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1. Ausserkrafttreten und intertemporales Recht

Rechtsnormen verlieren ihre Rechtsgültigkeit nicht nur dann, wenn sie durch den Gesetzgeber, den Staatsgerichtshof oder durch den Ablauf ih­

rer Gültigkeitsdauer ausser Kraft gesetzt werden229. Es ist auch möglich, dass der von den Rechtsnormen vorausgesetzte Regelungsgegenstand gänzlich weggefallen ist. Dann verlieren Rechtsnormen ihre Wirksam­

keit, auch wenn sie keine ausdrückliche Befristung enthalten oder nicht formell ausser Kraft gesetzt wurden230. In diesem Sinne sind die beiden Verfassungsgesetze vom 2. September 1939 betreffend kriegswirtschaft­

liche Massnahmen und vom 20. Mai 1940 betreffend Evakuierungsmass-nahmen ihres Regelungsgegenstandes beraubt und nicht mehr in Kraft.

Die auf die Vollmachtenbeschlüsse abgestützten Erlasse bleiben zwar in Kraft. Der ordentliche Gesetzgeber muss sich aber bemühen, die getrof­

fenen Massnahmen, sofern deren "Fortbestand für den Staat, seine Bür­

ger oder seine Wirtschaft erforderlich ist, auf dem Wege der ordentli­

chen Gesetzgebung in das geltende Recht zu überführen und auch die Ermächtigungsgesetze aufzuheben"231. Es ist hingegen nicht zulässig, Jahrzehnte später neue Rechtserlasse auf die Ermächtigungsgesetze ab­

zustützen. Die auf die Vollmachtenbeschlüsse abgestützte Verordnung über die Abgabe und den Bezug von Treibstoffen bei Tankstellen vom 28. November 1973232 zur Bewältigung des Erdöl-Embargos entbehrte damit jeder verfassungsmässigen Grundlage. Die systematische Samm­

lung der liechtensteinischen Rechtsvorschriften sollte die beiden Ver­

fassungsgesetze nicht mehr aufführen233, und der Gesetzgeber sollte die beiden Beschlüsse aus Gründen der Rechtssicherheit formell aufheben.

229 Vgl. StGH vom 5.5.1960, ELG 1955-61, S. 144.

230 Vgl. VfGH vom 19.3.1956, VfSIg. 2976 = JB1. 1956, S. 584 betreffend "Massnahmen des totalen Kriegseinsatzes". Auch in der Schweiz ist etwa der Verfassungszusatz betref­

fend den Völkerbund vom 5.3.1920 (Amtliche Sammlung der eidg. Gesetze Bd. 36, S. 651) nie aufgehoben worden. Er ist aber ausser Kraft getreten, da dessen Rege­

lungsgegenstand entfallen ist.

231 StGH vom 5.5.1960, ELG 1955-61, S. 144 (145).

232 LGB1. 1973/51.

233 Vgl. LR 102.1 und 102.2. Allerdings hat die LR keine Rechtskraft, vgl. oben S. 58.

Beim Inkrafttreten eines neuen Gesetzes wird meistens in den Schlussbestimmungen angeordnet, nach welchem Recht die bisherigen, noch vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes abgeschlossenen Sachver­

halte zu beurteilen sind. Wenn solche Sonderregelungen, wie etwa Art.

33 Abs. 1 aGVG (Art. 34 GVG), wonach vor dem Inkrafttreten des Ge­

setzes abgeschlossene Rechtsgeschäfte nach bisherigem Recht zu beur­

teilen sind, fehlen, kommen die allgemeinen Grundsätze zur Anwen­

dung. "Nach herrschender Auffassung ist im Rahmen eines Ver­

waltungsverfahrens die Rechtslage im Zeitpunkt der (erstinstanzlichen) Entscheidung und nicht diejenige im Zeitpunkt der Einleitung des Ver­

fahrens massgebend"234. Nach einer anderen Formulierung kommen auf anhängige (Rechtsmittel-)Verfahren die geltenden, geänderten Gesetzes­

vorschriften mit ihrer Kundmachung und Inkraftsetzung im Zeitpunkt der Entscheidung oder Urteilsfällung zur Anwendung235. Von der sofor­

tigen Anwendung des neuen Rechts kann nur dann abgesehen werden, wenn das Verfahren aus Gründen, für die der Gesuchsteller nicht ein­

zustehen hat, sehr lange gedauert hat. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ein Drittbeschwerdeführer in querulatorischer Weise Verfahrensver­

zögerung herbeiführt, um die Anwendung des für ihn günstigeren, neuen Rechts zu erwirken236 oder wenn die Behörde eine Entscheidung pflichtwidrig hinauszögert237. Nach einer gegenteiligen, auch von der Verwaltungsbeschwerdeinstanz angeführten Auffassung238 müssen im Laufe des Rechtsmittelverfahrens eingetretene Rechtsänderungen unbe­

achtet bleiben, es sei denn, zwingende Gründe der öffentlichen Ord­

nung verlangten die sofortige Anwendung des neuen Rechts. Diese Auf­

234 Vgl. StGH 1980/5, Entscheidung vom 27.8.1980, LES 1981, S. 188 (189); StGH 1977/9, Entscheidung vom 21.11.1977, LES 1981, S. 53 (56); LGVK G 32/79, Entscheidung vom 7.3.1980, LES 1982, S. 45 (47). Diese Rechtsprechung entspricht der schweize­

rischen, vgl. Imboden/Rhinow, I, S. 96 und Rhinow/Krähenmann, S. 44 m.H.; Häfe-lin/Müller Nr. 264 f. Dem entspricht auch die österreichische Rechtslage, vgl. Anto-niolli/Koja, S. 215.

