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IV. A uslegung, Rechtsanwendung und juristische Hermeneutik 137

4. Vorverständnis und Methodenwahl

Die von Gadamer wiederbelebte Hermeneutik wurde von Josef Esser144 aufgenommen und ist heute in Deutschland und der Schweiz allgemein anerkannt. In der österreichischen Lehre, welche sich mehr am Rechts­

positivismus orientiert, ist die schöpferische Komponente der Ausle­

gung und insbesondere die Hermeneutik noch nicht richtig anerkannt worden. So ist etwa bei Antoniolli/Koja145 davon die Rede, "dass es sich bei der Interpretation um einen Akt der Rechtserkenntnis handelt".

Freilich kann der Ausleger nur das bereits Vorhandene "erkennen";

diese Formulierung lässt das Schöpferische, das jeder Auslegung inne­

wohnt, ausser acht146. Liechtenstein orientiert sich in der Auslegungs­

lehre stark an der Schweiz. Der Positivismus österreichischer Prägung

143 Vgl. Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke, Band I, Tübingen 1990, S. 274 f.

144 Vgl. Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, Tübingen 1956.

145 Vgl. Antoniolli/Koja, S. 100; ähnlich auch Walter/Mayer, Bundesverfassungsrecht Nr. 126.

146 Vgl. dazu unten S. 111.

wird zwar durch die liechtensteinischen Richter, die in Österreich stu­

diert haben bzw. die österreichischen Richter vermittelt. Er scheint aber keinen zentralen Stellenwert zu haben und wird nicht konsequent ange­

wendet147. Ferner relativiert die moderne österreichische Methodenlehre die von Kelsen geprägte positivistische Rechtsauffassung stark148.

Die Anwendung der Gesetze ist ein produktiver Vorgang; keine Rechtsnorm kann ohne einen vom Vorverständnis des Rechtsanwenders geleiteten Verstehensprozess angewendet werden. Es gibt keine von Ge­

sellschaft, Kultur, Sprache und Subjektivität losgelöste "reine" oder

"saubere" Auslegung. Die Hinführung zum richtigen Resultat der Ge­

setzesauslegung ist nach den Erkenntnissen der Hermeneutik alles an­

dere als durch die Auslegungsmethoden gesteuert oder gar garantiert.

Die Rechtsanwender huldigen vielmehr einem Methodenpluralismus;

Winfried Hassemer formulierte diese Ausweglosigkeit prägnant149:

"Solange es also keine Meta-Methode gibt (und die gibt es nicht), welche vorschreibt, in welchen Situationen welche Methode zu ver­

wenden ist, sind die Auslegungsmethoden nicht Regeln, sondern fa§ons de parier; sie steuern das Ergebnis der Entscheidung nicht, sondern sind nichts weiter als sprachliche Vehikel, auf denen das Er­

gebnis daherkommt. Eine für eine praktisch interessierte Methoden­

lehre deprimierende Situation".

Die Hermeneutik hat ein Problembewusstsein gebildet, aber keine me­

thodischen Lösungen vorgeschlagen, wie die Bindung des Rechts­

anwenders an das Gesetz sichergestellt werden könnte. Es handelt sich um ein bis heute ungelöstes Problem der Rechtswissenschaft150. In der juristischen Praxis ist man bei den bisherigen Auslegungsmethoden ge­

blieben, obwohl die Auslegungsmethoden das Auslegungsergebnis ge­

rade nicht zu steuern vermögen. Das Ergebnis wird vielmehr durch die subjektiven Wertungen des Auslegers festgelegt. Denn die Metho­

147 Dies lasst sich namentlich an der These von der "Geschlossenheit des Rechtsquellen­

systems" nachweisen, vgl. S. 67, 75.

148 Vgl. z.B. Adamovich u.a., Staatsrecht, S. 34 f.

149 Vgl. Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl., München 1990, S. 117.

150 Vgl. zu den Weiterentwicklungen Kley, Rechtsschutz, S. 174 ff; Andreas Kley, Wittgen­

stein und die moderne juristische Methodik, Recht 1996, S. 189 ff.

denwahl ist als solche ein Wertungsvorgang. Sie bestimmt letztlich das Auslegungsergebnis; die von der Behörde gewählte Auslegungsmethode dient eher als nachträgliche Rechtfertigung für das von ihr gewählte Auslegungsergebnis. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass Verfügungen und Urteile unter möglichster Wahrung der Parteirechte Zustandekom­

men und so begründet werden151, dass die vorgenommenen Wertungs­

gesichtspunkte möglichst transparent sind. Damit wird der Rechtsfrie­

den am ehesten wiederhergestellt und gesichert.

