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VI. Widerruf von Verfügungen

2. Widerruf (Rücknahme) und Nichtigkeit von Verwaltungsakten

a) Involvierte Interessen

Die Rücknahme von Verfügungen beeinträchtigt die Rechtssicherheit schwer und ist nur unter besonderen Voraussetzungen möglich. Das Interesse an der richtigen Durchsetzung des objektiven Rechts und das­

jenige an der Wahrung der Rechtssicherheit sind gegeneinander abzuwä­

gen. Das schweizerische Bundesgericht hat die Problematik der Rück­

nahme von Verfügungen prägnant umschrieben88:

"Dem Postulat der Rechtssicherheit kommt in der Regel dann der Vorrang zu, wenn durch die frühere Verfügung ein subjektives Recht begründet worden ist oder wenn die Verfügung in einem Verfahren ergangen ist, in welchem die sich gegenüberstehenden Interessen all­

seitig zu prüfen und gegeneinander abzuwägen waren, oder wenn der Private von einer ihm durch die fragliche Verfügung eingeräumten Befugnis bereits Gebrauch gemacht hat. Diese Regel gilt allerdings

85 Vgl. LGVK G 4/76, Entscheidung vom 19.10.1976, ELG 1973-78, S. 72 (76).

86 Vgl. LGVK G 18/77, Entscheidung vom 28.2.1978, LES 1980, S. 42 (43); Walter/Mayer Nr. 463.

87 Vgl. grundlegend StGH 1981/30, Urteil vom 15.10.1982, LES 1985, S. 3 (5).

88 BGE 119 Ia 310 m.H. In Deutschland ist die Rechtslage ähnlich. § 47 VwVfG erlaubt die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und § 49 den Widerruf eines rechtmässigen Verwaltungsaktes.

nicht absolut; ein Widerruf kann auch in den drei genannten Fällen in Frage kommen, wenn er durch ein besonders gewichtiges öffentliches Interesse geboten ist".

Die Verwaltungsbeschwerdeinstanz kann als Aufsichtsbehörde Verwal­

tungsakte gemäss Art. 106 LVG widerrufen89. Freilich muss auch die verfügende Instanz widerrufen können, wenn diese einen Widerrufs­

grund wahrnimmt90.

Nichtige Verwaltungsakte brauchen nicht widerrufen zu werden. Sie leiden an einem offenkundigen und derart schweren Verfahrensmangel, dass sie rechtlich gar nicht entstehen können91. Der Fehler ist so gravie­

rend, dass das Bedürfnis nach Rechtssicherheit ihn nicht zu heilen vermag.

b) Gesetzlicher Widerrufsvorbehalt

Die Verfügung kann einen Widerrufsvorbehalt enthalten. Gemäss Art.

87 Abs. 4 LVG kann die Sachverfügung nach Eintritt der materiellen Rechtskraft unter bestimmten Umständen oder ganz allgemein widerru­

fen werden. Die vorbehaltene Rücknahme einer begünstigenden Verfü­

gung widerspricht dem Grundsatz der Rechtsbeständigkeit und der Rechtssicherheit; sie ist nur dann zulässig, wenn das Gesetz den Wider­

ruf ausdrücklich vorsieht92. Enthält ein Gesetz im Hinblick auf geän­

derte tatsächliche Verhältnisse einen Widerrufsvorbehalt für bereits ge­

troffene Verfügungen, so ist der Einwand nicht zulässig, ein Widerruf widerspreche der Rechtskraft der ursprünglichen Verfügung93. Insoweit

89 Art. 106 LVG ist wiederum den österreichischen Vorarbeiten zum AVG entnommen worden; er entspricht in etwa dem § 68 AVG, vgl. dazu Walter/Mayer Nr. 462 ff.

90 So Art. 106 Abs. 5 LVG und sinngemäss StGH 1995/13-15, Urteil vom 23.6.1995, LES 1996, S. 10 (18). Diese Zuständigkeit der verfügenden bzw. der Aufsichtsbehörde kennt auch § 68 Abs. 2 und 3 AVG.

91 Vgl. Wolff I, S. 338 ff.; Walter/Mayer Nr. 447; Häfelin/Müller Nr. 809 ff.

92 Vgl. Antoniolli/Koja, S. 558 f.; Walter/Mayer Nr. 413/1 f.; vgl. dazu VBI 1994/40, Ent­

scheidung vom 9.11.1994, LES 1995, S. 41 (42) zum Widerruf gemäss Art. 37 des Ge­

setzes zur Förderung des Wohnungsbaues vom 30.6.1977, LGB1. 1977/46, LR 840. Der Gesetzgeber sollte von der Figur des Widerrufsvorbehalts nur zurückhaltend Gebrauch machen, vgl. Walter Barfuss, Gedanken zur materiellen Rechtskraft im österreichischen Verwaltungsrecht, JBI. 1974, S. 293 ff. Auch Deutschland kennt analoge Regelungen, vgl.

