die Menschen so glücklich und gleich wie möglich. Der Mensch hat aber einen natürlichen Hang, sich mehr mit seinem Glück als mit demjeni-gen der anderen zu beschäftidemjeni-gen [...]« (D’Holbach 1971, 23).

Nach D’Holbach wurzelt das Unglück des Armen also letztlich in Lastern wie Neid und Egoismus. Nach Rousseau liegt dagegen das Kernproblem des Un-glücks und der damit zusammenhängenden Laster in der gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen: »Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.

Einer hält sich für den Herrn der anderen und bleibt doch mehr Sklave als sie (Rousseau 1977, 5).« Um ge-genseitige Abhängigkeit zu verhindern, gehört daher zum Glück nach Rousseau fünftens auch die relative soziale Gleichheit unter den Menschen. Dem Streit zwischen der Aufklärung und Rousseau über den aku-testen Grad der Armut, d. h. die Hungersnöte, und de-ren Bekämpfung liegt dieser fünfte Punkt zugrunde.

Exemplarisch für die aufklärerische Auffassung der sozialen Ungleichheiten ist z. B. D’Holbachs folgende Darstellung:

»Da die Natur die Menschen hinsichtlich ihrer Körper- und Gemütsverfassung sowie hinsichtlich ihrer geisti-gen Begabungeisti-gen ungleich gemacht hat, muss die Ge-sellschaft für ihren Wohlstand die Menschen ebenfalls unterschiedlich behandeln, und ihre Wertschätzung, Verbundenheit und Belohnungen nach dem Nutzen, d. h. dem Verdienst, den Fähigkeiten und den Tugen-den der einzelnen Bürger bemessen. Daraus ergeben sich verschiedene Klassen von Bürgern [...]. Die Bedürf-nisse einer Nation erfordern es, dass sich die Bürger mit Verschiedenem befassen, so dass ein Austausch von Hilfeleistungen eingerichtet wird, ohne den die Vereinigung nicht fortbestehen könnte. [...] Das Volk, das für seinen Lebensunterhalt arbeiten muss, über-nimmt die mühsamsten Aufgaben, die Landwirt-schaft, den Handel und das Handwerk [...] das Volk ar-beitet für diejenigen, die sich dazu verpflichten, es zu regieren, für die Sicherheit des Volkes zu sorgen, sich für das Volk zu überlegen, sich mit den Bedürfnissen des Volkes zu befassen, die für die Arbeit nötige [bür-gerliche] Ruhe zu sichern und seine Streitigkeiten zu beenden« (D’Holbach 1971, 171–172).

Demnach ist die Ungleichheit unter den Menschen nicht die Ursache der Armut, sondern vielmehr eine Voraussetzung für einen größeren Wohlstand sowohl für Reiche als auch für Arme:

II Armut in der Geschichte der Philosophie

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»In der Gesellschaft besteht alles aus Austausch. Weit davon entfernt, die Quelle aller ihrer Übel zu sein, ist die natürliche Ungleichheit zwischen den Individuen die echte Grundlage ihrer Glückseligkeit« (D’Holbach 1971, 21).

Die Quelle aller Übel verortet die Aufklärung vielmehr in einer schlechten Wirtschaftspolitik – sowie in kost-spieligen Kriegen (vgl. Galiani 1770, 111). Dabei fo-kussiert die Diskussion auf die Ursachen dessen, was für die Armen das größte Übel ist, weil es ihre Selbst-erhaltung unmittelbar gefährdet: auf die Hungersnöte.

Im satirischen Gedicht Voltaires »Le Mondain«

dichtet ein zynischer Aristokrat über Luxus und Ar-mut:

Meinem sehr ekelhaften [immonde] Gemüt ist es sehr süß,

um mich herum den Überfluss zu sehen; [...]

das Überflüssige ist sehr nötig; [...]

Mein lieber Adam, mein lieber Schlemmer, mein güti-ger Vater;

Was tatest du im Paradies?

Arbeitetest Du für die dumme Menschengattung?

Liebkosestest Du mit Madame Eva, meiner Mutter?

Gebt zu, dass ihr beide hattet

Lange Nägel, schwarz und schmutzig [...]

Ohne Sauberkeit ist die glücklichste Liebe

Keine Liebe mehr, sondern ein beschämendes Bedürf-nis.

Zumindest für den aufgeklärten Teil der Aristokratie und des Bürgertums herrscht aber eine andere Stim-mung vor, die z. B. bei Galiani (ebd., 185) zum Aus-druck gebracht wird, zumal im 18. Jahrhundert die Angst vor Aufruhr und Gewalttaten stets präsent ist:

»Während Hungersnöten leiden die Reichen und Ver-mögenden nicht. Händler gewinnen sogar, aber alle zittern bei diesem abscheulichsten Anblick. [...] Das Mitleid dringt in alle Gemüter hinein [...]. Auch wenn nur Einer auf der Straße stirbt, herrscht die Verwüs-tung auf der ganzen Stadt, die gespeist hatte« (Galiani 1770, 185).

»[...] der Staat muss rasche Hilfe leisten, entweder um das Leiden des Volkes zu verhindern oder um zu ver-meiden, das es rebelliert« (Montesquieu 1951, Buch XXIII, Kap. 29, 713).