255 Vgl. StGH 1984/13, Urteil vom 24.5.1985, LES 1985, S. 108 (109); StGH 1974/8, Urteil vom 27.5.1974, ELG 1973-78, S. 370 (371) unter Hinweis auf Art. XIX des Gesetzes betreffend die Einführung der ZPO: "Es ist auch ein Grundsatz des liechtensteinischen Rechtes, dass auf ein anhängiges Verfahren die geänderte Gesetzeslage zur Anwendung kommt, es sei denn, dass das Gesetz in den Ubergangsbestimmungen ausdrücklich et­

was anderes anordnet".

236 Vgl. BGE 113 Ib 235 f. m.H.

237 Vgl. StGH 1984/13, Urteil vom 24.5.1985, LES 1985, S. 108 (109).

238 Vgl. VBI 1983/21, Entscheidung vom 20.6.1996, Erw. Il.d), nicht veröffentlicht; unter Hinweis auf Rhinow/Krähenmann, S. 44.

fassung ist abzulehnen; das Einlegen der Rechtsmittel hemmt die Rechtskraft der Verfügung bzw. eines Beschwerdeentscheids. Die Rechtsmittelinstanz kann alle Tatsachenänderungen berücksichtigen239; sie muss konsequenterweise auch alle Rechtsänderungen beachten und ihrer Sachentscheidung oder ihrem Sachurteil das geltende Recht im Entscheidungs- oder Urteilszeitpunkt zugrunde legen.

2. Kollisionsregeln

Bei Kollisionen zwischen gleichrangigen Normen gelten die folgenden sachlichen und zeitlichen Vorrangregeln des allgemeinen Verwaltungs­

rechts240. Sie sind auch in Liechtenstein anerkannt:

- die spezielle Norm geht der allgemeinen Norm vor ("lex specialis de­

rogat legi generali")241;

- die jüngere Norm geht der älteren vor ("lex posterior derogat legi pri­

ori")242;

- die jüngere spezielle Norm geht der älteren allgemeinen Norm vor243; - die ältere spezielle Norm geht der jüngeren allgemeinen Norm vor,

soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt244.

3. Rückwirkung

Das Gesetz muss vorhersehbar sein; die einzelnen müssen wissen, was auf sie zukommt, wenn sie rechtlich relevante Tatbestände setzen. Nur auf diese Weise vermag das Gesetzmässigkeitsprinzip der Rechtssicher­

heit und dem Vertrauensschutz zu dienen245. Aus diesem Grunde sind

239 Vgl. S. 270 f.

2,0 Vgl. Wolff I, S. 128 ff.

241 Vgl. StGH 1992/3, Urteil vom 17.11.1992, LES 1993, S. 1 (3); StGH 1991/14, Urteil vom 23.3.1993, LES 1993, S. 73 (75) zum Verhältnis der Abs. 1 und 2 des Art. 31 LV;

StGH 1993/21, Urteil vom 4.10.1994, LES 1995, S. 10 (16).

2,2 Vgl. StGH 1979/3, Entscheidung vom 16.10.1979, LES 1981, S. 109 (110); StGH 1979/5, Entscheidung vom 11.12.1979, LES 1981, S. 113 (114); StGH, Gutachten vom 4.12.1966, ELG 1962-66, S. 270 (271); Walter/Mayer, Bundesverfassungsrecht Nr. 496.

2« Vgl. Wolff I, S. 129.

2" Vgl. Wolff I, S. 129; OGH vom 2.2.1984, 6 OG 613/83, EvBl.1984/90.

245 Vgl. Antoniolli/Koja, S. 214; Wolff I, S. 130.

rückwirkende Gesetze, die den einzelnen neue Belastungen auferlegen, grundsätzlich unzulässig. § 5 ABGB spricht in diesem Sinne einen allge­

meinen rechtsstaatlichen Grundsatz aus, der in Art. 33 Abs. 2 LV u nd Art. 7 Abs. 1 EMRK für Strafgesetze noch wiederholt und hervor­

gehoben wird (nulla poena sine lege)246.

Eine echte Rückwirkung liegt vor, wenn ein neuer Rechtssatz auf ei­

nen Sachverhalt angewendet wird, der sich bereits in der Vergangenheit entwickelt hat und vor Inkrafttreten der Norm abgeschlossen ist247. Sie liegt also beispielsweise vor, wenn ein Steuergesetz neu einen Tatbestand besteuert, der sich bereits vor Inkrafttreten der neuen Norm vollständig verwirklicht hat.