§ 36 Abs. 2 Ziff. 3 und § 49 Abs. 2 Ziff. 1 V wVfG.

93 Vgl. VBI 1994/40, Entscheidung vom 9.11.1994, LES 1995, S. 41 (42).

geht nach Art. 87 Abs. 4 LVG Verfügungen oder Entscheidungen die materielle Rechtskraft ab.

c) Widerrufs- und Nichtigkeitsgründe

Das Landesverwaltungspflegegesetz nennt in Art. 106 Gründe, die den Widerruf oder die Nichtigerklärung der Verfügung rechtfertigen. Eigen­

tümlicherweise werden die Widerrufs- und Nichtigkeitsgründe mitein­

ander vermengt. Im Grunde genommen kann nur eine Verfügung wi­

derrufen werden, die "existiert", d.h. formell rechtskräftig ist und keine gravierenden Fehler aufweist. Eine nichtige Verfügung kann definitions-gemäss nicht zurückgenommen werden, denn ihr Anschein von Gel­

tungskraft lässt sich nur mit einer ex tunc, deklaratorischen Nichtig­

erklärung beseitigen94. Die Unterscheidung von Widerrufs- und Nich­

tigkeitsgründen ist im Einzelfall schwierig. Im folgenden werden diese wie im Landesverwaltungspflegegesetz zusammen behandelt.

Die Verletzung erheblicher öffentlicher Interessen wegen Missachtung zwingender Gesetzesvorschriften95 führt nur dann zur Rücknahme, wenn es nachgerade "unerträglich" wäre, die Verfügung in Kraft zu be­

lassen. Demnach genügt es nicht, wenn die Gesetzesauslegung aufgrund derer die Verfügung erlassen wurde, fragwürdig oder unhaltbar ist. Viel­

mehr muss nebst der eigentlichen Rechtswidrigkeit ein qualifizierendes Element hinzukommen. Das österreichische Recht nennt in diesem Zu­

sammenhang ausdrücklich die Gefährdung des Lebens und der Gesund­

heit von Menschen oder aber schwere Schädigungen der gesamten Volkswirtschaft96.

Der Widerruf kann auch zugunsten des Betroffenen zur Wahrung seiner durch zwingendes öffentliches Recht geschützten Ansprüche und

* Nach Antoniolli/Koja, S. 568 können nach überwiegender österreichischer Lehre und Rechtsprechung nichtige Bescheide nur ex nunc vernichtet werden. Bis zur konstitu­

tiven Nichtigerklärung gelten nichtige Bescheide als rechtskräftig; zu Recht vertreten Walter/Mayer Nr. 447 die gegenteilige Auffassung, wonach ein zeitweise rechtskräftiger und zugleich "nichtiger" Verwaltungsakt ein Widerspruch in sich selbst ist. Vgl. aber immerhin zur allgemein anerkannten absoluten Nichtigkeit Antoniolli/Koja, S. 524 ff.

95 Vgl. Art. 106 Abs. 1 lit. a Halbsatz 1 und lit. c Halbsatz 1 ( rechtliche Unmöglichkeit) LVG: die österreichische Parallelvorschrift des § 68 Abs. 3 AVG stellt mehr das öffent­

liche Interesse in den Vordergrund, ohne die Verletzung von Gesetzesvorschriften zu nennen.

96 Vgl. § 68 Abs. 3 AVG und dazu Walter/Mayer Nr. 662.

Interessen erfolgen97. Hier wiegt das Gebot der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes nicht gegen den Widerruf, weil der Widerruf den Verfügungsadressaten besserstellt. Die Formulierung macht freilich deutlich, dass bloss faktische Interessen nicht genügen. Genau gleich wie bei der Legitimationsregelung zur Beschwerde98 bedarf das Interesse des einzelnen einer Schutznorm des öffentlichen Rechts.

Erlässt eine sachlich oder örtlich unzuständige Behörde eine Verfü­

gung, so liegt ein Nichtigkeitsgrund vor99. Gemäss Art. 90 Abs. 7 LVG scheinen alle Verfügungen, die von der Regierung oder dem Regie­

rungschef statt einer sonst auf Grund des Landesverwaltungspfle-gegesetzes als zuständig erklärten Amtsperson des Landes ausgehen, nicht als mit dem Mangel der Unzuständigkeit behaftet. Die Verwal­

tungsbeschwerdeinstanz hat Art. 90 Abs. 7 LVG zu Recht restriktiv aus­

gelegt. Die Regierung kann nämlich nicht in Missachtung der Zuständigkeitsvorschriften die Amtsgeschäfte ihr untergeordneter Behörden an sich ziehen und verfügen, wenn die Verfügungsbefugnis gesetzlich delegiert worden ist. Eine Behörde ist ferner unzuständig, wenn die Voraussetzungen zum Erlass des Verwaltungsaktes vollständig fehlen, weil z.B. überhaupt keine Rechtsgrundlage für eine Verfügung besteht100. Die Verfügung einer bloss unvollständig zusammengesetzten Behörde ist indes bloss anfechtbar101.