Für die Armen war die Basis der Ernährung bzw. der Erfüllung des täglichen Kalorienbedarfs das Brot:

Fleisch konnten sie sich sehr selten leisten, der Anbau der Kartoffeln in bedeutendem Ausmaß begann in Frankreich erst 1783. Hungersnöte entstanden, als nicht mehr genug Getreide auf dem Markt erhältlich war und das Brot für die Armen mit der Einkunft aus ihrer Arbeit nicht mehr erschwinglich war. Oft erfolg-te dies nach einer Dürre. Nicht selerfolg-ten geschahen Auf-ruhr und Gewalttaten gegen Getreidehändler. Auch die Entwicklung der Manufakturen von Luxusgütern wurde kritisiert. Der wirtschaftspolitische Umgang damit war der Gegenstand des öffentlichen Streits der 1760er Jahre über »le commerce des bleds« (bleds, nicht im engen Sinne von Weizen [heute blé], sondern im alten Sinne von ›Getreide‹, vgl. Galiani 1770, 131).

Fast überall in Europa herrschten erhebliche Ein-schränkungen von Getreideausfuhren, die als Maß-nahmen gegen Hungersnöte gedacht waren, sowie Be-schlagnahmungen von Getreidevorräten bei Getrei-dehändlern. Die Aufklärung nahm mehrheitlich Stel-lung zugunsten der Handelsfreiheit. In Frankreich wurde die Freiheit des Getreidehandels zwischen den Regionen durch eine Erklärung von 1763 und die Freiheit der Getreideausfuhren durch ein Edikt von 1764 erlangt. Bis Turgot, ein Aufklärer und Autor von Artikeln der o. g. Encyclopédie ou Dictionnaire raison-né des sciences, des arts et des métiers, Finanzminister wurde, und ein neues Edikt verfasste, dauerten dies-bezüglich sowohl eine öffentliche Streitdebatte als auch ein Streit zwischen dem König und dem Pariser Parlament an. Die Auffassung der Aufklärer wird exemplarisch in Galianis Dialogues sur le commerce des bleds (ebd.) zum Ausdruck gebracht, in denen ein Markgraf (marquis) die traditionellen Einschränkun-gen vertritt und ein Ritter (chevalier) für die Handels-freiheit plädiert:

Der Markgraf: Worauf führen Sie sie [eine Hungersnot]

zurück?

Der Ritter: Auf menschliche Fehler.

Der Markgraf: Was hat man unternommen, um sie zu beheben?

Der Ritter: Man hat weitere Fehler gemacht, die diese Fehler nur noch verstärkt haben.

Der Markgraf: Ihre Antworten sind lapidar.

Der Ritter: Sie enthalten doch die gesamte Geschichte aller Hungersnöte seit Adam (ebd., 3).

Mit dem zweitgenannten Fehler sind die Einschrän-kungen des Getreidehandels gemeint. Der erstgenann-te Fehler bezieht sich auf die Landwirtschaft, die die Physiokraten, deren Hauptvertreter François Quesnay

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ist, nach wissenschaftlichen Kenntnissen und auf Kos-ten der Unabhängigkeit vieler kleiner Halbpächter ef-fizienter machen wollen. Dies sei der Schlüssel des all-gemeinen Gedeihens, weil nur die Landwirtschaft wirklich produziere und daher nur sie die Mittel zur Entwicklung der Industrie und des Luxus zur Ver-fügung stelle. (Hier sei die Debatte zwischen Befür-wortung und Ablehnung der Förderung des Luxus dahingestellt, weil die meisten Autor*innen je nach der damaligen Lage der einzelnen Staaten differen-zieren, vgl. z. B. der Ritter bei Galiani 1770, 112 und 115; Helvétius 1976, 307; Montesquieu 1951, Buch VI, Kap. VI).

Mit Vertreter*innen der Gegenthese, dass die In-dustrie zur Produktion und zur Vermehrung des Reichtums effizienter beiträgt als die Landwirtschaft, teilt die Physiokratie dennoch die Auffassung, dass unter der Bedingung der Handelsfreiheit ein natürli-ches Gleichgewicht zwischen dem Preis des Brots und dem Einkommen der armen landwirtschaftlichen Ar-beiter bestehe, so dass keine Hungersnot mehr statt-finden kann. Quesnay behauptet 1757 in Bezug auf die Handelsfreiheit für Getreide in England:

»[...] dank der Handelsfreiheit fanden in den letzten Jahren keine übertriebenen Preisschwankungen statt und das Land erlitt weder Hungersnöte noch Wertver-luste. Diese Preisstabilität der Getreide stellt einen großen Vorteil für die Unterstützung der Landwirt-schaft dar« (Quesnay 1888, 176).

Ähnlich sehen Turgot und Condorcet die Ursache von Hungersnöten allein in den damaligen Handels- und Steuerhindernissen, und in deren Abschaffung die Wiederherstellung eines natürlichen Gleichgewichts zwischen Reichen und Armen, welche Letzteren einen relativen Wohlstand sichern würde:

»Kann man daran zweifeln, dass die Freiheit notwendi-gerweise ein Gleichgewicht der Preise verursacht?«

(vgl. Turgot 1919, 321).

»Zweifellos ist es abscheulich, dass in der Klasse der

»Zweifellos ist es abscheulich, dass in der Klasse der