• Keine Ergebnisse gefunden

liechtensteinischen Verwaltungsrechts

VII. Ermessen und Gesetzmässigkeitsprinzip 1. Zweck

Der Gesetzgeber kann vielfach nicht an alle denkbaren Tatbestände die entsprechenden Rechtsfolgen knüpfen147. Die Gesetze würden anson­

sten mit Detailregelungen überladen und unübersichtlich. Das Problem könnte trotz einer solch detaillierten Gesetzgebung nicht gelöst werden.

Der Gesetzgeber kann nicht alle denkmöglichen Fälle vorwegnehmen148. Das Gesetzmässigkeitsprinzip erlaubt es deshalb, dass formelle Gesetze Ermessensbestimmungen enthalten. Der Verwaltung wird regelmässig das Recht eingeräumt, auf dem Wege der Auslegung unter mehreren, gleichwertigen Anwendungsmöglichkeiten eine Wahl zu treffen. "Die Verwaltungsbehörde erhält ein Ermessen; sie hat die Wahl zwischen zwei oder mehreren rechtlich gleichwertigen Lösungen. Der Verwaltung wird in ihrer Entscheidung ein Freiraum für alternatives Verhalten nach eigener Wertschätzung eingeräumt"149. Die Verwaltung kann damit die Einzelfallgerechtigkeit verwirklichen.

143 Vgl. VBI 1990/39, Entscheidung vom 20.5.1992, LES 1993, S. 31 (33).

144 Vgl. VBI 1990/39, Entscheidung vom 20.5.1992, LES 1993, S. 31 (33).

145 Vgl. VBI 1990/39, Entscheidung vom 20.5.1992, LES 1993, S. 31 (33).

146 Vgl. VBI 1990/39, Entscheidung vom 20.5.1992, LES 1993, S. 31 (34).

1,7 Vgl. Antoniolli/Koja, S. 251.

KS V gl. Thomas Fleiner, Grundzüge des allgemeinen und schweizerischen Verwaltungs­

rechts, 2. Aufl., Zürich 1980, S. 126; BVerfGE 94, 372 = EuGRZ 1996, S. 426 (433).

149 Vgl. VBI 1986/41, Entscheidung vom 20.1.1988, LES 1988, S. 55 (57); vgl. ferner Anto­

niolli/Koja, S. 251 f. und die ausdrückliche Regelung des Ermessens in Art. 130 Abs. 2 B-VG.

2. Ermessensarten und Ermessensausübung

Der Verwaltung steht Ermessen zu, wenn der Rechtssatz ihr

- den Entscheid überlässt, ob eine Massnahme zu treffen ist oder nicht150 (sog. Entschliessungsermessen) oder

- die Wahl zwischen verschiedenen Massnahmen erlaubt (sog. Aus-wahlermessen)151.

Rechtsprechung und Gesetzgebung verwenden zuweilen den irrefüh­

renden Begriff des "freien" Ermessens152. Er suggeriert einerseits, dass die Ermessensausübung rechtlich völlig ungebunden erfolgen kann und andererseits ist er pleonastisch153, denn Ermessen meint Entscheidungs­

freiheit der Behörde. Die Ermessensausübung jeder staatlichen Behörde hat sich stets an den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts, an der Rechtsgleichheit und an den Grundrechten auszurichten154. Das Ermessen der Verwaltung ist gerade in fremdenpolizeilichen Belangen gross155. In diesem Rechtsgebiet geht es einerseits um die Aufrechterhal­

tung von Ruhe, Sicherheit und Ordnung, anderseits um die legitimen Interessen der Landesangehörigen und um humanitäre Bedürfnisse.

Hier kann erst das Instrument des Ermessens den "schwankenden Be­

dürfnissen und dem Einzelfall gebührend Rechnung"156 tragen.