151 Vgl. zur in diesem Zusammenhang wichtigen Begründungspflicht S. 258 ff.

§ 5 Verfügung (Verwaltungsakt)

I. Begriff

Die Verfügung oder was das Gleiche bedeutet, der Verwaltungsakt, ist die mit Abstand wichtigste Handlungsform der Verwaltung. Die Ver­

fügung ist gewissermassen die Schnittstelle zwischen Verwaltungs­

verfahrensrecht und materiellem Verwaltungsrecht: Sie öffnet und be­

grenzt zugleich den Zugang zu Anfechtungsstreitsachen als Hauptform der Verwaltungsrechtspflege. Denn das Landesverwaltungspflegegesetz kennt nur "Rechtsmittel gegen Entscheidungen und Verfügungen ... als streng individuelle Verwaltungsakte"1. Das Verfahren auf Erlass einer Verfügung zeichnet sich durch ein hohes Mass an Förmlichkeit aus; frei­

lich gibt es das sog. Verwaltungsbot, dessen Erlass herabgesetzten Ver­

fahrensbindungen unterliegt2. Die Verfügung ist ein an den einzelnen gerichteter Hoheitsakt, durch den bestimmte einzelne Angelegenheiten in rechtsgestaltender oder rechtsfeststellender Weise verbindlich geord­

net werden3. Die Verfügung ist damit kurz umschrieben ein individuell­

1 Vgl. StGH 1978/12, Urteil vom 11.12.1978, nicht veröffentlicht, S. 8.

2 Vgl. StGH, Urteil vom 14.11.1949, ELG 1947-54, S. 221 (223); Adamovich/Funk, S. 266.

3 Vgl. VBI 1995/70, Entscheidung vom 8.11.1995, LES 1996, S. 71; die Darlegung der ein­

zelnen Begriffselemente bei Antoniolli/Koja, S. 494 ff., 472 ff.; Walter/Mayer Nr. 377 ff.;

Adamovich/Funk, S. 267 f.; Walter/Mayer, Bundesverfassungsrecht Nr. 605 f., 959, 1203; siehe Ritter, Beamtenrecht, S. 174 f. zur Begründung des Beamtenverhältnisses.

Der Begriff wird in der Schweiz gleich definiert, vgl. BGE 109 Ib 255, 121 1 174 f., 121 11 4 77 ff.; Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, S. 126 ff.; Häfelin/Müller Nr. 685 ff.

Das schweizerische Bundesgesetz über das Verwaltungsverfahren (VwVG) enthält eine gesetzliche Definition des Verfügungsbegriffs, welche auch im liechtensteinischen Ver­

waltungsverfahren sinngemäss befolgt wird. Art. 5 Abs. 1 V wVG bestimmt:

"Als Verfügungen gelten Anordnungen der Behörden im Einzelfall, die sich auf öffent­

liches Recht des Bundes stützen und zum Gegenstand haben:

konkreter Rechtsanwendungsakt gestützt auf ein generell-abstraktes Gesetz. Die Verfügung muss freilich nicht als solche bezeichnet werden;

schon ein einfaches Schreiben oder eine Zusicherung können die Merk­

male der Verfügung aufweisen4.

Die Art. 48 Abs. 1 Ingress und Art. 90 Abs. 1 LVG enthalten keine Legaldefinition des Verwaltungsakts, vielmehr werden lediglich die sy­

nonymen Begriffe Verfügung, Verwaltungsbot, Enderledigung oder Ent­

scheidung gebraucht. Damit setzt das Landesverwaltungspflegegesetz den Begriff des Verwaltungsakts5, wie er im kontinentalen Europa als gemeineuropäischer Begriff definiert und gebraucht wird, voraus. Aus diesem Grund kann die liechtensteinische Rechtsprechung vollumfäng­

lich an die österreichische und schweizerische Rechtslage anschliessen.

Art. 90 Abs. 6a LVG definiert die über drei Monate andauernde Ver­

zögerung des Erlasses einer Verfügung oder eines Beschwerdeentschei­

des ebenfalls als anfechtbare Verfugung6. Damit kann die Rechtsverzö­

gerung einerseits einer verwaltungsgerichtlichen Kontrolle zugeführt werden. Art. 23 Abs. 1 LVG ermöglicht andererseits im Fall der Verwei­

gerung oder Verzögerung einer Verwaltungshandlung die Einlegung ei­

ner Aufsichtsbeschwerde an die vorgesetzte Instanz. Das Landesverwal­

tungspflegegesetz stellt damit nachgerade wahlweise ein Rechtsmittel oder einen Rechtsbehelf7 gegen Rechtsverweigerungen zur Verfügung.

II. Abgrenzungen

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