Eine unechte Rückwirkung liegt vor, wenn die neue Norm zwar auf früher eingetretene Sachverhalte abstellt, die aber

- entweder beim Inkrafttreten der neuen Norm andauern, also noch nicht abgeschlossen sind,

- oder für den Tatbestand der Norm nebst bereits abgeschlossenen auch solche Sachverhalte in Betracht fallen, die sich erst nach ihrem Inkrafttreten erfüllen248.

Die unechte Rückwirkung ist zulässig, untersteht jedoch dem Willkür­

verbot und darf nicht in Rechtspositionen eingreifen, die durch die Eigentumsgarantie geschützt sind249. Eine unechte Rückwirkung liegt beispielsweise vor, wenn Prüfungsvorschriften kurz vor einem Examen wesentlich geändert würden. Die Kandidaten haben sich im Vertrauen auf die bisherigen Vorschriften vorbereitet; es liegt keine echte Rückwir­

kung vor, weil die neuen Prüfungsvorschriften auf eine Prüfung nach Inkrafttreten der neuen Vorschriften angewendet werden. Eine solche unechte Rückwirkung wäre gleichwohl unzulässig, weil sie willkürlich ist und damit gegen Art. 31 Abs. 1 LV verstösst250.

246 Vgl. StGH 1982/65V, Urteil vom 15.9.1983, LES 1984, S. 3 (4 f.); StGH 1988/22, 1989/1, Urteil vom 2.11.1989, LES 1990, S. 1 (10); StGH 1991/15, Urteil vom 2.5.1991, LES 1991, S. 77 (78); Walter/Mayer, Bundesverfassungsrecht Nr. 494; Höfling, S. 234 f. Das Strafgesetzbuch erwähnt diesen grundlegenden Satz in § 1 Abs. 1.

247 Vgl. Antoniolli/Koja, S. 214; Wolff I, S. 130; Walter/Mayer, Bundesverfassungsrecht Nr. 494; BVerfGE vom 15.10.1996, EuGRZ 1997, S. 67 (74).

248 Vgl. Häfelin/Müller Nr. 275 f.; Wolff I, S. 130; BVerfGE vom 15.10.1996, EuGRZ 1997, S. 67 (74).

249 Vgl. StGH 1984/13, Urteil vom 24.5.1985, LES 1985, S. 108 (109) m.H.; Wolff I, S. 130.

250 Vgl. Hangartner II, S. 207 f.

Eine Rückwirkung kann höchstens dann gerechtfertigt sein, "wenn sie zeitlich massig ist, zu keinen stossenden Rechtsungleichheiten führt und sich durch triftige Gründe des öffentlichen Interesses rechtfertigen lässt"251. Die echte Rückwirkung von Erlassen ist unter der Voraus­

setzung einer gerechten Interessenabwägung zulässig252. Die Rechtspre­

chung der liechtensteinischen Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts lehnt sich an die ständige Praxis des schweizerischen Bundesgerichts an.

Danach ist die echte Rückwirkung zulässig, wenn die folgenden Voraus­

setzungen kumulativ erfüllt sind253.

- Die Rückwirkung muss ausdrücklich angeordnet oder klar gewollt sein.

- Sie muss durch triftige Gründe gerechtfertigt sein; triftig wäre bei­

spielsweise die Sicherung der Rechtsgleichheit, nicht aber ein bloss fiskalisches Interesse.

- Sie muss zeitlich mässig sein; was als mässig angesehen wird hängt stark von der Voraussehbarkeit der Gesetzesänderung und den kon­

kreten Umständen des Einzelfalls ab.

- Sie darf keine stossenden Rechtsungleichheiten herbeiführen.

- Sie darf nicht in die Eigentumsgarantie und die von ihr geschützten wohlerworbenen Rechte eingreifen254.

Die Rückwirkung von begünstigenden Gesetzen ist stets zulässig255, da die Einwände der Vorhersehbarkeit staatlicher Massnahmen, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes durch den ermöglichten Vorteil voll aufgewogen werden.

251 StGH 1977/10, Entscheidung vom 19.12.1977, LES 1981, S. 56 (57); ähnlich auch die Rechtsprechung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, wonach nur besondere Umstände eine solche Rückwirkung zu rechtfertigen vermögen, vgl. VfGH vom 4.10.

1994, Urteil B 355/94, ÖJZ 1996, S. 473 oder VfGH vom 16.6.1995, Urteil G 191, S. 192/94, ÖJZ 1997, S. 112.

252 Vgl. StGH 1970/2, Urteil vom 11.1.1971, ELG 1967-72, S. 256 (259 f.).

253 Vgl. BGE 119 Ia 258 und dazu die Besprechung von Andreas Kley, AJP 1994, S. 248 f.;

BGE 116 Ia 214 m.H.

2* Vgl. VPB 1937, Nr. 208.

255 Vgl. Wolff I, S. 131; Häfelin/Müller Nr. 272 f.

§ 4 Auslegung des Verfassungs- und Verwaltungsrechts

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