Das Ermessen ist pflichtgemäss auszuüben. Diese Pflichtgemässheit ergibt sich aus dem Zweck der Ermessenseinräumung und dem Gleich­

heitsgrundsatz, wie das folgende Beispiel zeigt. Gemäss Art. 34 Abs. 2 des Wohnbauförderungsgesetzes157 kann eine rückwirkende Zinsbela­

150 Beispielsweise, ob ein provisorisch angestellter Lehrer definitiv angestellt werden kann, vgl. VBI 1986/11, Urteil vom 24.9.1986, LES 1987, S. 162 (164) oder ob ein Führeraus­

weis wieder erteilt werden kann, vgl. VBI 1969/36, Entscheidung vom 26.1.1970, ELG 1967-72, S. 16 (17); vgl. Ritter, S. 101..

151 Beispielsweise die Festsetzung der Gebühr innerhalb eines gesetzlich vorgegebenen Rahmens, vgl. StGH 1986/9, Urteil vom 5.5.1987, LES 1987, S. 145 (147); vgl. Ritter, S. 101.

152 Vgl. VBI 1986/41, Entscheidung vom 20.1.1988, LES 1988, S. 55 (57) oder Art. 92 Abs.

2 LV, A rt. 81 Abs. 4 LVG. Vgl. dazu oben S. 175 f.

153 Vgl. Merkl, S. 154.

154 Vgl. VBI 1986/41, Entscheidung vom 20.1.1988, LES 1988, S. 55 (57).

155 Vgl. Yvo Beck, Niederlassung im Fürstentum Liechtenstein, Vaduz 1962, S. 181 ff.

156 VBI 1986/41, Entscheidung vom 20.1.1988, LES 1988, S. 55 (58).

157 Vom 30.6.1977, LR 840, LGB1. 1997/46.

stung vorgenommen werden, wenn eine vorzeitige Rückerstattung der Förderungsmittel erfolgt. Dieses Entschliessungsermessen wird durch eine langjährige Praxis der Wohnbauförderungskommission und der Rechtsmittelinstanzen konkretisiert. Es ist den Behörden daher nach dem Gleichheitsgrundsatz von Art. 31 LV verwehrt, ohne qualifizierte Gründe von der gefestigten Praxis abzuweichen158.

In der Rechtsprechung ist freilich die Erscheinung der "Ermessens­

schrumpfung" bekannt. So besagt Art. 6 des Gesetzes vom 11. Juli 1974 betreffend die Abänderung des Gesetzes über den Erwerb und Verlust des Landesbürgerrechts159, dass gebürtige Liechtensteinerinnen, die durch Eheschliessung mit einem Ausländer das Landesbürgerrecht ver­

loren haben, von der Regierung in ihr früheres Gemeinde- und Landes­

bürgerrecht aufgenommen werden können, wenn sie aus entschuldbaren Gründen den Antrag nicht fristgerecht stellen konnten. Die gesetzliche Formulierung beinhaltet ein Entschliessungsermessen der Regierung.

Das Gebot der Rechtsgleichheit von Art. 31 Abs. 1 LV lässt bei be­

stimmten Tatbeständen indessen für ein Entschliessungsermessen keinen Raum. "Es ist ... unbestritten, dass Antragstellerinnen in ihr früheres Gemeinde- und Landesbürgerrecht aufgenommen werden müssen, wenn tatsächlich entschuldbare Gründe vorliegen"160. Hier ist das Ent­

schliessungsermessen derart mit dem unbestimmten Rechtsbegriff der

"entschuldbaren Gründe" verbunden, dass sich die rechtsanwendende Behörde nachgerade dem Vorwurf der Willkür aussetzen würde, lehnte sie den Antrag trotz gegebener Gründe ab. Die Rechtsgleichheit führt hier zu einer Ermessensschrumpfung und damit zu einem Rechts­

anspruch auf Wiedereinbürgerung bei gegebenen Voraussetzungen.

Schliesslich kann auch das Staatsvertragsrecht ein Ermessen förmlich verdrängen, wenn sich daraus ein Rechtsanspruch auf Erteilung einer Bewilligung ergibt161.

155 Vgl. VBI 1996/9, Entscheidung vom 3.4.1996, LES 1996, S. 90 (91).

15' Vgl. LGB1. 1974/50.