Die Verletzung von Ausstandsvorschriften macht eine erlassene Ver­

fügung aber nichtig102:

"Nach Art. 11 Abs. 3 LVG ist jedes Mitglied der Regierung oder jede Amtsperson verpflichtet, sobald ihr ein Ausschliessungs- oder Ableh­

97 Vgl. Art. 106 Abs. 1 lit. a Halbsatz 2 LVG. Das österreichische Recht kennt keine di­

rekte Parallelnorm, wohl aber gemäss § 68 Abs. 2 AVG den Widerruf von Bescheiden,

"aus denen niemandem ein Recht erwachsen ist".

98 Vgl. unten S. 303 ff.

99 Vgl. Art. 106 Abs. 1 l it. b LVG und dazu die österreichische Parallelnorm in § 68 Abs.

4 Ziff. 1 AVG.

100 Vgl . Art. 106 Abs. 1 l it. c Halbsatz 2 LVG.

101 So das schweizerische Bundesgericht in BGE 98 la 474.

102 VBI 1996/7, Entscheidung vom 24.4.1996, LES 1996, S. 144 (147). Gemäss § 68 Abs. 4 Ziff. 1 AVG gilt die Verfügung einer "nicht richtig zusammengesetzten Kollegialbe­

hörde" als nichtig. Diese Konsequenz ist für die Verletzung von Ausstandsregelungen gewiss konsequent, darüber hinaus, z.B. bei unvollzähliger Anwesenheit, erscheint sie zu schwerwiegend und wird für Liechtenstein abgelehnt, vgl. die differenzierte deut­

sche Regelung in § 44 Abs. 3 Ziff. 2 VwVfG. Vgl. zum Ausstand S. 264 ff.

nungsgrund oder sonstiger Verhinderungsgrund bekannt geworden ist, diese dem Regierungschef, und wenn es diesen selbst betrifft, dem Stellvertreter anzuzeigen. Liegt ein Ausschliessungsgrund oder ein offensichtlicher Grund zur Ablehnung vor, so ist ohne weiteres vom Regierungschef ein Stellvertreter für das in Ausstand kommende Mit­

glied der Regierung einzuberufen oder für die sonstige Amtsperson zu bestellen (Art. 11 Abs. 4 LVG). Aus Art. 33 Abs. 1 LV folgt näm­

lich nicht nur das Recht auf den gesetzlich zuständigen, sondern auch auf den unparteiischen und unabhängigen Richter, wobei der Staats­

gerichtshof den Begriff des ordentlichen Richters weit auslegt und darunter auch Verwaltungsbehörden versteht103. Ein Verstoss gegen die Ausstandsvorschriften führt zwecks Beseitigung einer erheblichen Verletzung öffentlicher Rechte oder Interessen, welche gemäss den das Verwaltungsverfahren zwingend regelnden Rechtsvorschriften unbedingt zu beachten sind, zur Nichtigerklärung (Art. 106 Abs. 1 lit. a LVG)."

Die Verfügung ist ferner nichtig, wenn sie etwas tatsächlich Unmögliches anordnet104. Eine solche Unmöglichkeit, die in der Praxis selten vor­

kommt, liegt vor, wenn die Verfügung etwas anordnet oder Leistungen fordert, die etwa mit den Naturgesetzen im Widerspruch stehen. Rein faktische Schwierigkeiten, einem Verwaltungsakt nachzukommen, wie etwa finanzielle Schwierigkeiten, führen selbstverständlich nicht zur

"Unmöglichkeit".

Kommt durch das Verschweigen einer wesentlichen Tatsache ein fehlerhafter Verwaltungsakt zustande, so muss die Verwaltungsbe­

schwerdeinstanz nach Bekanntwerden der Tatsache den Verwaltungsakt wieder zurücknehmen105. Der Rücknahme steht die formelle und mate­

rielle Rechtskraft des Entscheides nicht entgegen, da der Verwaltungsakt von Anfang an fehlerhaft war106.

103 Vgl. StGH 1989/14, Urteil vom 31.5.1990, LES 1992, S. 1 (3); Höfling, S. 231 f.

1M Vgl. Art. 106 Abs. 1 lit. c Halbsatz 1 LVG, § 68 Abs. 4 Ziff. 3 AVG, § 44 Abs. 2 Ziff. 4 VwVfG.

105 Vgl. Art. 106 Abs. 1 lit. d LVG.

106 Vgl. StGH 1970/2, Urteil vom 11.1.1971, ELG 1967-72, S. 256 (261).

3. Bewertung der Regelungen des

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