160 StGH 1988/2, Urteil vom 25.10.1988, LES 1989, S. 50 (52); StGH 1988/3, Urteil vom 25.10.1988, LES 1989, S. 53 (55); StGH 1988/5, Urteil vom 25.10.1988, LES 1989, S. 56 (58).

161 Vgl. VBI 1978/3, Entscheidung vom 19.7.1978, LES 1981, S. 11.

3. Ermessensüberprüfung durch die Verwaltungs­

beschwerdeinstanz

Die Ermessensausübung ist in vielen europäischen Staaten grundsätzlich nicht durch die Gerichte überprüfbar162. Anders ist die Rechtslage im Fürstentum Liechtenstein. Gemäss Art. 90 Abs. 6 und Art. 100 Abs. 2 LVG kann die Verwaltungsbeschwerdeinstanz auch Ermessensent­

scheide überprüfen163. Diese ausserordentlich weitgehende Unter­

werfung der Verwaltung unter die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist aus-sergewöhnlich. Denn eine echte Ermessenskontrolle bedeutet nicht "die Korrektur einer Rechtsverletzung der Verwaltung, sondern den Ersatz der Meinung der Verwaltungsbehörde durch diejenige der Verwaltungs­

beschwerdeinstanz. Die Verwaltungsbeschwerdeinstanz kann wie eine politische Behörde anstelle der Regierung entscheiden"164.

Die Verwaltungsbeschwerdeinstanz hat sich - trotz ihrer weitgehenden Kompetenz - in der jüngeren Praxis, insbesondere in Angelegenheiten der Aussenpolitik165 oder der Fremdenpolizei, Zurückhaltung auferlegt:

"Liegen dem Einzelfall nicht besondere Eigenheiten zugrunde, wird sich die Verwaltungsbeschwerdeinstanz in der Regel damit begnügen ... zu prüfen, ob das Ermessen der Unterbehörde nicht überschritten oder missbraucht wurde. Dies bedingt jedoch seitens der Unter­

behörde eine nachvollziehbare Begründung auch im Rahmen von Ermessensentscheidungen. Der im Beschwerdeverfahren festgestellte Mangel einer nachvollziehbaren Begründung wird deshalb in der Re­

gel die Zurückverweisung an die Unterinstanz zur Folge haben"166.

Diese zurückhaltende Praxis der Verwaltungsbeschwerdeinstanz er­

scheint richtig. Sie macht aber gleichzeitig deutlich, dass die "Anomalie"

162 Vgl. Adamovich/Funk, S. 120 und Antoniolli/Koja, S. 256 für Österreich und Häfelin/-Müller Nr. 1515 ff.; Ritter, S. 55, 103 f.

163 Vgl. Ritter, S. 95, 119 ff.; Steger, S. 527; Sprenger, S. 367 f.; Ritter, Beamtenrecht, S. 257, Anm. 19 m.H.; Neil, S. 216, Anm. 10; Waschkuhn, System, S. 201; Allgäuer, S. 88.

IM Vgl. VBI 1986/41, Entscheidung vom 20.1.1988, LES 1988, S. 55 (58); vgl. ferner Ritter, S. 104; Batlirier, Parlament, S. 175 f., Anm. 316.

165 Vgl. VBI 1982/55, Entscheidung vom 13.10.1982, LES 1984, S. 75; vgl. zum Gesetz-mässigkeitsprinzip in den auswärtigen Beziehungen Hoop, S. 254 ff.; vgl. zu den Actes de Gouvernement S. 100, 286.

166 Vgl. VBI 1986/41, Entscheidung vom 20.1.1988, LES 1988, S. 55 (58); ferner VBI 1987/28, Entscheidung vom 9.3.1988, LES 1988, S. 106 (107).

der Ermessensüberprüfung durch den Verfassungs- und Gesetzgeber beseitigt werden sollte. Sie verschafft der Verwaltungsbeschwerde­

instanz eine merkwürdige Zwitterstellung zwischen oberstem Ver­

waltungsgericht und "Oberregierung"167. Der Staatsgerichtshof hat die Verwaltungsbeschwerdeinstanz je nach Zusammenhang entweder als

"Gericht"168 oder als "Verwaltungsbehörde"169 qualifiziert. In der jüng­

sten Zeit hat er diese widersprüchliche Rechtsprechung zu verbinden gesucht. Er hat zwar festgehalten, dass die Verwaltungsbeschwerde­

instanz "als Verwaltungsgericht mit der verfassungsmässigen Garantie der Unabhängigkeit eingerichtet"170 ist. Aber "als verwaltungsgericht­

liche Letztinstanz im Verwaltungsverfahren ist die Verwaltungsbe­

schwerdeinstanz den Verwaltungsbehörden zuzurechnen und zählt un­

beschadet der Gerichtsstellung nicht zu den Organen der 'Rechtspflege' im Sinne von Art. 99 bis 103 LV." Dieses Urteil ist mysteriös; es erinnert an die frühere Auseinandersetzung, ob überhaupt eine Verwaltungs­

gerichtsbarkeit zulässig, ja vorstellbar sein könnte. Der Staatsgerichtshof wankt zwischen der Skylla der Verwaltungsbehörde und der Charybdis der Gerichtsbarkeit hin und her171. Immerhin ist das Urteil insofern be­

rechtigt, als die mögliche Ermessenskontrolle durch die Verwaltungs­

beschwerdeinstanz für ein Verwaltungsgericht untypisch ist und an eine Verwaltungsbehörde erinnert. Es besteht insofern gesetzgeberischer Handlungsbedarf, als ein echtes Instanzgericht mit einer Sachverhalts­

und Rechtskontrolle eingerichtet werden sollte.

4. Begründung von Ermessensentscheiden

Es ist richtig, dass jede Rechtsmittelinstanz und die Verwaltungsbe­

schwerdeinstanz eine Begründung für jeden Ermessensentscheid verlan­

gen muss, um die Ermessensbetätigung gegebenenfalls nachprüfen zu

167 Die Literatur hat demzufolge Mühe gehabt, die Verwaltungsbeschwerdeinstanz der Ge­

richtsbarkeit oder der Verwaltung zuzuordnen, vgl. Ritter, S. 53 ff.; Sprenger, S. 367 f.;

Batliner, Verfassungsrecht, S. 85, Anm. 138; Loebenstein, Gutachten, S. 41 f.

168 Vgl. StGH 1996/15, Urteil vom 27.6.1996, LES 1997, S. 89 (92); StGH 1986/7, Urteil vom 5.5.1987, LES 1987, S. 141 (144); StGH 1980/7, Urteil vom 10.11.1980, LES 1982, S. 1 (3); StGH 1996/15, Urteil vom 27.6.1996, LES 1997, S. 137 (140).

•" Vgl. StGH 1984/1, Urteil vom 30.4.1984, LES 1985, S. 35 (37); StGH 1984/1/V, Urteil vom 15.10.1984, LES 1985, S. 37 (38).

170 Vgl. StGH 1993/9, Urteil vom 22.3.1994, LES 1994, S. 68.

171 Vgl. Sprenger, S. 338 f.

können172. Würde sie darauf verzichten, weil sie ohnehin keine Nachprü­

fung vornimmt, so würde sie sich dem Vorwurf der formellen Rechtsver­

weigerung aussetzen. Sie würde eine ihr zustehende Zuständigkeit nicht gebrauchen. Die Verwaltungsbeschwerdeinstanz schliesst sich in der Re­

gel der Ermessensbetätigung der Vorinstanz an, wenn nicht besondere Gründe für eine andere Betätigung sprechen. Bei dieser Rechtslage ist es verständlich, dass die Verwaltungsbeschwerdeinstanz nicht zwischen Ermessen und unbestimmtem Rechtsbegriff unterscheidet173. Denn die Unterscheidung hat im Hinblick auf ihre Uberprüfungskompetenz keine Bedeutung.

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE